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KOMMUNISTISCHE STREITPUNKTE - Zirkularblätter - Nr. 6 - 10.03.2001 - Onlineversion

Ansgar Knolle-Grothusen

Die Streitpunkte-Debatte: Im Hamsterrad babylonischer Sprachverwirrung gefangen?



Das Wort wird zur Vokabel,

Um sinnlos zu verhallen.

Es wird der Turm zu Babel

Im Sturz zu nichts zerfallen.

aus: Johannes R. Becher, Turm von Babel

Von den Monologen zum Dialog

Allgemein wird von den Teilnehmern an unserer Debatte die Erwartung geäußert, daß wir von den Monologen zum Dialog übergehen, daß im Widerstreit der Argumente sich Positionen klären, Übereinstimmungen und Widersprüche deutlicher sichtbar werden, und sich so erweisen kann, ob es uns möglich sein wird, gemeinsame Grundlagen für eine emanzipatorische, gesellschafts­verändernde Praxis zu formulieren - bei andauernden Meinungsverschiedenheiten in Einzelfragen, bei weiterhin unterschiedlichen Akzent- und Schwerpunktsetzungen. Soll diese Debatte nicht die Form von unproduktiven Glaubenskriegen annehmen, ist ernsthafte sachliche Auseinandersetzung mit den vorgebrachten Argumenten erforderlich. Doch dabei stoßen wir auf erhebliche Probleme. Grundlage einer sachlichen Auseinandersetzung ist erst einmal das Verstehen der Argumente des jeweils anderen. Und schon da hapert es. Die ersten argumentativen Schlagabtausche wimmeln geradezu von babylonischen Mißverständnissen.

In der biblischen Geschichte vom Turmbau zu Babel hatten die Leute eine gemeinsame Sprache und wollten einen Turm bis in den Himmel bauen, um - wie es heißt - sich einen Namen zu machen und nicht zerstreut zu werden in alle Länder. Und als 'der Herr' sah, daß ihnen das gelingen würde, ist er herabgefahren und hat ihre Sprache verwirrt. Dieses Bild, durch Daniels „By The Rivers Of Babylon“ auf die Streitpunkte-Debatte übertragen, ist aufschlußreich. So kann man die Streitpunkte-Debatte durchaus mit dem Turmbauprojekt vergleichen, bzw. als Bausteinherstellung für so ein Turmbauprojekt sehen, und auch die Motivation - ein Zeichen setzen, damit wir nicht zerstreut werden - ist durchaus übersetzbar in: den kommunistischen Pol kenntlich und handlungsfähig zu machen. Nur an einem Punkt ist das Bild verkehrt: Der Gott oder die Konterrevolution braucht nicht erst niederzufahren, unsere Sprache zu verwirren und uns in alle Länder zu zerstreuen, sondern Sprachverwirrung und Zerstreuung sind der Ausgangspunkt. Ein Gutteil der Vorarbeiten an unsrem Turm besteht eben darin, eine gemeinsame Sprache zu schaffen und die Zerstreuung zu überwinden. Doch worin besteht unsere Sprachverwirrung? Noch ist das Projekt doch so begrenzt, daß wir mit deutsch als Verkehrssprache auskommen. Nur müssen wir feststellen, daß mit den gleichen Vokabeln sich sehr verschiedene Vorstellungen und Konotationen verbinden. Wer materialistisch an die Sache herangeht, den wird nicht wundern, daß es ebenso viele verschiedene Akzentuierungen im Verständnis ein- und desselben Begriffs gibt, wie unterschiedliche Biographien.

So wird jemand, der durch die Umstände gezwungen ist, sein Leben einer rigorosen Zeitplanung zu unterwerfen, in der Debatte über die Ökonomie der Zeit in einer kommunistischen Produktionsweise sicher andre Akzente setzen, als jemand, der leichter in der Lage ist, bei Bedarf seine Zeitplanung spontan umzuschmeißen.

Doch was ich bei uns an Sprachverwirrung registriere, geht darüber noch hinaus.

Verletzungen und schlechte Erfahrungen, die sich biografisch mit bestimmten Begriffen verknüpft haben, spielen eine Rolle.

Wer hat nicht schon einmal erleben müssen, wie Begriffe instrumentalisiert wurden, von umkämpften Begriffen zu Kampfbegriffen wurden, zu Dogmen erstarrten, dazu herhalten mußten, eine Praxis zu rechtfertigen, die im Nachhinein betrachtet, sich zumindest partiell als untauglich erwiesen hat, emanzipatorisch gesellschaftsverändernd zu wirken? - Ist es verwunderlich, daß dadurch bestimmte Begriffe für manche zu Reizworten geworden sind, die, sowie sie erklingen, unmittelbar das Bild einer als fehlerhaft erkannten Praxis hervorrufen, daß derjenige, der diesen Begriff verwendet, unversehens mit dieser Praxis identifiziert wird, in eine entsprechende Schublade gesteckt wird und überhaupt nicht mehr überprüft wird, ob der Gesprächspartner mit diesem Begriff nicht möglicherweise ganz andere Vorstellungen verbindet?

Jemand, der beispielsweise erlebt hat, zu welch problematischer Praxis eine bestimmte Politik- und Parteikonzeption führen konnte, wird - bei aller Einsicht in die Notwendigkeit organisierten Handelns - Handlungs- und Organisationsvorschlägen, die diesen Erfahrungen keine Rechnung zu tragen scheinen, zumindest skeptisch gegenüberstehen. Wenn dies dann von der anderen Seite mißverstanden wird als grundsätzliche Absage an gemeinsames gesellschaftsveränderndes Handeln, beginnt ein Teufelskreis, in dem ein Mißverständnis das nächste nach sich zieht.

Um uns nicht in derartige Mechanismen zu verstricken, plädiere ich dafür, in der Debatte immer auch die Bedingungen unserer Verständigung zu reflektieren, genau hinzuhören, sorgfältig zu lesen, durchaus auch mit einem Schuß Empathie; und wenn man nicht weiß, wie man etwas auffassen soll, nachzufragen.

Im weiteren werde ich versuchen, einige Punkte in unserer Debatte, an denen ich babylonische Mißverständnisse zu erkennen glaube, zu benennen und zu ihrer Aufklärung beizutragen.

Babylonisches I: Ulrich Weiß

Ich beginne mit der Entwicklung meines eigenen Verständnisses des Textes „Marx und der mögliche Sozialismus1 von Ulrich Weiß, das ich nach der mündlichen Debatte in Kassel erheblich revidieren mußte.

Trotz genauer Durcharbeitung hatte ich zunächst ein sehr ambivalentes Verhältnis zu diesem Text entwickelt.

Einerseits setzt Ulrich Weiß an den Ausgangspunkt seiner Argumentation die Marxschen Thesen ad Feuerbach und macht die Aufhebung der Sondierung der Gesellschaft in zwei Teile, von denen der eine über ihr erhaben ist, zum Kriterium kommunistischer Revolution, an dem gemessen die bisherigen praktischen Versuche sich als noch bürgerliche Projekte erweisen. Damit stößt Ulrich Weiß in der Tat an ein Nervenzentrum unserer Debatte vor, das in andrer Weise bereits von andren thematisiert wurde - vergleiche etwa den Abschnitt IV in Werner Imhofs Antithesen2, Zwi Schrittkopchers Argumentation zur Vorstellung der Partei als Repräsentation des Proletariats, bzw. des Staats als Repräsentation der Gesellschaft in „Wider den erschlichenen 'Kommunismus'“3, meinen Beitrag „Die historischen Beschränktheiten des Kommunismus erkennen und überwinden“4, oder auch den in diesem Heft dokumentierten Vortrag von Ute Osterkamp5.

Andrerseits finden wir in Ulrich Weiß' Aufsatz Wendungen, die bei mir und auch anderen Debattenteilnehmern mit ganz speziellen Konotationen belegt sind und daher leicht von vornherein in bestimmte Schubladen gesteckt werden.

Abschied vom Proletariat?

Am auffallendsten und für mich - wie für andre Leser, wie die Reaktionen von Klaus Herrmann und Daniel Dockerill zeigen - am Abwehr provozierensten ist der Umgang mit den Attributen bürgerlich und proletarisch:

„... Die Erwartung dagegen, das Proletariat sei auch das Subjekt der allgemeinmenschlichen Emanzipation und werde die sozialistische Gesellschaft begründen, ist eine unbestätigte Theorie geblieben. ... Mit dem Aufstieg und Fall des Real-'Sozialismus' sind sowohl die Leistungskraft als auch die historische Begrenztheit der proletarischen Bewegungen deutlich geworden. ... Die tatsächliche geschichtliche Funktion der proletarisch-kommunistischen Bewegung lag bisher nicht im Aufheben des Privateigentums durch Begründung des gesellschaftlichen Eigentums. ... Die nachmarxsche revolutionäre und reformistische Arbeiterbewegung hat innerhalb der bürgerlich-kapitalistischen Entwicklung, also faktisch für und nicht gegen sie eine große zivilisierende Potenz entfaltet. ... Die großen historischen Leistungen des Proletariats waren bürgerliche Projekte. ... Das verstehend muß heute die Frage neu diskutiert werden, ob die Arbeiterbewegung überhaupt das Subjekt eines sozialistisch-kommunistischen Übergangs sein kann. Wenn nicht, welche Subjekte können es dann sein?“6

Diese Argumentationskette kommt uns bekannt vor und wird sogleich unter der Rubrik „Abschied vom Proletariat“ eingeordnet, einer in der Westlinken der letzten 20 Jahre verbreiteten Massenerscheinung. In Auseinandersetzung mit dieser Massenerscheinung haben wir festgestellt, daß diesem „Abschied“ meistens ein völlig verkürzter Proletariatsbegriff und eine das Wesen der Sache nicht erfassende Begründung seines revolutionären Potentials zugrundeliegt.

Zur Veranschaulichung hier ein kurzer Ausschnitt aus meiner Auswertung einer Veranstaltungsreihe in Hamburg zum Thema „150 Jahre Kommunistisches Manifest“:

... Nehmen wir Wolfgang Gehrke. Er sagt: „... der staatlich organisierte Befreiungsversuch der Arbeiterklasse landete wieder beim Kapitalismus. Dieses vorläufige Ergebnis hat auch etwas mit dem Manifest zu tun. Es kam zu früh. ... Marx und Engels gingen im 'Manifest' davon aus, daß sich die 'Klassengegensätze vereinfacht' hätten, in 'zwei große einander gegenüberstehende Klassen: Bourgeoisie und Proletariat'. Innerhalb des Proletariats ... glichen sich die Interessen, die Lebenslagen 'immer mehr aus, indem die Maschinerie mehr und mehr die Unterschiede der Arbeit verwischt und den Lohn fast überall auf ein gleiches niedriges Niveau herabdrückt.' Das sei, so Marx und Engels weiter, die Voraussetzung dafür, daß sich die Arbeiterklasse als 'selbständige Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl' formiere.

Diese Annahmen, die die historische Mission der Arbeiterklasse begründen, haben sich nicht erfüllt, weil sich die Form der kapitalistischen Produktion und Vergesellschaftung völlig gewandelt hat. Neben der großen Spaltung der Arbeiterklasse in Beschäftigte und Nichtbeschäftigte wirken weitere Spaltungen, etwa zwischen denen, die in prekären Arbeitsverhältnissen unterkommen, zwischen hochqualifizierten und nichtqualifizierten, zwischen Männern und Frauen im Erwerbsleben etc. Die Differenziertheit der Interessen und der Lebenslage der abhängig Beschäftigten ist heute größer denn je, national und international. Der Formierungsprozeß zur Klasse, zum politisch einheitlich handelnden Subjekt hat nicht stattgefunden ...“7

Die Richtigkeit der Feststellung im Manifest, daß sich die Klassengegensätze vereinfacht haben und die Gesellschaft sich mehr und mehr in zwei große, einander direkt gegenüberstehende Klassen aufspaltet, wurde auch von vielen anderen Referenten der Veranstaltungsreihe rundweg bestritten. Bei den Haugs z.B. mit Hinweis auf die Abnahme der Arbeitsplätze in der Industrie. Doch wie wird das Proletariat im Kommunistischen Manifest bestimmt? Zum Proletariat gehören alle diejenigen, die nichts zu verkaufen haben, als ihre körperlichen und geistigen Fähigkeiten, ihre Arbeitskraft. Dieses Proletariat hat einen harten Kern, das ist der produktive Arbeiter, womit bei Marx der kapitalproduktive Arbeiter, der seine Arbeitskraft gegen variables Kapital tauscht, gemeint ist - und nicht etwa allein der „Industrie“-arbeiter im verkürzten Sinn, in dem im bürgerlichen Sprachgebrauch von Industrie gesprochen wird.

So verstanden ist das Proletariat heute die mit Abstand zahlenmäßig grösste und weiter wachsende Klasse.

Aber wieso ist sie das revolutionäre Subjekt?

Wolfgang Gehrke legt Marx und Engels in den Mund, das sei so, „weil sich die Interessen und Lebenslagen innerhalb des Proletariats immer mehr ausglichen, indem die Maschinerie mehr und mehr die Unterschiede der Arbeit verwischt und den Lohn fast überall auf ein gleiches niedriges Niveau herabdrückt.“ Andere fügen das Zitat hinzu: „Arbeitermassen, in der Fabrik zusammengedrängt, werden soldatisch organisiert.“ Diese beiden Zitate stehen im Manifest aber in einem völlig anderen Zusammenhang. Hiermit werden nur zusätzliche fördernde Randbedingungen für den Prozeß der Bildung des Proletariats zur Klasse beschrieben, Randbedingungen, die nicht aufgrund allgemeiner Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus entstehen, sondern als Folge der Produktivkraftentwicklung in der ersten industriellen Revolution und die daher heute auch nicht mehr in dieser Form wirksam sind. Den eigentlichen Grund für die Rolle der Arbeiterklasse als revolutionäres Subjekt leiten Marx und Engels aber aus allgemeinen Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus ab: Im Manifest heißt es: „Der Durchschnittspreis der Lohnarbeit ist das Minimum des Arbeitslohnes, d.h. die Summe der Lebensmittel, die notwendig sind, um den Arbeiter als Arbeiter am Leben zu erhalten. Was also der Lohnarbeiter durch seine Tätigkeit sich aneignet, reicht bloß dazu hin, um sein nacktes Leben wieder zu erzeugen.“8 und: „Der moderne Arbeiter dagegen, statt sich mit dem Fortschritt der Industrie zu heben, sinkt immer tiefer unter die Bedingungen seiner eigenen Klasse herab. Der Arbeiter wird zum Pauper, und der Pauperismus entwickelt sich noch schneller als Bevölkerung und Reichtum. Es tritt hiermit offen hervor, daß die Bourgeoisie unfähig ist, noch länger die herrschende Klasse der Gesellschaft zu bleiben und die Lebensbedingungen ihrer Klasse der Gesellschaft als regelndes Gesetz aufzuzwingen. Sie ist unfähig zu herrschen, weil sie unfähig ist, ihrem Sklaven die Existenz selbst innerhalb seiner Sklaverei zu sichern, weil sie gezwungen ist, ihn in eine Lage herabsinken zu lassen, wo sie ihn ernähren muß, statt von ihm ernährt zu werden.“9 Ein Satz, dem von den ganzen modernen Marxologen und Ex-Marxisten aufs entschiedenste widersprochen wird, obwohl doch die heutige Massenarbeitslosigkeit hierfür genügend Illustrationsmaterial liefert.

Weiter im Manifest: „Die wesentliche Bedingung für die Existenz und für die Herrschaft der Bourgeoisklasse ist die Anhäufung des Reichtums in den Händen von Privaten, die Bildung und Vermehrung des Kapitals; die Bedingung des Kapitals ist die Lohnarbeit. Die Lohnarbeit beruht ausschließlich auf der Konkurrenz der Arbeiter unter sich. Der Fortschritt der Industrie, dessen willenloser und widerstandsloser Träger die Bourgeoisie ist, setzt an die Stelle der Isolierung der Arbeiter durch die Konkurrenz ihre revolutionäre Vereinigung durch die Assoziation. Mit der Entwicklung der großen Industrie wird also unter den Füßen der Bourgeoisie die Grundlage selbst hinweggezogen worauf sie produziert und die Produkte sich aneignet.“10 Was hier deutlich wird ist zum einen: Im Kampf gegen die Bourgeoisie ist das Proletariat unbesiegbar, weil es ohne produktive Arbeiter keinen Kapitalismus gibt. Und zum anderen, dies richtig deutlich erst zwanzig Jahre später im Kapital herausgearbeitet: „Die Vereinigung der Arbeiter durch die Assoziation“ beruht auf einem dem ökonomischen Grundgesetz des Kapitalismus, der Produktion des Mehrwerts, innewohnenden Widerspruch, der rein ökonomisch nicht lösbar ist: Die Größe des Mehrwerts und die Ausbeutungsrate hängt ab von der Länge des Arbeitstages und seiner Aufteilung in notwendige Arbeitszeit und Mehrarbeitszeit. Diese Faktoren werden aber im Rahmen der durch Natur und Produktivkraftentwicklung gesetzten Grenzen rein außerökonomisch, allein durch den Klassenkampf bestimmt. Insofern ist die Organisation der Arbeiterklasse zunächst eine innere Notwendigkeit für den Kapitalismus, ohne sie hätte sich tatsächlich bereits zu Marxens Zeiten der Arbeiter zum Pauper entwickelt, hätte die Bourgeoisie mit dem Proletariat ihre eigenen Existenzbedingungen zerstört.

Nun geht es bei Ulrich Weiß jedoch um anderes - was mir jedoch erst in der mündlichen Debatte klar wurde. Ulrich Weiß geht es nicht darum, ein neues „revolutionäres Subjekt“ zu erfinden, sondern darum, die Bedingungen zu benennen, unter denen die Arbeiterklasse fähig wird, die kommunistische Revolution zu vollziehen11: Sie muß sich selbst als Klasse von Lohnarbeitern aufheben. Erst wenn die Arbeiterklasse sich organisiert, nicht mehr nur zum Kampf um die Bedingungen des Verkaufs der Ware Arbeitskraft, sondern um die Aufhebung der Lohnarbeit, wenn sie selbst es übernimmt, die gesellschaftliche Reproduktion zu organisieren als unmittelbar gesellschaftliche Arbeit, wird sie erfolgreich sein können. Dieser Gedanke erscheint bei Ulrich Weiß in der Form der Selbstaufhebung des Proletariats (bei ihm = Arbeiterklasse), das durch das Kapitalverhältnis als Klasse der Lohnarbeitenden bestimmt und beschränkt ist. Derselbe Gedanke wird in unserem bisherigen Diskurs als Bildung des Proletariats zur „Klasse-für-sich“ beschrieben und hat zu einer begrifflichen Unterscheidung zwischen Arbeiterklasse und Proletariat geführt. Zwi Schrittkopcher bringt das auf die Formel: „Das Proletariat ist revolutionär, oder es ist nicht.“

Werner Imhof schreibt in einer Anmerkung zu seinen „Antithesen“:

Ich spreche bewußt von lohnarbeitenden Klassen im Plural, weil die gemeinsame Stellung als LohnarbeiterInnen oder Lohnabhängige noch kein gemeinsames Klasseninteresse konstituieren kann. Solange sich die Lohnabhängigen nur als Lohnabhängige begreifen, bleiben sie Gefangene der Lohnarbeit und damit auch der Funktion und der Einkommensquelle, die ihnen die herrschende Struktur der gesellschaftlichen Arbeit im Dienste des Kapitals zuweist - als LohnarbeiterInnen des industriellen, des kommerziellen oder des Geldkapitals, der öffentlichen Dienste oder der privaten Haushalte. Zu einer Klasse mit gemeinsamen Interessen können sie nur werden durch ihren positiven Bezug auf den materiellen Reproduktionsprozeß der Gesellschaft in seiner Gesamtheit, d.h. indem sie ihn ihrer gemeinsamen Herrschaft unterwerfen und an ihm teilnehmen wollen.12

Und Daniel Dockerill in „Im Westen nichts Neues?“ (ähnliche Formulierung auch in den Thesen und der übergänge-Plattform):

Abschaffung der kapitalistischen Lohnarbeit selbst, die Befreiung der gesellschaftlichen Arbeit von dem Zwang, sich als ihr Gegenteil, als die fortwährend wachsende Macht über die Arbeit in der Hand privater, gegen deren gesellschaftlichen Charakter daher ganz gleichgültiger Nichtarbeiter zu verwerten. Also die Aufhebung dieser Macht in der vollendeten Selbstorganisation der Arbeit auf der Höhe ihres jetzigen Vergesellschaftungsgrades. Niemand braucht da mehr irgend etwas auszutüfteln, denn alle nötigen sachlichen Mittel, alle technischen und organisatorischen Kenntnisse und Fähigkeiten, alle entsprechende Erfahrung liegen längst massenhaft vor und werden von den unter dem Diktat der Kapitalverwertung kooperierenden Individuen alltäglich neu gewonnen und vermehrt; diese müssen daher "nur" jenes Diktat abschütteln, müssen das private Korsett aufsprengen das ihre gesellschaftliche Kooperation einschnürt und verunstaltet, damit ihre Selbstorganisation Wirklichkeit werde.“13

Ansätze zu einer solchen - über den bloßen Kampf um die Bedingungen des Verkaufs der Ware Arbeitskraft hinausgehenden, auf die Organisation der gesellschaftlichen Reproduktion entlang den Bedürfnissen der Menschen gerichtete - Praxis glauben Werner Imhof und Ulrich Weiß in manchen Zügen der Arbeit der französischen SUD-Gewerkschaften entdecken zu können. Wir hoffen, hierüber einen Bericht für die nächsten Streitpunkte zu erhalten.

Wir sind tatsächlich in Babylon angelangt.

Was bei Ulrich Weiß als Aufhebung des Proletariats daherkommt, finden wir bei Zwi als Bildung des Proletariats.

Modeworte

Es gibt weitere Punkte, die bei manchem Leser schon bei der ersten Annäherung an den Text Ablehnung und Mißtrauen hervorrufen. Das ist die Verwendung bestimmter Modeworte wie „die Subalternen“ oder der „Fordismus-Taylorismus“, die wir bewußt nicht anwenden, weil sie Sachverhalte eher verschleiern, als sie adäquat zu beschreiben. Klaus Hermann hat dazu in seinen „Anmerkungen zur Debatte“ - wie ich finde sehr treffend geschrieben:

„Sozialstaat und Klassenkompromiß sind ideologische Begriffe, die sich selbst einer bestimmten, affirmativen Interpretation des Kapitalismus danken. Ähnliches gilt für andere verbale Emanationen des Zeitgeistes: Akkumulationszyklus und Regulation, Fordismus, Modell und Projekt. Es ist ein Irrtum zu glauben, daß man sich solcher Begriffe aus dem Zeitsprech, gewissermaßen als Abkürzungen zum Zweck schnellerer kommunikativer Verständigung, unbeschadet bedienen kann. Wozu sich solche Sprachfloskeln eignen, ist, über Untiefen hinwegzugleiten, Probleme unterzupflügen, argumentative Risse und Brüche zu verkleben.“14

Entstaatlichung und Emanzipation

Ein zweiter Punkt, wo Ulrich Weiß scheinbar nicht verstanden wird, ist, wenn er die Privatisierung bisher staatlicher Funktionen - was 'Marx eine propagandistische (zivilisierende) Tendenz' des Kapitals nenne - als Indizien für jetzt erst herangereifte Möglichkeiten des Übergangs zum Kommunismus sieht:

In dieser Sicht sind die Entstaatlichungen Indizien dafür, daß emanzipatorische soziale Bewegungen nunmehr die kapitalistische Form der Produktion tatsächlich nachhaltig aufheben können. Wieso? Weil sie nicht wieder notwendig in antiemanzipatorische Entfremdung, in bürgerliche Herrschaftsstrukturen, in die Errichtung neuer Staatlichkeit wie die der sogenannten Diktatur des Proletariats zurückfallen müssen. Warum existiert dieser Zwang nicht mehr, der unter anderem dem Osten die sozialistische Perspektive verstellte? Wenn die zivilisationssichernden allgemeinen Aufgaben tatsächlich dem (bürgerlichen) Staat entrissen und von Einzelkapitalen selbst erfüllt werden oder werden können (was auf kapitalistisch die Verrottung der nicht zahlungsfähigen Träger entsprechender Nachfrage z. B. nach Bildung und Medizin einschließt), dann existieren erstmalig in der Geschichte auch die materiellen Voraussetzungen dafür, daß assoziierte Individuen bisherige Staatsaufgaben direkt unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen können. Dann wird für die Bewahrung von Gesellschaftlichkeit der Staat, der Ausdruck der bisherigen Spaltung der Gesellschaft in antagonistische Teile, überhaupt funktionslos. Der Staat, die „übernatürliche Fehlgeburt der Gesellschaft“, einst in den Klassengesellschaften eine Bedingung zivilisatorischen Fortschritts, wird aufhebbar. Dann und erst dann ist die Aufhebung der sich im Kapital wie im Staat ausdrückenden Entfremdung, die Überwindung der knechtenden Arbeitsteilung und des (kapitalistischen) Privateigentums, dann ist also Sozialismus-Kommunismus möglich. Das ist dann aber auch dringend geboten.15

Wenn Klaus Herrmann zu dieser Argumentation schreibt: „

Marx zum Advokaten oder Apologeten der Verhökerung öffentlichen Eigentums zu machen - ein „dicker Hund“,

dann kritisiert er etwas, was Ulrich Weiß nie gesagt hat. Die Kritik müßte vielmehr an folgender Frage ansetzen: War es denn je so, daß „zivilisationssichernde allgemeine Aufgaben“ ausschließlich „vom Staat“ wahrgenommen wurden? War es nicht vielmehr so, daß die bürgerlichen Staaten zeitweise eine Reihe von Aufgaben übernommen haben, die für die Aufrechterhaltung der Verwertungsbedingungen des Kapitals notwendig waren, die jedoch zum Zeitpunkt ihrer Übernahme durch den Staat noch nicht kapitalproduktiv organisiert werden konnten? Wieso zeigt die Übernahme derartiger Funktionen durch Einzelkapitale an, daß sie auch von den assoziierten Individuen übernommen werden können? Gerade das Verständnis dafür, wie Beziehungen, die heute über das Wertgesetz vermittelt sind, unmittelbar gesellschaftlich gestaltet werden können, ist doch viel unentwickelter, als die Ahnung davon, wie ein heute staatliches Gesundheitswesen sich durch die Assoziation der Gesellschaftsmitglieder organisieren ließe.

Proletariat und Bürgerbewegungen

Wenn Ulrich Weiß die Frage stellt:

... Sind in diesem Sinne die antiautoritären Bewegungen von 1967/68, die nachfolgenden klassenungebundenen sogenannten neuen sozialen Bewegungen sowie die Bürgerbewegungen der DDR mit ihren Runden Tischen (vor ihrer deutsch-nationalen Zersetzung) die Vorboten einer in den realen Auseinandersetzungen unserer Zeit anstehenden Entdeckung?16

und Daniel Dockerill an mich gewandt hierzu bemerkt:

Wenn wir einmal davon absehen, daß Deine (d.h. unsere) revolutionäre Praxis mit dem, was dem Herrn Weiß vorschwebt, ganz sicher gar nichts zu tun hat: Der neue, erstmals „mögliche Sozialismus“ als Fortsetzung der „Bürgerbewegung der DDR mit ihren Runden Tischen (vor ihrer deutsch-nationalen Zersetzung)“ (die doch nur das coming out der rebellierenden „klassenungebundenen“ Bürger der DDR war), also die „Revolution“ als Fortsetzung der östlichen Konterrevolution gegen „auch die jetzt global herrschenden westlichen Machtstrukturen“, ist - wie ich doch hoffe - so ziemlich das Gegenteil jenes „revolutionären Programms“, auf dessen nähere Bestimmung die Debatte in den Streitpunkten einmal abgezielt hat.17

so haben wir einen weiteren Fall babylonischen Falschverstehens oder falsch-verstehen-wollens. Unabhängig davon, wie man die runden Tische (vor ihrer deutsch-nationalen Zersetzung) bewertet, was Uli Weiß angeblich vorschwebt, hat Daniel sich aus seinen eignen Fingern und nicht aus Ulis Text gesogen. Wenn das falsch Verstehen - wie in diesem Fall bei Daniel - so weit geht, daß Freund und Feind verwechselt werden (Der Herr Weiß, dem die Fortsetzung der östlichen Konterrevolution vorschwebt), dann sind wir allerdings ohne gemeinsame Sprache zerstreut in alle Winde.

Eine Debatte hat zur ersten Voraussetzung, daß man sich bemüht zu verstehen, was der jeweils andre ausdrücken will. Nur auf dieser Grundlage und nicht auf Grundlage von Unterstellungen und Projektionen läßt sich der inhaltliche Streit argumentativ führen. Wenn dann in der inhaltlichen Debatte bleibende Differenzen auftreten, hat man eine sachliche Grundlage um die Tragfähigkeit der Gemeinsamkeiten zu bestimmen und gegebenenfalls notwendige Abgrenzungen durchzuführen, aber erst dann.

Neue Übergangsformen zum Kommunismus?

Wo ich tatsächlich inhaltliche Differenzen sehe, ist die Frage, wie denn die Bildung des Proletariats zur Klasse, oder die Selbstaufhebung der Arbeiterklasse, wie immer man will, sich vollziehen kann. Wenn ich Ulrich Weiß und einige weitere Debattenteilnehmer richtig verstanden habe, halten sie die traditionelle Konzeption der proletarischen Revolution - erst politische, dann soziale Revolution - nicht mehr für tragfähig und vermuten, daß der Übergang zu kommunistischer Produktionsweise heute als paralleles Aufheben aller Formen der Herrschaft von Menschen über Menschen sich vollziehen kann. Grundlage dafür seien die inzwischen gegebenen materiellen Voraussetzungen für die Aufhebung der reellen Subsumtion unter das Kapital, die sich innerhalb des Kapitalismus entwickeln würden. Dieser Gedanke, den Ulrich Weiß in „Marx und der mögliche Sozialismus“ erst vorsichtig andeutet, wird von ihm weiter ausgeführt in seinen Notizen zu Robert Kurz' Schwarzbuch des Kapitalismus, entstanden im November 2000 unter dem Titel „Kapitalismus - Sintflut ohne Arche?“. Dort heißt es u.a.:

Das zwischenzeitlich angenommene und im Sinne eines (bürgerlich-)widersprüchlichen Fortschritts einst auch sinnvolle Nacheinander von Erobern der politischen Macht und der nachfolgenden Umwälzung der materiellen Basis mittels staatlicher (diktatorischer oder auch bürgerlich-demokratischer) Machtmittel ist heute gegenstandslos geworden. ... Heute geht es um einen untrennbaren Prozess menschlicher Emanzipation, um das parallele Aufheben aller Formen von Herrschaft von Menschen über Menschen, der staatlichen ebenso wie der zwischen den Geschlechtern. Die Herrschaft der Gesellschaft über die Produktion, statt deren Unterwerfung unter diese in Form des (Staats-)Kapitals, ist endlich zur erfüllbaren Aufgabe geworden. Die entscheidende materielle Grundlage hierfür, die Möglichkeit des tatsächlichen Heraustretens der unmittelbaren Produzenten aus knechtender Arbeitsteilung, ihre reale Chance, sich zu Dirigenten und Kontrolleuren des Fertigungsprozesses zu erheben, ist in noch falscher kapitalistischer Form im Entstehen. Was zu suchen und zu erkämpfen ist, das sind die Formen des unmittelbaren Ringens um die Verfügung assoziierter Individuen über die Produktionsmittel, das sind die sozialen Räume, in der sich die hierfür erforderlichen Fähigkeiten und Mentalitäten entwickeln.18

Wenn das stimmen würde, wenn sich tatsächlich eine materielle Basis kommunistischer Produktionsweise innerhalb der vom Kapital beherrschten Gesellschaft entwickeln ließe, ähnlich wie sich die ökonomische Basis der Bourgeoisie innerhalb der feudalen Gesellschaft entwickelt hat, wären unsere Aufgaben plötzlich um ein vielfaches einfacher. Allein die Vernetzung von Nischenproduktionen und „sozialen Räumen“ jenseits des Kapitalverhältnisses sind Schwalben, die noch keinen Sommer machen, sondern mit schrecklicher Regelmäßigkeit erfrieren oder sich dem Winter anpassen. Wahrscheinlich können solche „Freiräume“ von Bedeutung sein, um Kooperationsformen und Fähigkeiten zu entwickeln, die für eine kommunistische Organisation des gesellschaftlichen Zusammenlebens von Bedeutung sind. Doch ich befürchte, die Unverträglichkeit des kapitalistischen Privateigentums mit den auf seiner Grundlage hervorgebrachten Produktivkräften, die Wolf Göhring am Beispiel der neuen Informations- und Kommunikations­technologien plastisch herausarbeitet19, führt in erster Linie nicht unmittelbar zu neuen Vergesell­schaftungsformen, sondern hat seine wesentliche Wirkung darin, daß der Anachronismus der kapitalistischen Produktionsweise, der Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und Privateigentum, immer offensichtlicher wird. Der Hauptgrund meiner Skepsis gegenüber Vorstellungen, die von einem organischen Zusammenwachsen der Kapitalverwertung entzogener sozialer Räume, von ihrer Ausweitung und einem Hinüberwachsen in eine kommunistische Produktionsweise ausgehen, ist folgender: Kommunistische Produktionsweise bedeutet Reproduktion der gesellschaftlichen Lebensgrundlagen auf der Basis des unter der Herrschaft des Kapitals hergestellten weltweiten Produktionszusammenhangs, ohne die naturwüchsige Vermittlung dieses Zusammenhangs durch die Warenform der Produkte, sondern vermittelt durch die bewußte und geplante Kooperation der assoziierten Mitglieder der menschlichen Gesellschaft. Dieses Moment der Planung, des bewußten Schrittes, muß auch schon für den Übergang charakteristisch sein. Der Übergang zur kommunistischen Produktionsweise kann sich im Gegensatz zu allen vorausgegangenen Revolutionen nicht naturwüchsig vollziehen, sondern ist nur als bewußter Akt der handelnden Menschen möglich.

Wenn Ulrich Weiß über die von ihm entdeckten „Keimformen alternativer Reproduktion“ schreibt:

Sie können aber auch Ausgangspunkte für die Eroberung eines Stücks Unabhängigkeit von der „abstrakten Arbeit“ und einer die gesamte Reproduktion erfassenden Aufhebungsbewegung sein ...20,

dann gerät er auf ein falsches Gleis, weil er die verdrehte Kurzsche Vorstellung von „abstrakter Arbeit“ begriffslos übernimmt. Gerade darin, daß die kapitalistische Produktionsweise der „abstrakten Arbeit“ - d.h. der Arbeit als gleicher menschlicher Arbeit - Wirklichkeit verleiht, daß die konkreten Arbeiten, sei's des Campesinos in Nicaragua, sei's des Software-Entwicklers in Hamburg, nur noch als verschiedene Formen der Verausgabung der einen, gleichen menschlichen Arbeitskraft gelten, gerade darin ist das progressive Moment des Kapitalismus auf den Punkt gebracht, gerade das ist sein historisches Verdienst, nur auf dieser Grundlage wird eine kommunistische Produktionsweise möglich. Das Kapitalverhältnis emanzipiert die Individuen von ihrer Gebundenheit an bestimmte konkrete Tätigkeiten und deren sachliche Voraussetzungen. Es schafft mit der allseitigen Herausbildung der gesellschaftlichen Teilung der Arbeit die Voraussetzungen für die Aufhebung der knechtenden Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit.

Die Losung „Unabhängigkeit von der abstrakten Arbeit“ deutet einen Weg zurück vom weltweiten Zusammenhang der Menschen an in eine Subsistenzwirtschaft kleiner Assoziationen. Die eigentliche Aufgabe besteht aber gerade darin - auf Basis des im Kapitalismus erreichten Vergesellschaftungsgrades der Produktion - die in der Kategorie der gleichen menschlichen Arbeit zum Ausdruck kommende Vergesellschaftung, die eben nur nicht offen zutage tritt, sondern versteckt als eigentliche Substanz dem Warenwert zugrunde liegt, daher auch nicht Gegenstand bewußten Handelns ist, sondern ihre Wirklichkeit erhält durch die Austauschverhältnisse der Waren auf dem Markt, von dieser verkehrten und verkehrenden Form der Vermittlung zu befreien, als unmittelbar gesellschaftliche Arbeit gemeinschaftlich zu planen und durchzuführen.

Babylonisches II: Werner Imhof und die „übergänge“

In „Das Ferne liegt so nah ...21 unterstellt Werner Imhof den „übergängern“

Anbetung „des Kommunismus“ als Mythos und Fetisch

und belegt das damit, daß KHL in den Kommunistischen Streitpunkten Nr.3, S. 20f

die „grausam gründliche Selbstkritik des kommunismus“ beschwört.

Tatsächlich schreibt KHL:

Die grausam gründliche Selbstkritik des Kommunismus ist Voraussetzung seiner substanziellen strategischen Neupositionierung.22

Da wird überhaupt nichts beschworen, schon gar nicht ein mythisches Ersatzsubjekt namens „der Kommunismus“. Aus dem Zusammenhang ist unschwer zu entnehmen, daß die „grausam gründliche Selbstkritik des Kommunismus“, die KHL als notwendig erachtet, sich hier pars pro toto auf die Debatte der Kommunistischen Streitpunkte bezieht, und „der Kommunismus“ recht konkret verstanden wird als „wirkliche (d.h. wirkende) Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt“, als „weltgeschichtliche Aktion des Proletariats“23, von der KHL auf der Plusseite mit Bezug auf die Streitpunkte-Debatte vermerkt,

daß sich unterschiedliche bis gegensätzliche historisch herausgebildete Strömungen des Kommunismus beginnen aneinander theoretisch abzureiben.24

- Babylon!

Werner Imhof: Für die 'übergänger' stehe fest,

daß sie 'das Programm der Kommunisten' (Matthias Grewe) auf die Beine stellen müssen.“25

Das stimmt einfach nicht, weder das nicht ausgewiesene Zitat, noch die Aussage, die daraus geschustert wird. Im Gegenteil, im ersten Satz seines Beitrags in den Kommunistischen Streitpunkten 3 verwahrt sich KHL geradezu namens der übergänge gegen derartige Unterstellungen.26 - Babylon!

Kommunistische Regelung der Gesamtarbeit

Weiter unterstellt Werner Imhof in „Das Ferne liegt so nah ...“27 und in „Zur möglichen Praxis kommunistischer Produktion“28 Karl-Heinz Landwehr und Daniel Dockerill die

Vorstellung einer Vorausplanung der gesellschaftlichen Gesamtarbeit mit Hilfe einer "kommunistischen Arbeitszeitrechnung", die mit "gesellschaftlich notwendigen" (d.h. durchschnittlichen) Arbeitsmengen für die Herstellung der verschiedenen Gebrauchswerte operiert und aus einem (wie immer auch) "bestimmten Konsumtionsbedarf" den Umfang der Gesamtarbeit und ihre "Verteilung auf die einzelnen Wirtschaftszweige" ermittelt.

Diese Vorstellung laufe hinaus

auf die Installation einer monströsen, über der Gesellschaft thronenden, "allwissenden" und "allmächtigen" Planungsinstanz.

Auch hier haben wir es meines Erachtens mit einem babylonischen Fehlverständnis zu tun, allerdings ist die Ursache dieses Fehlverständnisses etwas schwieriger herauszufinden. Zur Genese dieses Fehlverständnisses müssen wir auf einen älteren Briefwechsel zwischen Werner Imhof und Daniel Dockerill zurückgreifen. Daniel hat in seinen „Vorbemerkungen zu 'By The Rivers Of Babylon'“29 angeregt, diesen Briefwechsel in der nächsten Ausgabe der Kommunistischen Streitpunkte zu veröffentlichen. Ich möchte diesen Vorschlag - Werners Einverständnis vorausgesetzt - aufgreifen und unterstützen, denn in diesem Briefwechsel wird - weitgehend frei von rhetorischen Tricks und Verdrehungen, die den andern nur ins Unrecht setzen wollen - auf einem Niveau über das Thema kommunistischer Regelung der Gesamtarbeit gestritten, daß wir in der nachfolgenden Debatte leider noch nicht wieder erreicht haben. Gerade dieser Briefwechsel hatte mich seinerzeit dazu ermutigt, mit aller Kraft auf die Debatte der „Streitpunkte“ zu setzen. Insofern kann hier nur angerissen werden, was nach Veröffentlichung dieses Briefwechsels ausführlicher zu bewerten wäre.

Daniel betont die der gemeinschaftlichen Produktion vorausgehende gemeinschaftliche Planung.

Werner wittert die staatlichen Plankommissionen des vergangenen Anlaufs und führt ins Feld, Planung sei immer Teil der gesellschaftlichen Arbeit und setzt der geplanten Arbeit - die für ihn fremden Orts geplante ist - die planvolle Arbeit entgegen. Zwei Hauptmotive sehe ich bei Werner für diese andere Akzentsetzung:

1. Ist es ihm wichtig, in die Darstellungung der Entwicklung des Verhältnisses von Planung und Ausführung der gesellschaftlichen Arbeit die Aufhebung der Arbeitsteilung in Planende und Ausführende einzubringen, die zweifellos ein entscheidendes Moment der Aufhebung knechtender Arbeitsteilung ist;

2. sieht er die gesellschaftliche Arbeit als kontinuierlichen Prozeß, wodurch sich ihm die zeitliche Vorgängigkeit der Planung vor der Ausführung in eine Gleichzeitigkeit von Planung und Ausführung verwandelt.

In meinen Augen werden hier nur unterschiedliche Akzentsetzungen verabsolutiert. Keiner von beiden bestreitet, daß die Planung bestimmter Arbeitsschritte ihrer Ausführung vorausgehen muß, ebenso wie keiner von beiden behauptet, daß die gesellschaftliche Gesamtarbeit erst gemeinsam durchgeplant werden müsse, bevor mit ihrer Ausführung begonnen werden könne.

Wenn Werner Imhof dem Dockerillschen Plan die

Erfahrung des Gesamtarbeiters aus dem realen gesellschaftlichen Zusammenhang seiner Teilarbeiten

in vergangener Produktion entgegenstellt und Daniel Dockerill sagt:

Den bestimmten, selbstbewußten Ausdruck dieses „Erfahrungszusammenhangs“ nenne ich den der gemeinsamen Arbeit zugrundeliegenden Plan,

- worauf reduzieren sich hier dann die Unterschiede? - Unterschiedliche Auffassungen zwischen Werner und Daniel gibt es noch genug, - aber nicht an der Stelle an der Werner sie hier verortet - Babylon.

Weiter. Welchen Ausdruck bekommt dieser gemeinsame Erfahrungszusammenhang? - Beide gehen aus vom Marxschen „board, was für die gemeinsam arbeitende Gesellschaft Buch und Rechnung führt“, doch während Daniel allgemein folgert, der kommunistische Gesamtarbeiter müsse sich eine Instanz schaffen, wo dieses board geführt wird, neben entsprechenden Einrichtungen auf lokaler, regionaler etc. Ebene auch eine zentrale Instanz, meint Werner Imhof, diese Instanz schon gefunden zu haben in der „Öffentlichkeit im weitesten Sinne“.

Hier gehen allerdings zwei unterschiedliche Vorstellungen von „Planung“ durcheinander. Während Daniel sein Hauptaugenmerk auf die Erhebung der Planungsvoraussetzungen richtet, zielt Werner auf die Planung selbst, nämlich auf die Festlegung, was sich in der künftigen Produktion im Verhältnis zur vorangegangenen verändern soll.

Da jedes einzelne Individuum in der Regel nur für die in seinem unmittelbaren Gesichtskreis vonstatten gehenden Teilarbeiten weiß, wieviel Arbeitszeit die Herstellung bestimmter Gebrauchsgegenstände erfordert, benötigt die „Öffentlichkeit im weitesten Sinne“, um den Diskurs sinnvoll führen zu können darüber, wieviel Arbeit künftig geleistet werden muß, und welche Anteile dieser Gesamtarbeit auf welche konkreten Tätigkeiten entfallen müssen, eine zusammenfassende Kenntnis davon, wieviel Arbeitszeit sie für welche gesellschaftlichen Teilarbeiten aufwendet, wie die Abhängigkeiten dieser Teilarbeiten voneinander sind, und wie sich die Bedürfnisse der gesellschaftlichen Individuen ändern, speziell, welche Bedürfnisse durch vorangegangene Produktion noch nicht befriedigt werden konnten. Die natürlichen Experten dafür sind die jeweiligen Teilarbeiter, die die entsprechenden Teilkenntnisse haben. Die Notwendigkeit der Zusammenfassung dieser Teilkenntnisse auf besagtem „board“ bestreitet -falls ich ihn nicht babylonisch falsch verstanden habe - auch Werner nicht. Streitpunkt bleibt: Wer führt dieses board, wo und wie wird es geführt? Das ist meines Erachtens eine rein technische Frage - in ihrer konkreten Beantwortung abhängig von der Entwicklung der Produktivkraft der Arbeit und kein Thema für einen Grundsatzstreit - wobei aber deutlich bleiben muß, daß dieses board die Voraussetzungen für Abmachungen darüber liefert, wer wo wieviel von was produziert, aber keineswegs diese Absprachen selbst ersetzt.

Weiter. Werner polemisiert gegen die

„kommunistische Arbeitszeitrechnung“, die mit „gesellschaftlichnotwendiger“ (d.h. durchschnittlicher) Arbeitszeit

operiere. Doch er operiert selbst damit:

Der Gesamtarbeiter weiß, wieviel Teile seines Arbeitstages ... auf die unmittelbare Produktion von Mitteln des individuellen Konsums entfallen ...

- wenn er das weiß, muß er sie wohl zusammengezählt und auf seinem board unter der Rubrik „Für Mittel das individuellen Konsums“ verzeichnet haben. Auch die Durchschnittsbildung betreibt er selbst:

Jedes einzelne Produkt verkörpert also einen bekannten Bruchteil der Gesamtarbeit ungeachtet (!) möglicher Produktivitätsunterschiede in den einzelnen Produktionsstätten.

Woher also die Polemik gegen das operieren mit Arbeitszeit? Mir scheint, er versteht Daniels „vorherbestimmte Durchschnittsgrößen“ babylonisch falsch. Während es sich bei Daniel um aus vergangener Arbeit ermittelte Erfahrungswerte handelt, wittert Werner von irgendwelcher Bürokratie fremdbestimmte Arbeitszeitdeputate. - Noch eins: In seinem Brief an KHL 30 nimmt Werner einen Text von KHL auseinander, als würde es sich dabei um einen detaillierten Maßnahmenkatalog zur Organisation des gesellschaftlichen Produktionsprozesses durch die Assoziation der Produzenten handeln. Wenn es sich darum handeln würde, wäre sicher einiges an seiner Kritik berechtigt. Ich verstehe KHLs Anliegen jedoch anders: Als gedankliche Annäherung an Formen gesellschaftlicher Reproduktion jenseits von Ware, Wert, Kapital und Lohnarbeit. Gedankliche Annäherung bedeutet Abstraktion, Zergliederung von dynamischen Prozessen in ihre einzelnen Momente, die erst mal für sich, d.h. statisch betrachtet werden. Ich breche hier ab, denn sonst komme ich vom Aufzeigen von Punkten, wo aneinander vorbeigeredet wird, in die inhaltliche Kritik der geäußerten Auffassungen, die jedoch besser in der kommenden Ausgabe zu führen ist, wenn die Texte, auf die ich mich beziehe, den Lesern auch zugänglich sind.

Babylonisches III: Die „übergänge“ und Werner Imhof

Nochmal: Kommunistische Regelung der Gesamtarbeit

Babylonisches Unverständnis auch auf der anderen Seite. Daniel:

Worauf Werners Unwille gegen die Ökonomie der Zeit hinausläuft, läßt schließlich seine wiederholte Verlautbarung erkennen, Gegenstand gesellschaftlicher Planung könnten „nur … notwendige Änderungen“ (KS 5, S.74) der Gesamtarbeit sein, nicht aber diese „überhaupt“ (ebd. S. 75) oder „als solche“ („Materialien …, a.a.O.). Was an sich schon sein früherer Einwand erahnen ließ, daß die Gesamtarbeit genossenschaftlich nicht geplant werden könne, weil dazu das nötige Subjekt außerhalb der zu planenden Gesamtarbeit fehle, wird allmählich zur deprimierenden Gewißheit: In Werners eurokommunistischer Genossenschaft bleibt die Menschheit (die zivilisiert europäische; der armselige Rest sowieso) auf ewig zu Arbeit und nichts als Arbeit verdammt, unter welcher Perspektive das Zitat (KS 5, S.77) der Marxschen Rede von der Arbeit, die dereinst „selbst das erste Lebensbedürfnis geworden“ sein werde, unversehens einen eigenartig pastoralen Sinn erhält. Daß Marx im selben Kontext u.a. vom Verschwinden der „knechtende[n] Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit“ spricht, ... hat Werner jedenfalls geflissentlich ignoriert. Seine Genossenschaft ist verurteilt, für immer „nur eine Gemeinschaft der Arbeit“ (MEW 40, S. 535) zu bleiben.31

Über die billige Schubladenpolemik (z.B. eurokommunistisch) sehe ich mal hinweg, obwohl hier babylonische Sprachverwirrung geradezu gezüchtet wird und gehe gleich in medias res.

Erstens: Wenn Werner die Planung auf Änderungen der Gesamtarbeit bezieht, während Daniel sie auf die Gesamtarbeit selbst bezieht, dann sehe ich darin überhaupt keinen inhaltlichen Gegensatz. Die Gesamtarbeit als Ausdruck des gesellschaftlich und bewußt organisierten Stoffwechselprozesses zwischen Mensch und Natur ist Ausdruck vorangegangener Planung. Wo in der kommenden Arbeit gegenüber der vorangegangenen keine Veränderung für nötig erachtet wird, bedarf es auch keiner veränderten Planung. Insofern wird sich jede konkrete Planung unter dem Blickwinkel der „Ökonomie der Zeit auch in der Planung“ in der Praxis immer auf Veränderung vorangegangener Planung reduzieren.

Zweitens: Werner das Ignorieren der Aufhebung der knechtenden Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit vorzuwerfen, stellt die Dinge auf den Kopf. Gerade in Werners Anregungen zur genossenschaftlichen Regelung der Gesamtarbeit sehe ich dieses Moment stärker betont (s.o.), als in den bisherigen Anregungen der Übergänger, bei denen dieses Moment noch auf der Ebene einer allgemeinen Zielvorstellung bleibt.

Ökonomie der Zeit oder Ökonomie der Zeit und der Ressourcen?

Sich auf ein Marxzitat berufend betonen die Übergänger, beim Übergang zu einer kommunistischen Produktionsweise würde sich alle Ökonomie auflösen in Ökonomie der Zeit. Werner Imhof wendet dagegen ein, die Funktion der Allokation der Ressourcen, die im Kapitalismus eine Funktion des Wertgesetzes ist, könne von einer reinen Ökonomie der Zeit nicht übernommen werden. Ich möchte versuchen, an dieser Frage herauszuarbeiten, was hier Mißverständnis ist und wo unterschiedliche Auffassungen vorliegen. Daniel schreibt:

Daß Werner nun also einmal mehr seine „Natur“ ins Spiel bringt, verweist aber auf ein offenbar ziemlich grundsätzliches Mißverständnis der Marxschen Rede von der „Ökonomie der Zeit“, in die „sich schließlich alle Ökonomie“ auflöse ..., das eine ergänzende Bemerkung angebracht erscheinen läßt. ... Daß an allem konkreten, gegenständlichen Reichtum immer Natur, unabhängig von jeglicher menschlichen Arbeit, beteiligt ist, darauf hat bekanntlich Marx selbst ... als erster programmatisch aufmerksam gemacht. ... Aber in der Ökonomie, von deren Auflösung Marx da spricht, kommt eben diese Natur gar nicht vor, auf der sie gleichwohl letztlich beruht. Im Wert, um dessen Subjektwerdung es sich in ihr handelt, ist „kein Atom Naturstoff“ (MEW 23, S. 62) enthalten. Schlimmer noch: Die Ökonomie setzt sich selbst anstelle der Natur, wähnt sich selbst als die allernatürlichste Tatsache. Es geht uns daher allen Ernstes um die Auflösung dieser Ökonomie, von der dann halt nichts als „die banale Grundlage“ ... übrigbleibt, daß, wie das einzelne Individuum, so die Gesellschaft zur Sicherung der „Allseitigkeit ihrer Entwicklung … ihre Zeit zweckmäßig einteilen“ muß.

Daß indes in der Rede von der „Ökonomie der Zeit“ Rücksichtslosigkeit gegen die Naturgrundlagen allen gesellschaftlichen Daseins unterstellt sei, wird auch dadurch nicht wahrer, daß Werner es – ohne irgendeine Begründung – nun zum wiederholten Male behauptet. Das Gegenteil ist der Fall, wie ich im beiliegenden Text u.a. gezeigt habe.

Ich glaube, Daniel unterläuft hier ein Denkfehler.

Einerseits ist völlig richtig, daß vom Wertgesetz in einer Kommunistischen Gesellschaft nichts übrigbleibt als die Wertsubstanz, die Verausgabung gleicher menschlicher Arbeitskraft gemessen in Zeit, und daß diese Verausgabung in der Zeit mit dem Verschwinden des Warencharakters der Produkte, damit des Werts, auch nicht mehr als substantielle Bestimmung einer Wertgröße zu fassen ist, also nicht mehr in Austauschverhältnissen ihre das Wesen verschleiernde Erscheinungsform findet, sondern zum unmittelbaren Maßstab der Effizienz der gesellschaftlichen Reproduktion wird.

Andererseits ist es eine unzulässige Verkürzung der politischen Ökonomie auf seine abstrakteste Grundlage, das Wertgesetz, wenn Daniel behauptet, in ihr komme die Natur gar nicht vor. Was sich in der zweckmäßigen Verausgabung gleicher menschlicher Arbeitskraft, und damit unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen in den Warenwerten spiegelt, ist der Stoffwechselprozeß der Menschen mit der sie umgebenden Natur. Das Wertgesetz in seiner modifizierten Erscheinungsform der Profitrate bestimmt beispielsweise, ob Automobile mit fossilen Brennstoffen oder mit regenerativen Energieträgern betrieben werden. Abstrakt betrachtet, rein theoretisch, ließe sich eine solche Entscheidung von einem Verein freier Menschen nach dem Kriterium der Ökonomie der Zeit fällen: Welche Methode ist weniger arbeitsintensiv? Doch praktisch wird sich diese Frage auch in einer kommunistischen Gesellschaft so nicht lösen lassen, denn dazu müßte man beispielsweise die Frage beantworten können, wieviel zusätzlich erforderliche Arbeitszeit wir kommenden Generationen aufhalsen, wenn wir jetzt alle Erdölreserven verbrauchen. Da man weiter noch erfassen müßte, wieviel Arbeitszeit zur Bewältigung der Folgen der durch eine solche Entscheidung ausgelösten Klimaveränderungen erforderlich ist, sieht man, daß das ganze noch wesentlich komplexer ist und mit der Reduzierung sämtlicher Ökonomie auf Ökonomie der Zeit nicht zu beantworten, denn wir wissen weder etwas darüber, welche Bedürfnisse künftige Generationen entwickeln werden, noch darüber, wie sich die Produktivkraft der Arbeit über lange Zeiträume entwickeln wird. Insofern wird sich praktisch alle Ökonomie auflösen in Ökonomie der Zeit und der Ressourcen. Auch wenn das Modewort von nachhaltiger Produktion, das übrigens Marx schon zitiert32, bei manchem Stirnrunzeln auslöst, weil natürlich klar ist, daß nachhaltige Produktion - da mit kapitalistischer Ökonomie schwer verträglich33 - unter den gegenwärtigen Verhältnissen über moralische Appelle und die Hobbyaktivitäten einiger Freizeitweltverbesserer hinaus nur über staatlichen Zwang durchsetzbar ist: Kommunistische Produktion wird nachhaltige Produktion sein.

Werner stellt jedoch in seiner Argumentation34 Mensch und Natur gegeneinander. Daher geraten bei ihm Ökonomie der Zeit und Ökonomie der Ressourcen in einen Dualismus; die Ökonomie der Zeit findet ihre Begründung in den Bedürfnissen der Menschen, die Ökonomie der Ressourcen in „Bedürfnissen“ der Natur, während ich - wie oben gezeigt - meine, daß Ökonomie der Zeit und Ökonomie der Ressourcen letztlich das Gleiche sind, daß beide ihre Bestimmung aus den Bedürfnissen der Menschen herleiten, und die Differenzierung nur eine praktische ist.

Vielleicht wird der Unterschied deutlich an folgendem:

Die von Werner Imhof gebrachte Kritik an der Engelsschen Formulierung, daß die Menschen sich zum Herren der Natur aufschwingen, die Natur beherrschen etc.35, trifft m.E. nicht die Intentionen der Engelsschen Formulierungen. Diese Kritik an Engels ist in ökologisch oder feministisch angehauchten Kreisen in den letzten 15 Jahren sehr en vogue. Sie geht jedoch an der Engelsschen Intention vorbei. Herr, Herrschaft, Beherrschung wird von den Kritikern nur im Sinne von Willkür und Zwang verstanden, während Engels gerade auf das andere Moment von Herrschaft abhebt, etwa in dem Sinne, in dem wir von Körperbeherrschung reden.36 Werners Konsequenz:

Herr(inn)en ihrer eigenen Vergesellschaftung können die Menschen nur (noch) werden, wenn und soweit sie sich den begrenzten Naturverhältnissen irdischer Zivilisation unterordnen.

halte ich für falsch, oder zumindest für mißverständlich. Umgekehrt: Nur wenn wir Menschen unsere eigene Vergesellschaftung beherrschen, können wir uns auch rational zur Natur verhalten - und das bedeutet nicht Unterordnung, sondern Anpassung der Natur an die Bedürfnisse der menschlichen Gattung. In der Natur gibt es keinen Zweck, außer dem, den der Mensch ihr gibt. Die sogenannte Zerstörung der Natur, die in Wirklichkeit keine Zerstörung, sondern eine Umwandlung der Natur in eine lebensfeindliche Form ist, ist daher ein Verbrechen am Menschen und nicht an der Natur.

Babylonisches IV: Ansgar und Daniel

Der „Vorwurf“ Geschichtsdeterminismus

Daniel, du klammerst Dich an das Wort Geschichtsdeterminismus, statt dich mit den in diesem Zusammenhang von mir vorgetragenen Argumenten auseinanderzusetzen, die m.E. deutlich machen, was ich mit jenem Wort meine und warum ich das gemeinte für falsch halte.

Meine „Diagnose“, wie du sagst, hast du dir erstmalig durch eine ganz bestimmte Argumentation eingehandelt, die in den Kommunistischen Streitpunkten Nr.1 auf S. 13 f nachzulesen ist. Darin machst du als sachlichen Grund der Klassengegensätze in allen vorkapitalistischen Gesellschaften aus, daß die Produktivkräfte nur ausreichten um einen bestimmten Teil der Gesellschaftsmitglieder von der Arbeit für das alltäglich notwendige freizustellen zur Ausübung übergreifender, den gesellschaftlichen Organismus im ganzen zusammenhaltender Funktionen. Im Kapitalismus dagegen habe sich die Ausbeutung von so einem sachlichen Grund emanzipiert und diene nur noch dem einzigen Zweck, daß der Kapitalist nicht arbeiten muß. Diese Argumentation teile ich nicht und denke, sie geht zumindest windschief am eigentlichen Kern der Sache vorbei. Ich habe diese Argumentation doppelt kritisiert, einmal immanent, indem ich mich auf die deterministische Form dieser Argumentation mit „Grund“ und „Zweck“ eingelassen habe, zum anderen aber - und hier liegt mein „Determinismus-Vorwurf“, indem ich kritisiert habe, wie sich bei Dir ein „Grund“ (der m.E. eher Hintergrund als Grund ist) zum „Zweck“ verdreht, wobei dieser „Zweck“ nicht anders verstanden werden kann, als gesetzt vom Abstraktum „Geschichte“. Also, ich kritisiere bei Dir weder einen Determinismus im Sinne der Theorie einer Vorbestimmtheit von allem und jedem37, noch geht es mir darum, jeglichen notwendigen Zusammenhang abzustreiten. Meine Kritik richtet sich nicht gegen die Konstatierung der Bestimmtheit historischer Vorgänge, sondern gegen die Art ihrer Bestimmung, die bei Dir nicht als „Vor“bestimmung aus der inneren Entwicklung der Wirklichkeit heraus, als Möglichkeit und/oder Notwendigkeit dargestellt wird, sondern als eine „Nach“bestimmung die von außen, vom Zweck oder Ziel her, in die Geschichte hineinprojiziert wird. Als Vergleich fallen mir diese abstrusen Tierfilme ein, mit denen das Fernsehpublikum von Zeit zu Zeit beglückt wird, wo es dann z.B. heißt, der Kamelbulle kämpft mit seinen Rivalen „weil er seine Gene weitergeben will“, oder „die Evolution“ habe die Frösche grün gemacht, „damit“ sie sich besser tarnen können, - bitte entschuldige den Vergleich, etwa so kommt bei dir der Kapitalismus daher, „damit“ der Komunismus entstehen kann.

Ich habe zugespitzt formuliert:

Es geht beim Kommunismus nicht darum, irgendeiner Entwicklungsrichtung der Geschichte zum Durchbruch zu verhelfen, sondern die gesellschaftlichen Verhältnisse so zu gestalten, daß diese Art von Geschichte selbst beendet und zur Vorgeschichte wird.38

Du reißt den ersten Halbsatz dieser Zuspitzung aus ihrem Zusammenhang. Isoliert betrachtet ist dieser Halbsatz natürlich falsch, er erhält seinen Sinn erst in seinem Zusammenhang. In einer Anmerkung schreibst Du dann:

Die Fortsetzung dieses Satzes „sondern darum, daß diese Art von Geschichte selbst beendet und zur Vorgeschichte wird“, unterstellt übrigens, was Du zuvor kategorisch dementiert hast: daß es „diese Art von Geschichte“, in der sich die eine oder die andere „Entwicklungsrichtung“ unabhängig vom Willen und Bewußtsein der geschichtlichen Akteure geltend macht, offensichtlich sehr wohl gegeben hat und bislang noch gibt, daß sie also weit entfernt davon ist, bloß „angedichtet“ zu sein.39

Ich frage Dich: Wann und wo sollte ich das dementiert haben, und auch noch kategorisch?“ - Babylon. - In der Anmerkung 12 Deines Briefes40 behauptest Du, ich würde gegen den Dir unterstellten „Geschichtsfetischismus“ ausgerechnet ein Zitat aus den Marxschen philosophisch-ökonomischen Manuskripten auffahren, in dem der Kommunismus als das aufgelöste Rätsel der Geschichte bestimmt wird. Schon wieder ein fundamentales Mißverständnis. Diesen Text „fahre ich auf gegen“ einen kommunistischen Purismus, gegen einen Kommunismus der reinen Lehre, der vor den Verstrickungen in die wirkliche Geschichte bewahrt werden soll. Im Kontext meines Beitrages richtet sich das in erster Linie gegen Zwis Forderung nach „radikaler Diskontinuität“, in zweiter Linie gegen fast alle übrigen, die sich mündlich oder schriftlich in unsere Debatte eingemischt haben, so etwa gegen Werner I., Ulrich W., Willi H., die sämtlich das (berechtigte) Moment der Diskontinuität in der Geschichte des Kommunismus und der Notwendigkeit des Bruchs mit der Vergangenheit verabsolutieren. Daß Du, Daniel, dies nicht tust, habe ich gerade als positives Moment Deiner Argumentation hervorgehoben. Du triffst Dich zwar mit den Genannten in der abstrakten Forderung nach einem puristischen Kommunismus, aber Du gelangst dazu von einer andren Seite, nämlich über den - wie Du sagst - „kläglich-grotesken Ausklang der ersten Arbeiterrevolution in Deutschland“ 1923, bzw. das „definitive Versagen“ des Kommunismus, daß in Auschwitz sein festzuhaltendes Datum gefunden habe.

Gegenüber dem, was Du bei Ulrich Weiß als „äußerst flachen Determinismus“ ausmachst, der „alle Geschichte auf blanke 'Notwendigkeit'“ herunterkürze, siehst Du die Möglichkeit kommunistischer Produktionsweise allein mit den sogenannten „objektiven Momenten, d.h. seinen materiellen Voraussetzungen gegeben (im Kapitalismus Fortfall jedes besonderen sachlichen Grundes für die Klassenspaltung), und das Nicht-nutzen dieser Möglichkeit gerät Dir zum Versagen des Subjekts vor seiner historischen Mission, Auschwitz zur Zufälligkeit, deren einzig bestimmbarer Grund eben in jenem Versagen des revolutionären Proletariats liegt, in Halbheiten, subjektiven Fehlern, Verrat, und Konterrevolution.

Demgegenüber hat der „äußerst flache Determinismus“ des Ulrich Weiß immerhin eine Ahnung davon, daß diesem „subjektiven Versagen“ objektive Ursachen zugrunde liegen müssen und er begibt sich auf die Suche nach diesen Ursachen - ob und inwieweit diese Suche bereits erfolgreich war, sei hier einmal dahingestellt.

Mein „Vorwurf“ einer Tendenz zum Geschichtsdeterminismus richtet sich nicht nur gegen Daniels Argumentationsweise, sondern auch gegen meine eigene im Aufsatz „Produktivkraftentwicklung und Gesellschaftsformation“41. Ausgehend von der Marxschen Zusammenfassung des allgemeinen Resultats seiner ökonomischen Studien42, wonach eine „Gesellschaftsformation nie untergeht, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse“ nie an deren Stelle treten, „bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet sind“, habe ich dort versucht, den Zeitpunkt zu bestimmen, an dem der Übergang zu kommunistischer Produktionsweise möglich und notwendig wird.

Diese Frage geistert mehr oder weniger explizit durch unsere gesamte Debatte. Die Positionen dazu sind vielfältig. Unter einem bestimmten Gesichtspunkt betrachtet teilen sich die Positionen in zwei große Lager: Diejenigen, die (mit den verschiedensten Begründungen) behaupten, zum Zeitpunkt der Oktoberrevolution seien die Voraussetzungen für den Übergang zum Kommunismus noch nicht gegeben gewesen, diese würden sich erst heute herausbilden (R. Schlosser, W.Imhof, U.Weiß), und diejenigen, die behaupten, die Spatzen würden es von den Dächern pfeifen, „daß die Zeit reif ist für einen Umbau des Ganzen der menschlichen Verhältnisse von Grund auf, ja daß es vielleicht schon oder sehr bald dafür zu spät sein könnte“43 (Daniel Dockerill, Zwi Schrittkopcher).

Ich meine heute, daß die Frage als Frage nach einem Zeitpunkt falsch gestellt ist, denn sie vernachlässigt den wirklichen Zusammenhang von objektiven und subjektiven Voraussetzungen und damit den Unterschied von formeller und realer Möglichkeit.

Wenn wir im Dasein als der sinnlich wahrnehmbaren Realität (= dem gewordenen) verschiedene Daseinsformen ausmachen können, nämlich die Wirklichkeit (= das Wirkende, neue Realität schaffende), die Möglichkeit (als noch nicht gewordenes Gegenbegriff zu Realität), die Notwendigkeit (= das nicht-anders-sein-können) und die Zufälligkeit (= das auch-anders-sein-können), dann ist die kommunistische Gesellschaft mit der Entwicklung des Kapitalismus Möglichkeit geworden, reale Möglichkeit - und nicht Notwendigkeit. (Auch wenn Hegel zeigt, daß die reale Möglichkeit mit der relativen Notwendigkeit identisch ist, gilt es hier zunächst das Moment des Möglichen zu betonen.)

Wieso? - Das Kapitalverhältnis emanzipiert die menschlichen Arbeiten von ihrer historischen Gebundenheit an bestimmte Personen und bestimmte sachliche Voraussetzungen und macht sie zu menschlicher Arbeit überhaupt, gleicher menschlicher Arbeit, oder andersherum ausgedrückt: es emanzipiert die Individuen von ihrer Gebundenheit an bestimmte konkrete Tätigkeiten und deren sachliche Voraussetzungen. Es schafft mit der allseitigen Herausbildung der gesellschaftlichen Teilung der Arbeit die Voraussetzungen für die Aufhebung der knechtenden Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit.

Die Wirklichkeit des Kapitalverhältnisses ist der Weltmarkt. Er erst verleiht der Kategorie der gleichen menschlichen Arbeit Wirklichkeit, macht alle Arbeit, die es sich unterwirft, zu wirklich gesellschaftlicher Arbeit.44

Das ist die Grundvoraussetzung für den Übergang zu kommunistischer Produktionsweise; hierdurch wird eine kommunistische Produktionsweise zur Möglichkeit, allerdings erstmal nur zu einer formellen Möglichkeit, die in der Wirklichkeit des Weltmarktes ihr Anderes hat und daher ebensogut Unmöglichkeit ist. Insofern sie jedoch auch den Kommunismus als wirkliche Bewegung aus sich hervorbringt, wird die kommunistische Produktionsweise zur realen Möglichkeit und damit zur relativen Notwendigkeit.

Von dieser Seite her ist die Möglichkeit kommunistischer Produktionsweise also einerseits abhängig von dem Grad, in dem alle Arbeit in wirklich gesellschaftliche verwandelt wird, andererseits von dem Grad, in dem die Möglichkeit und Notwendigkeit kommunistischer Produktionsweise durch die Fetischformen kapitalistischer Produktion hindurchscheint, bewußt wird und durch den Kommunismus als wirkliche Bewegung eigenständige Form gewinnt.

Nochmal zu Daniel. Daniel, Du gibst als theoretischen Zeitpunkt, an dem die Revolution „spätestens fällig“ gewesen wäre, den Übergang von der Manufaktur zur Fabrik an. Diese Formulierung verursacht bei mir wieder das Unbehagen, daß mich zur Benutzung des Wortes „Geschichtsdeterminismus“ getrieben hat. Hier aber bleibt mir auch Deine Begründung völlig unverständlich. Schein und Sein würden an ihnen (den einzelnen Gebrauchsgegenständen, die ihre Produzenten beherrschen) identisch und sie würden aufhören Gebrauchsgegenstand zu sein - tut mir leid, da komme ich nicht mit. Die Retourkutsche „welch dialektisches Gemuddel“ verkneife ich mir, obwohl sie mir auf der Zunge liegt. Vielleicht könntest Du einfach noch mal etwas verständlicher erklären was Du meinst, wieso „die Revolution“ zu einem wie bestimmten Zeitpunkt „offenbar“ „spätestens“ „fällig“ wurde und inwiefern sie tatsächlich bereits zum größten Teil hinter uns liege und wieso, falls sie nicht stattgefunden hätte, der Schluß „wohl zwingend“ wäre, „daß in der Maschinerie als der adäquaten Gestalt des Kapitals als Gebrauchswert das Kapital schließlich überhaupt aufgehört hat, wesentlich gesellschaftliches Verhältnis zu sein“.

Umgekehrt, wenn das Kapital aufgehört hätte, wesentlich gesellschaftliches Verhältnis zu sein, würde auch die notwendige gegenständliche Erscheinungsform eines Teils des Kapitals als Maschinerie nicht mehr die Eigenschaft haben, ihre Produzenten zu beherrschen, wäre die Maschinerie eben nicht mehr Kapital. Ebenso beherrschen ja „die einzelnen Gebrauchs­gegnstände“ nicht an sich als Gebrauchsgegenstände, sondern erst als Waren, wenn sie Warenform annehmen und daher sachlicher Ausdruck eines gesellschaftlichen Verhältnisses werden ihre Produzenten. Und das ist kein bloßer oder falscher Schein, der erst zu einem bestimmten Zeitpunkt mit seinem Sein identisch wird, sondern von vornherein wirklicher Schein, seiender Schein, eben Erscheinungsform eines gesellschaftlichen Verhältnisses.

begriffliche Annäherung

Daniel, Du schreibst:

Deinen „Versuch einer begrifflichen Annäherung an einen Sachverhalt“, nämlich den Zusammenhang abstrakter Arbeit mit Ware, Wert, Wert- bzw. Geldform, Kapital usw., habe ich weder überhaupt, noch gar mit Hinweisen auf diverse Koryphäen der einschlägigen Marx-Kritik „abgewehrt“

- Schon wieder ein babylonisches Mißverständnis. Ich habe überhaupt keine begriffliche Annäherung an den Zusammenhang von abstrakter Arbeit mit Ware, Wert usw. versucht. Dieser Zusammenhang ist so einfach und klar von Marx auf den Begriff gebracht, daß es da überhaupt nicht nötig ist, sich „begrifflich anzunähern“. Der Ausdruck „gedankliche Annäherung an einen Sachverhalt“ bezog sich auf die modifizierten Formen und Inhalte, die Ware, Wert und Geld in den Arbeiterstaaten des 20.Jahrhunderts annahmen.

Zum Wert als Inkarnation der abstrakten Arbeit: Hier habe ich nur Deiner begrifflichen Annäherung in den Streitpunkten 1, in denen du sagst, die Inkarnation der Arbeit sans phrase sei eben das Geld, etwas auf die Sprünge helfen wollen, indem ich versucht habe, dem von Dir verwandten Ausdruck aus der Nebelwelt der Religion einen materiellen Gehalt abzuringen:

Inkarnation der konkreten Arbeit: Gebrauchswert

Inkarnation der abstrakten Arbeit: Wert

Inkarnation der warenproduzierenden Arbeit als Einheit von abstrakter und konkreter Arbeit: Ware

Äußere Ausdrucksform der Inkarnation der abstrakten Arbeit ist der Tauschwert, auch Wertform genannt, und als entwickelste Wertform die Geldform

Inkarnation der Mehrarbeit: Mehrprodukt

Inkarnation der Lohnarbeit: Kapital

Dagegen wendest Du ein:

Der Wert ist an sich, nämlich seiner Substanz nach, körperlos. ... Einen Körper, eine spezifisch gegenständliche Form erhält der Wert der einzelnen Ware nur in deren betätigter Beziehung auf die übrige Warenwelt, letztlich also, da im Wert das allen Waren Gemeinsame bestimmt ist, in der Zirkulation der Waren oder eben im Geld, als deren Inbegriff.

Damit widersprichst Du nicht nur der Marxschen Analyse, sondern fällst auch hinter Deinen eigenen Erkenntnisstand zurück, wie er etwa in „Übergänge 3“, S.72f dokumentiert ist. Dort hast Du sehr treffend geschrieben:

Daß der Wert wesentlich historisch besondere Formbestimmung ist, als solche aber einen allgemeinen, ihre historische Besonderheit übersteigenden Inhalt - woran erst die Form sich als besondere erweist - zwingend voraussetzt ...

Marx schreibt:

Ein Gebrauchswert oder Gut hat also nur einen Wert, weil abstrakt menschliche Arbeit in ihm vergegenständlicht oder materialisiert ist.45

Wenn ich dies, unter Verwendung des von Dir ins Spiel gebrachten Begriffs übersetze mit

Der Wert ist die Inkarnation der abstrakten Arbeit,

dann sagt das nicht mehr und nicht weniger aus, daß die Ware einen Wert hat, weil ein bestimmtes Quantum an Verausgabung von menschlicher Arbeitskraft zu ihrer Herstellung erforderlich ist. Wie Du auf die Schnapsidee kommst, ich wollte damit den Wert - unabhängig von seiner Form - als Form bestimmen, ist mir völlig schleierhaft. Also zu Deiner Beruhigung: Es gibt keine Form des Werts, außer der Wertform, der Erscheinungsform des Werts, dem Geld. Wenn Du jedoch als Inkarnation der Wertsubstanz die Wertform und nicht den Wert selber ausmachst, dann verursachst Du einen Kurzschluß. Die Differenzierung zwischen Wert und Wertform ist u.a. erforderlich, weil sich in der Wertform nicht nur der Wert, sondern auch eine Abweichung vom Wert ausdrücken kann, ja die Wertform sogar aufhören kann, Wertausdruck zu sein.46

Herrschaft des Produkts über den Produzenten

Zugegeben, in der „Plattform der übergänge“ ist implizit auch von Momenten der Aufhebung der Herrschaft des Produktes über den Produzenten die Rede, insofern sind meine Formulierungen im editorial der Streitpunkte 5 zumindest überspitzt.

Daniel, Du behauptest, in den Engelsschen Charakterisierungen über das

Heraustreten des Menschen aus tierischen Daseinsbedingungen in wirklich menschliche

würde es sich

soweit überhaupt um die kapitalistische Warenproduktion, nicht um sie im besonderen, sondern um das, was sie mit allen früheren gesellschaftlichen Formationen verbindet

handeln.

Ich lese das etwas anders. Warum wohl bindet Engels diese Charakterisierung an die Besitzergreifung der Produktionsmittel durch die Gesellschaft und an die Beseitigung der Warenproduktion? Die Herrschaft des Produkts über den Produzenten ist eben nicht mehr ohne weiteres gleichzusetzen mit Herrschaft der Natur über den Menschen. Es verweist darauf, daß wir uns zwar schon von der Beherrschung durch die uns umgebende Natur emanzipiert und gelernt haben, sie zu beherrschen, daß wir unsere eigene Natur als gesellschaftliche Wesen aber noch keineswegs ebenso beherrschen. Die Form der Herrschaft des Produkts über den Produzenten ist eben nicht die Form vorkapitalistischer Herrschaftsverhältnisse. Während vorkapitalistische Herrschaftsverhältnisse als gottgegeben dargestellt wurden, erscheinen die kapitalistischen Herrschaftsverhältnisse als naturgegeben. Daß das, was hier in der Form der Herrschaft des Produkts über den Produzenten als naturgegeben erscheint, keineswegs ein Naturverhältnis ist, sondern ein Gesellschaftsverhältnis - wenn auch eines, das sich naturwüchsig entwickelt hat, eben Resultat und Durchgangspunkt jener Art von Geschichte ist, in der die eigene Gesellschaftlichkeit den Menschen als objektive, fremde Macht beherrscht - kann dem Leser meiner Beiträge in den Streitpunkten eigentlich nicht entgangen sein. Wogegen richtet sich dann aber Deine Feststellung, Naturverhältnisse könnten kein Gegenstand der Kritik sein? - Babylon.

Daniel, Deine Mutmaßung,

die Kritik wolle die Herrschaft des Produktes über den Produzenten als eine selbständige Komponente der kapitalistischen Misere festgehalten wissen

macht eine Verständigung darüber erforderlich, was wir unter selbständig verstehen. Daß „die Kritik“ nicht von einer absoluten Selbständigkeit dieser Komponente ausgeht, macht schon der von Dir zitierte Satz der Kritik deutlich,

daß der Übergang zum Kommunismus eine doppelte Aufgabenstellung enthält, nämlich sowohl die Aufhebung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, als auch die Aufhebung der Herrschaft des Produkts über die Produzenten, und daß das erste Ziel ohne das vernachlässigte zweite nicht zu haben sein wird.

Darüber hinaus billigt „die Kritik“ dieser Komponente durchaus eine relative Selbständigkeit zu. Schon Engels weist im Anti-Dühring darauf hin, daß diese Komponente nicht unmittelbar an die kapitalistische, sondern an jede Form von Warenproduktion geknüpft ist:

... jede auf Warenproduktion beruhende Gesellschaft hat das Eigentümliche, daß in ihr die Produzenten die Herrschaft über ihre eignen gesellschaftlichen Beziehungen verloren haben.“47

Die Geschichte der „sozialistischen Staaten“ im 20.Jahrhundert und ihr letztendliches Scheitern zeigt gerade sowohl die Selbständigkeit dieser „Komponente“ als auch die Relativität dieser Selbständigkeit, davon handelt mein Beitrag „Warenproduktion und Markt in einer sozialistischen Gesellschaft“ in den Streitpunkten 5. Werner Imhof weist in den Streitpunkten 5 ebenfalls darauf hin:

Selbst wenn alle Betriebe 'in Arbeiterhand' wären, das Privateigentum an Produktionsmitteln also in einer Richtung - als Trennung in Besitzende und Besitzlose - aufgehoben wäre, bliebe mit der Wertform der Produkte auch ihre Kapitalform erhalten, ... solange das Privateigentum nicht auch in der anderen Richtung - als Trennung der Produzenten ... voneinander - aufgehoben wäre, solange die Markt- und Geldbeziehungen nicht durch andere Beziehungen ersetzt würden.48

Die Kritik an der „Plattform der übergänge“ präzisiert sich also dahingehend, daß dieser relativen Selbständigkeit der 2 Seiten, Komponenten oder Richtungen der Aufhebungsbewegung des Kapitalverhältnisses nicht genügend Rechnung getragen wird.

Aus dieser zweiten Seite ergeben sich ganz spezifische Anforderungen an eine kommunistische Gesellschaft: Die gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen zueinander werden nicht mehr durch hinter dem Rücken der Menschen sich vollziehende ökonomische Gesetze geregelt, sondern durch die bewußte und planmäßige Gestaltung der Beziehungen durch die Menschen selbst. Dies wird zwar von den Übergängern nicht bestritten, soweit ich sie verstanden habe, aber die Konsequenzen daraus für den Übergang selbst werden unzureichend gezogen. Hier sind wir wieder bei dem „möglichen Kommunismus“. Daniel zitiert zustimmend meine Kritik an dem Text von Ulrich Weiß,

daß die revolutionäre Praxis eben das Abwerfen der bürgerlichen Form ist, und das Resultat nicht am Beginn des Prozesses stehen kann.

und fügt hinzu:

Aber was heißt das anderes, als daß in der bürgerlichen Form ihr Jenseits bereits irgendwie enthalten, daß sie an sich selbst zur Auflösung treibender Widerspruch sein, die Tendenz zu ihrer eigenen Aufhebung mit sich führen muß?

- Völlig richtig, zumindest die erste Hälfte des Satzes. Mit der zweiten Satzhälfte bin ich nur einverstanden, wenn man sie nicht im Sinne einer Selbstauflösung der bürgerlichen Form interpretiert - das wäre tatsächlich das „endlose Ende“ der bürgerlichen Form -, sondern im Sinne von Möglichkeit und Notwendigkeit, die Aufhebung der bürgerlichen Form praktisch zu vollziehen. Wenn aber unser Handeln mit dem Ziel der Überwindung der bürgerlichen Formen sich zwangsläufig noch in diesen bürgerlichen Formen vollzieht, also eine Aufsprengung von innen sein muß, dann gilt es vorrangig, die Momente der konkreten Negation der bürgerlichen Form in den bürgerlichen Formen aufzuspüren und zum bestimmenden Moment zu machen und die Momente der Selbstreproduktion der bürgerlichen Form in unserer eigenen politischen Praxis so weit als möglich unwirksam zu machen. Daniel und die Übergänge bestimmen das „enthaltene Moment des Jenseits“ der bürgerlichen Form auf der allgemeinen Ebene der politischen Ökonomie zwar zutreffend als die gesellschaftliche Produktion, die Arbeit als gesellschaftliche Gesamtarbeit, und das „irgendwie“ ihres Enthaltenseins in der Warenform als Substanz und Größe des Werts; aber auch auf allen besonderen Ebenen muß diese Bestimmung des „Jenseits der bürgerlichen Form“ an der bürgerlichen Form geleistet werden. Das gilt besonders auch für die politischen Formen des Übergangs, Kommunistische Partei, Diktatur des Proletariats usw., in denen die „Momente des Jenseits“ zu den bestimmenden gemacht und ihre Selbstreproduktion als auch noch bürgerliche Form verhindert werden muß. An der Unterbelichtung dieser Frage machte sich fast alle in den Streitpunkten geäußerte Kritik an Daniels Thesen fest, und dahingehend möchte ich auch meine Kritik an der Plattform der Übergänge präzisieren. Daß ein Teil der Kritik über das Ziel hinausschießt, indem er Kommunistische Partei, Diktatur des Proletariats usw. mit deren bisheriger Praxis identifiziert und das noch-bürgerliche Moment verabsolutiert, daher das Kind mit dem Bade ausschüttet, macht die Erkenntnis, daß das Bad ausgeschüttet werden muß, nicht grundsätzlich falsch. Wenn sich die Bedingungen des Kommunismus als „wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt“ ergeben „aus der jetzt bestehenden Voraussetzung“49, dann gilt es die jetzt bestehende Voraussetzung konkret zu erfassen, um die historischen Beschränktheiten des Kommunismus zu überwinden. Ich verstehe die Beiträge von Zwi, Werner Imhof, Ulrich Weiß und mir in den Streitpunkten als Ansätze dazu. Die Voraussetzung des Kommunismus ist heute nicht mehr dieselbe, wie zur Zeit des Übergangs von der Manufaktur zur Fabrik, sie hat sich weiterentwickelt. Damit muß der Kommunismus als wirkliche Aufhebungsbewegung der bestehenden Verhältnisse heute auch ein anderer sein.

Er kann nur als bewußter und planmäßiger Selbstaufhebungsprozeß des Proletariats gelingen.50

 

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1Ulrich Weiß, Marx und der mögliche Sozialismus, in Kommunistische Streitpunkte 5, S. 19ff

2Werner Imhof, Antithesen, in Kommunistische Streitpunkte 1, S. 48f

3Zwi Schrittkopcher, Wider dern erschlichenen Kommunismus, in Kommunistische Streitpunkte 2, S. 13ff

4Ansgar Knolle Grothusen, Die historischen Beschränktheiten des Kommunismus erkennen und überwinden, in Kommunistische Streitpunkte 3, dort besonders S. 17

5Ute Osterkamp, Hat der Marxismus die Natur des Menschen verkannt - oder sind die Menschen für den Sozialismus nicht geschaffen?, in diesem Heft, S

6Ulrich Weiß, Marx und der mögliche Sozialismus, in Kommunistische Streitpunkte 5, S. 20f

7Wolfgang Gehrcke: Gespenster, Visionen, Veränderungen, in: PDS-Pressedienst 10/98, S. 6

8Marx/Engels: Manifest der kommunistischen Partei, MEW Bd. 4, S. 476

9Marx/Engels: Manifest der kommunistischen Partei, MEW Bd. 4, S. 473

10Marx/Engels: Manifest der kommunistischen Partei, MEW Bd. 4, S. 473-474.

11Einige Formulierungen in dem neuen Text: „Kapitalismus - Sintflut ohne Arche? Anmerkungen von Ulrich Weiß zum Schwarzbuch des Kapitalismus von Robert Kurz“ wecken allerdings bei mir erneut Zweifel, ob nicht doch bei Uli Weiß das Motiv des „Abschieds vom Proletariat“ ganz massiv mitschwingt; zumindest ist seine Argumentation hier sehr ambivalent.

12Werner Imhof, Antithesen, in Kommunistische Streitpunkte 1, S. 52

13Daniel Dockerill, Im Westen nichts neues?, in Kommunistische Streitpunkte 1, S. 30

14Klaus Herrmann, Anmerkungen zur Debatte, in Kommunistische Streitpunkte 2, S. 5

15Ulrich Weiß, Marx und der mögliche Sozialismus, in Kommunistische Streitpunkte 5, S. 27

16Ulrich Weiß, Marx und der mögliche Sozialismus, in Kommunistische Streitpunkte 5, S. 28

17Daniel Dockerill, Brief an Ansgar Knolle-Grothusen, in diesem Heft, S.

18Ulrich Weiß, Kapitalismus - Sintflut ohne Arche?, S. 38f

19Wolf Göhring, Mittels I+K-Technologie die Warenproduktion dialektisch aufheben?, in diesem Heft S.

20Ulrich Weiß, Kapitalismus - Sintflut ohne Arche?, S. 26

21Werner Imhof, Das Ferne liegt so nah ..., in diesem Heft, S.

22Karl-Heinz Landwehr, Zu unterschiedlichen Vorstellungen der aktuellen Aufgabenstellung des Thoerie-Praxis-Verhältnis, in Kommunistische Streitpunkte 3, S. 20

23Marx/Engels, Deutsche Ideologie, MEW 3, S.35f

24Karl-Heinz Landwehr, a.a.O.

25Werner Imhof, a.a.O.

26Karl-Heinz Landwehr, a.a.O.

27Werner Imhof, a.a.O.

28Werner Imhof, Zur möglichen Praxis einer kommunistischen Produktion, in Kommunistische Streitpunkte 5, S. 69ff

29Daniel Dockerill, Brief an Ansgar Knolle-Grothusen, in diesem Heft S.

30Werner Imhof, Zur möglichen Praxis einer kommunistischen Produktion, in Kommunistische Streitpunkte 5, S. 69ff

31Daniel Dockerill, Brief an Ansgar Knolle-Grothusen, in diesem Heft, S.

32Karl Marx, Das Kapital II, MEW 24, S. 246

33siehe dazu auch meinen Aufsatz „Produktivkraftentwicklung und Gesellschaftsformation“, in diesem Heft, S.

34Werner Imhof, Zur möglichen Praxis einer kommunistischen Produktion, in Kommunistische Streitpunkte 5, S.73 und 75

35ebenda

36So schreibt Engels beispielsweise: „... Und so werden wir bei jedem Schritt daran erinnert, daß wir keineswegs die Natur beherrschen, wie ein Eroberer ein fremdes Volk beherrscht, wie jemand der außer der Natur steht - sondern daß wir mit Fleisch und Blut und Hirn ihr angehören und mitten in ihr stehn, und daß unsre ganze Herrschaft nur darin besteht, im Vorzug vor allen anderen Geschöpfen ihre Gesetze erkennen und richtig anwenden zu können.“ MEW 20, S. 452ff

37um dies überhaupt in Erwägung zu ziehen, hättest Du wirklich außer „der Tendenz zu idealistischem Geschichtsdeterminismus“ kein weiteres Wort meiner „Fragen und kritischen Anmerkungen“ lesen dürfen

38Ansgar Knolle-Grothusen, editorial zu Kommunistische Streitpunkte 5, S. 3

39Daniel Dockerill, Brief an Ansgar Knolle-Grothusen, in diesem Heft, S.

40Daniel Dockerill, Brief an Ansgar Knolle-Grothusen, in diesem Heft, S.

41Ansgar Knolle-Grothusen, Produktivkraftentwicklung und Gesellschaftsformation, in diesem Heft, S.

42im Vorwort der Schrift „Zur Kritik der politischen Ökonomie“, MEW 13, S. 8f

43Daniel Dockerill, „Anmerkungen zu Robert Schlossers 'Voraussetzungen des Kommunismus', in übergänge 4, S.45

44allerdings noch nicht zu unmittelbar gesellschaftlicher Arbeit, der gesellschaftliche Charakter der einzelnen Teilarbeiten als Bestandteil der gesellschaftlichen Gesamtarbeit bleibt vermittelt über die Warenform des Produkts.

45Karl Marx, Das Kapital, MEW 23, S. 53

46siehe Marx, Das Kapital, MEW 23, S. 117

47Friedrich Engels, Anti-Dühring, MEW 20, S.253

48Werner Imhof, Skizzen eines emanzipatorischen Kommunismus, Kommunistische Streitpunkte 5, S.14

49Marx/Engels, Deutsche Ideologie, MEW 3, S. 35

50siehe hierzu: Ansgar Knolle Grothusen, Die historischen Beschränktheiten des Kommunismus erkennen und überwinden, in Kommunistische Streitpunkte 3, S. 16f