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KOMMUNISTISCHE STREITPUNKTE - Zirkularblätter - Nr. 6 - 10.10.2000 - Onlineversion

Ansgar Knolle-Grothusen

Produktivkraftentwicklung und Gesellschaftsformation -

einige Gedanken zur Frage der objektiven Überlebtheit der kapitalistischen Produktionsweise



Vorbemerkung: Der folgende Text ist 1994 in Aufarbeitung der Auseinandersetzung mit dem Gorbatschowismus und der sogenannten Neuererströmung in der DKP späten 80er Jahre entstanden. Er stellt einen Versuch der Annäherung an das Thema dar, das von einer anderen Seite her in der bisherigen Diskussion der „Übergänge“ um Robert Schlossers „Voraussetzungen des Kommunismus“ angegangen wird. Besonders die Resultate dieser Annäherung,

  • daß „Typ der Produktivkraftentwicklung“ keine technologische, sondern eine ökonomische Kategorie ist, und

  • daß der kapitalistische Typ der Produktivkraftentwicklung heute tendentiell zu einer Scheinentwicklung wird,

möchte der Autor zur Diskussion stellen.

Hamburg, 1998



Im Verlaufe der Geschichte haben die Menschen sich immer mehr Fähigkeiten erworben und Hilfsmittel hergestellt, mit denen sie ihre Beziehungen untereinander und zur umgebenden Natur organisieren, -vom Faustkeil bis zum Mikrochip. Diese Fähigkeiten und Hilfsmittel, die die Produktivität der menschlichen Arbeit steigern, nennen wir Produktivkräfte.

Die Entwicklung der Produktivkräfte ist aber abhängig von der Organisation der Gesellschaft, und hier in erster Linie von der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit, die wir die Produktionsverhältnisse nennen.

"Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen."1

Die Produktionsverhältnisse sind also etwas relativ starres, was von der Grundstruktur her über längere Zeiträume unverändert bleibt, während sich die Produktivkräfte ständig weiterentwickeln.

"Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um."2

Das ist der Zeitpunkt, mit dem die Umwälzung der Produktionsverhältnisse, die Durchsetzung einer neuen Gesellschaftsordnung möglich und objektiv notwendig wird.

Die soziale Revolution wird erst zu diesem Zeitpunkt möglich, weil wie Marx sagt, eine Gesellschaftsformation nie untergeht,

"bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausge­brütet worden sind."3

Notwendig wird die soziale Revolution um die weitere Entwicklung der Produktivkräfte der menschlichen Arbeit zu gewährleisten.

Wie nun haben sich die Produktivkräfte der menschlichen Arbeit innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft entwickelt, wo und wie werden die kapitalistischen Produktionsverhältnisse zur Fessel der Produktivkraftentwicklung?

Marx und Engels sahen die historische Rolle der kapitalistischen Produktionsweise und ihrer Trägerin, der Bourgeoisie, in der unbedingten Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte.

Den ökonomischen Mechanismus, der im Kapitalismus wie in keiner Gesellschaftsformation vorher die ständige revolutionäre Entwicklung der Produktivkräfte der Arbeit, der Arbeitsproduktivität, erzwingt, hat Marx im Kapital ausführlich dargestellt: Unmittelbarer Zweck der Erhöhung der Produktivkraft der Arbeit für den einzelnen Kapitalisten, der die Neuerung zuerst bei sich einführt, ist die Senkung des individuellen Werts seiner Produkte unter ihren gesellschaftlichen Wert, um dadurch auf dem Markt mit ihrem Verkauf zu einem von ihrem gesellschaftlichen Wert bestimmten Preis einen über ihren individuellen Wert hinausgehenden Extramehrwert zu erziehlen. Um mit diesem Neuerer konkurrenzfähig zu bleiben, sind die übrigen Kapitalisten der Branche gezwungen, ebenfalls ihre Produktivität zu erhöhen. Dadurch sinkt der gesellschaftliche Wert der hergestellten Produkte auf den individuellen Wert der Produkte unseres ersten Kapitalisten und mit seinem Extramehrwert ist es vorbei, sofern er nicht erneut die Produktivität erhöht, was er dann auch prompt tut. Gesamtgesellschaftlich führt diese ständige Erhöhung der Produktivkraft der Arbeit zu einer Senkung des Wertes der Produkte und damit zu einer Senkung des Werts der Ware Arbeitskraft, der sich aus dem Wert der zur ständigen Reproduktion der Arbeitskraft notwendigen Produkte ergibt.

Diese Dynamik des Kapitals hat eine ständige Entwicklung und Revolutionierung der gesellschaftlichen Produktivkräfte zur Folge.

Marx und Engels schreiben im Kommunistischen Manifest:

"Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren."4

Um diese ungeheure Entwicklung der Produktivkräfte zu ermöglichen, haben sich auch die Produktionsverhältnisse innerhalb der Schranken der kapitalistischen Produktionsweise weiterentwickelt. Die Änderungen von der einfachen Kooperation über die Manufaktur zur großen Industrie hat Marx beschrieben. Weitere Stichworte der Entwicklung der Produktionsverhältnisse sind:

- Neue Qualitäten im Prozeß der Konzentration und Zentralisation des Kapitals: Formen der partiellen Vergesellschaftung des Kapitals (Aktiengesellschaften etc.), die Entwicklung über Kartelle, Trusts, inländisches Monopol, zu den heutigen Formen der transnationalen Konzerne,

- die neue Rolle, die dem Bankkapital und dem Staat beim Übergang zum Imperialismus zuwächst

- Herausbildung des Weltmarktes und der internationalen ökonomischen Abhängigkeits- und Ausbeutungsverhältnisse

- Änderungen in der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit in der Zusammensetzung der Klassen und in ihrer Reproduktion.

Wo nun werden die Produktionsverhältnisse zur Fessel für die Entwicklung der Produktivkräfte?

Zeitweilig kommt der Widerspruch zwischen den Produktionsverhältnissen und der Entwicklung der Produktivkräfte in den zyklischen Krisen des Kapitalismus zum Ausdruck, in denen gewaltige Produktivkräfte brachliegen und vernichtet werden. Engels beschrieb das so:

"In den Krisen kommt der Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und kapitalistischer Aneignung zum gewaltsamen Ausbruch. Der Warenumlauf ist momentan vernichtet: das Zirkulationsmittel, das Geld, wird Zirkulationshindernis, alle Gesetze der Warenproduktion und Warenzirkulation werden auf den Kopf gestellt. Die ökonomische Kollision hat ihren Höhepunkt erreicht: Die Produktionsweise rebelliert gegen die Austauschweise.
Die Tatsache, daß die gesellschaftliche Organisation der Produktion innerhalb der Fabrik sich zu dem Punkt entwickelt hat, wo sie unverträglich geworden ist mit der neben und über ihr bestehenden Anarchie der Produktion in der Gesellschaft - diese Tatsache wird den Kapitalisten selbst handgreiflich gemacht durch die gewaltsame Konzentration der Kapitale, die sich während der Krisen vollzieht vermittelst des Ruins vieler großer und noch mehr kleiner Kapitalisten. Der gesamte Mechanismus der kapitalistischen Produktionsweise versagt unter dem Druck der von ihr selbst erzeugten Produktivkräfte. Sie kann diese Masse von Produktionsmitteln nicht mehr alle in Kapital verwandeln; sie liegen brach, und eben deshalb muß auch die industrielle Reservearmee brachliegen. Produktionsmittel, Lebensmittel, disponible Arbeiter, alle Elemente der Produktion und des allgemeinen Reichtums sind im Überfluß vorhanden. Aber 'der Überfluß wird Quelle der Not und des Mangels' (Fourier), weil er es gerade ist, der die Verwandlung der Produktions- und Lebensmittel in Kapital verhindert. Denn in der kapitalistischen Gesellschaft können die Produktionsmittel nicht in Tätigkeit treten, es sei denn, sie hätten sich zuvor in Kapital, in Mittel zur Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft verwandelt. Wie ein Gespenst steht die Notwendigkeit der Kapitaleigenschaft der Produktions- und Lebensmittel zwischen ihnen und den Arbeitern. Sie allein verhindert das Zusammentreten der sachlichen und der persönlichen Hebel der Produktion; sie allein verbietet den Produktionsmitteln, zu fungieren, den Arbeitern, zu arbeiten und zu leben. Einesteils also wird die kapitalistische Produktionsweise ihrer eignen Unfähigkeit zur ferneren Verwaltung dieser Produktivkräfte überführt. Andrerseits drängen diese Produktivkräfte selbst mit steigender Macht nach Aufhebung des Widerspruchs, nach ihrer Erlösung von ihrer Eigenschaft als Kapital, nach tatsächlicher Anerkennung ihres Charakters als gesellschaftlicher Produktivkräfte."5

Aber diese Vernichtung von Produktivkräften ist nur eine zeitweise: Mit der "gewaltsamen Konzentration der Kapitale" wird in der Krise die Grundlage geschaffen für ein neues gewaltiges Anwachsen der gesellschaftlichen Produktivkräfte unter nach wie vor kapitalistischen Produktionsbedingungen:

"Es ist dieser Gegendruck der gewaltig anwachsenden Produktivkräfte gegen ihre Kapitaleigenschaft, dieser steigende Zwang zur Anerkennung ihrer gesellschaftlichen Natur, der die Kapitalistenklasse selbst nötigt, mehr und mehr, soweit dies innerhalb des Kapitalverhältnisses überhaupt möglich, sie als gesellschaftliche Produktivkräfte zu behandeln. Sowohl die industrielle Hochdruckperiode mit ihrer schrankenlosen Kreditaufblähung, wie der Krach selbst durch den Zusammenbruch großer kapitalistischer Etablissements, treiben zu derjenigen Form der Vergesellschaftung größter Massen von Produktionsmitteln, die uns in den verschiednen Arten von Aktiengesellschaften gegenübertritt. Manche dieser Produktions- und Verkehrsmittel sind von vornherein so kolossal, daß sie, wie die Eisenbahnen, jede andere Form kapitalistischer Ausbeutung ausschließen. Auf einer gewissen Entwicklungsstufe genügt auch diese Form nicht mehr; die inländischen Großproduzenten eines und desselben Industriezweigs vereinigen sich zu einem "Trust", einer Vereinigung zum Zweck der Regulierung der Produktion; sie bestimmen das zu produzierende Gesamtquantum, verteilen es unter sich und erzwingen so den im voraus festgesetzten Verkaufspreis. Da solche Trusts aber bei der ersten schlechten Geschäftszeit meist aus dem Leim gehn, treiben sie eben dadurch zu einer noch konzentrierteren Vergesellschaftung: Der ganze Industriezweig verwandelt sich in eine einzige große Aktiengesellschaft, die inländische Konkurrenz macht dem inländischen Monopol dieser einen Gesellschaft Platz; ... In den Trusts schlägt die freie Konkurrenz um ins Monopol, kapituliert die planlose Produktion der kapitalistischen Gesellschaft vor der planmäßigen Produktion der hereinbrechenden sozialistischen Gesellschaft. Allerdings zunächst noch zu Nutz und Frommen der Kapitalisten."6

In Anlehnung an diese Gedanken haben wir gemeint, die mit der Konzentration und Zentralisation des Kapitals einhergehende Einschränkung der Konkurrenz würde auf einer bestimmten Stufe zur Stagnation der Produktivkraftentwicklung führen. Als Beleg dafür wurden gern Patente angeführt, die - statt verwertet zu werden - in den Panzerschränken der Konzerne verschwanden, etwa Patente für Glühbirnen, die nicht durchbrennen, oder für Damenstrümpfe, die keine Laufmaschen kriegen. Doch damit die objektive Notwendigkeit des Sozialismus begründen zu wollen, erscheint heute zu kurz gegriffen; heute sehen wir, daß der Imperialismus in der Lage ist die Produktivkraftentwicklung - rein quantitativ gesehen - weiter zu beschleunigen; wir sehen, daß der oben zitierte Satz aus dem Kommunistischen Manifest auch heute noch gilt.

Kann man also davon sprechen, daß die kapitalistischen Produktionsverhältnisse bereits zur Fessel der Produktivkraftentwicklung geworden sind?

Einerseits registrieren wir in den regelmäßigen Absatzkrisen, oder auch jetzt nach der Annektion der DDR in den fünf neuen Bundesländern zeitweise die massenhafte Vernichtung von Produktivkräften, andererseits sehen wir eine bemerkenswerte Flexibilität in der Gestaltung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, die immer wieder die weitere Entwicklung der Produktivkräfte ermöglicht.

Dies macht die Bestimmung des Zeitpunktes der objektiven Möglichkeit und Notwendigkeit des Überganges zum Sozialismus kompliziert.

Eindeutig läßt sich feststellen: Zur Zeit der Oktoberrevolution war noch nicht der Punkt erreicht, an dem "alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die die kapitalistische Gesellschaftsform weit genug ist", auch heute ist dieser Punkt noch nicht absehbar.

Als Engels 1878 diesen Punkt für erreicht hielt, hat er ihn daher etwas anders bestimmt:

"Dieser Punkt ist jetzt erreicht. Ist der politische und intellektuelle Bankrott der Bourgeoisie ihr selbst kaum noch ein Geheimnis, so wiederholt sich ihr ökonomischer Bankrott regelmäßig alle zehn Jahre. In jeder Krise erstickt die Gesellschaft unter der Wucht ihrer eignen, für sie unverwendbaren Produktivkräfte und Produkte und steht hülflos vor dem absurden Widerspruch, daß die Produzenten nichts zu konsumieren haben, weil es an Konsumenten fehlt. Die Expansionskraft der Produktionsmittel sprengt die Bande, die ihr die kapitalistische Produktionsweise angelegt. Ihre Befreiung aus diesen Banden ist die einzige Vorbedingung einer ununterbrochenen, stets rascher fortschreitenden Entwicklung der Produktivkräfte und damit einer praktisch schrankenlosen Steigerung der Produktion selbst."7

Also nicht die absolute Unfähigkeit der alten Gesellschaft die Produktivkräfte weiterzuentwickeln, sondern die bereits besseren Möglichkeiten der Produktivkraftentwicklung unter den neuen Bedingungen sind hier für Engels das Kriterium.

Lenin sah dies ähnlich8 und wies darauf hin, daß der endgültige Sieg der neuen Gesellschaftsordnung nur dadurch zu gewährleisten ist, daß sie eine höhere Arbeitsproduktivität erreicht, die Produktivkraft der Arbeit besser entwickelt, als die vorangegangene.

Angesichts der periodisch stattfindenden gewaltigen Vergeudung gesellschaftlicher Produktivkräfte im Kapitalismus sollte dies einer Gesellschaftsordnung, die die Anarchie innerhalb der gesellschaftlichen Produktion ersetzt durch planmäßige, bewußte Organisation, nicht schwerfallen.

Einen weiteren Hinweis auf die besseren Möglichkeiten der Produktivkraftentwicklung im Sozialismus lieferte Marx, als er im "Kapital" die ökonomischen Grenzen des Einsatzes neuer Produktivkräfte durch das Kapital analysierte:

"Ausschließlich als Mittel zur Verwohlfeilerung des Produkts betrachtet, ist die Grenze für den Gebrauch der Maschinerie darin gegeben, daß ihre eigne Produktion weniger Arbeit kostet, als ihre Anwendung Arbeit ersetzt. Für das Kapital jedoch drückt sich diese Grenze enger aus. Da es nicht die angewandte Arbeit zahlt, sondern den Wert der angewandten Arbeitskraft, wird ihm der Maschinengebrauch begrenzt durch die Differenz zwischen dem Maschinenwert und dem Wert der von ihr ersetzten Arbeitskraft. ... In einer kommunistischen Gesellschaft hätte daher die Maschinerie einen ganz andren Spielraum als in der bürgerlichen Gesellschaft."9

und:

"Der Wert der Ware ist bestimmt durch die Gesamtarbeitszeit, vergangne und lebendige, die in sie eingeht. Die Steigerung der Produktivität der Arbeit besteht eben darin, daß der Anteil der lebendigen Arbeit vermindert, der der vergangnen Arbeit vermehrt wird, aber so, daß die Gesamtsumme der in der Ware steckenden Arbeit abnimmt, daß also die lebendige Arbeit um mehr abnimmt, als die vergangne zunimmt. ... Damit nun eine neue Produktionsmethode sich als wirkliche Steigerung der Produktivität bewähre, muß sie auf die einzelne Ware einen geringern zusätzlichen Wertteil für Verschleiß von fixem Kapital übertragen, als der abzügliche Wertteil ist, der infolge verminderter lebendiger Arbeit erspart wird, muß sie in einem Wort den Wert der Ware vermindern. ... Alle Wertzuschläge müssen mehr als aufgewogen werden durch die Wertverminderung, die aus Verringerung der lebendigen Arbeit entsteht.
Diese Verminderung des in die Ware eingehenden Gesamtarbeitsquantums scheint hiernach das wesentliche Kennzeichen gesteigerter Produktivkraft der Arbeit zu sein, gleichgültig unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen produziert wird. In einer Gesellschaft, worin die Produzenten ihre Produktion nach einem voraus entworfnen Plan regeln, ja selbst in der einfachen Warenproduktion würde die Produktivität der Arbeit auch unbedingt nach diesem Maßstab gemessen. Wie steht es aber in der kapitalistischen Produktion?
Gesetzt, ein bestimmter kapitalistischer Produktionszweig produziere das Normalstück seiner Ware unter folgenden Bedingungen: Der Verschleiß des fixen Kapitals beträgt per Stück ½ Schilling oder Mark; an Roh- und Hilfsstoff geht ein 17½ sh.; an Arbeitslohn 2 sh., und bei einer Mehrwertsrate von 100% beträgt der Mehrwert 2 sh. Gesamtwert = 22 Schilling oder Mark. Wir nehmen der Einfachheit halber an, daß in diesem Produktionszweig das Kapital die Durchschnittszusammensetzung des gesellschaftlichen Kapitals hat, daß also der Produktionspreis der Ware mit ihrem Wert zusammenfällt und der Profit des Kapitalisten mit dem gemachten Mehrwert. Dann ist der Kostpreis der Ware = ½ + 17½ + 2 = 20 sh., die Durchschnittsprofitrate 2/20 = 10% und der Produktionspreis des Stücks Ware gleich seinem Wert = 22 sh. oder Mark.
Nehmen wir an, eine Maschine werde erfunden, die die für jedes Stück erforderliche lebendige Arbeit auf die Hälfte reduziere, dafür aber den aus Verschleiß des fixen Kapitals bestehenden Wertteil verdreifache. Dann stellt sich die Sache so: Verschleiß = 1½ sh., Roh- und Hilfsstoff wie früher 17½ sh., Arbeitslohn 1 sh., Mehrwert 1 sh., zusammen 21 sh. oder Mark. Die Ware ist nun 1 sh. im Wert gesunken; die neue Maschine hat die Produktivkraft der Arbeit entschieden gesteigert. Für den Kapitalisten aber stellt sich die Sache so: sein Kostpreis ist jetzt 1½ sh. Verschleiß, 17½ sh. Roh- und Hilfsstoff; 1 sh. Arbeitslohn, zusammen 20 sh., wie vorher. Da die Profitrate sich durch die neue Maschine nicht ohne weiteres ändert, muß er 10% über dem Kostpreis erhalten, macht 2 sh.; der Produktionspreis ist also unverändert = 22 sh., aber 1 sh. über dem Wert. Für eine unter kapitalistischen Bedingungen produzierende Gesellschaft hat sich die Ware nicht verwohlfeilert, ist die neue Maschine keine Verbesserung. Der Kapitalist hat also kein Interesse daran, die neue Maschine einzuführen. ... Für das Kapital also gilt das Gesetz der gesteigerten Produktivkraft der Arbeit nicht unbedingt. Für das Kapital wird diese Produktivkraft gesteigert, nicht wenn überhaupt an der lebendigen Arbeit, sondern nur wenn an dem bezahlten Teil der lebendigen Arbeit mehr erspart als an vergangner Arbeit zugesetzt wird. ... Hier fällt die kapitalistische Produktionsweise in einen neuen Widerspruch. Ihr historischer Beruf ist die rücksichtslose, in geometrischer Progressive vorangetriebne Entfaltung der Produktivität der menschlichen Arbeit. Diesem Beruf wird sie untreu, sobald sie, wie hier, der Entfaltung der Produktivität hemmend entgegentritt. Sie beweist damit nur aufs neue, daß sie altersschwach wird und sich mehr und mehr überlebt."10

Nun hat die Geschichte jedoch gezeigt: Der sozialistischen Anlauf 1917-1989 konnte der Produktivkraft der Arbeit nicht dauerhaft bessere Entwicklungsbedingungen bieten, als das mit ihm koexistierende imperialistische Weltsystem. Im Gegenteil - im Zurückbleiben der Arbeitsproduktivität hinter den kapitalistischen Hauptländern wird eine Hauptursache für das Scheitern gesehen.

Warum konnte der Sozialismus keine neuen besseren Bedingungen für die Entwicklung der Produktivkräfte schaffen?

Waren dies nur Unzulänglichkeiten, Fehler, die man mit Begriffen wie "Überzentralisierung" und "Kommandowirtschaft" benennen kann und auch hätte beheben können, oder ist (war) der (reale) Sozialismus objektiv nicht in der Lage den Kapitalismus in seinem "eigentlichen Beruf" zu schlagen, ist der Kapitalismus noch immer nicht altersschwach genug?11

Wir haben gesehen: Die periodische Vernichtung von Produktivkräften durch den Kapitalismus reicht offensichtlich nicht aus, um bereits von Fesseln der Produktivkraftentwicklung zu reden.

Die oben beschriebene Dynamik des Kapitals wirkt nach wie vor. Sie hat uns eine ganze Reihe von Revolutionen im Produktivkraftsystem beschehrt, wissenschaftlich-technische Revolutionen, und weitere Revolutionen im Produktivkraftsystem sind auf dem Weg (just in time, lean production ...).

Diese Entwicklung des Produktivkraftsystems hat heute einen Punkt erreicht, an dem Quantität in neue Qualität umschlägt: Der Stoffwechselprozeß der Menschen mit ihrer Umgebung hat die Größenordnung globaler Naturprozesse erreicht. Äußerlich wird dies daran deutlich, daß erstmalig durch die menschliche Tätigkeit die Existenzgrundlagen der Menschheit selbst untergraben werden können und auch tatsächlich real gefährdet sind.

Diese Gefahr wird von vielen Menschen gesehen und zum Thema gemacht. Erstmals wurde diese neue Qualität deutlich im militärischen Bereich, wo Mitte dieses Jahrhunderts mit der Entwicklung und Produktion von Atom- und Wasserstoffbomben und ihren Trägersystemen die Möglichkeit der Selbstvernichtung der Menschheit gegeben war. Mit der weiteren Ausweitung des Stoffwechselprozesses der Menschen mit der Natur wird jetzt zunehmend deutlich, daß auch die zivile Produktion entscheidende Auswirkungen hat auf die ökologischen Systeme, die die Reproduktion unserer Lebensgrundlagen regeln.

Die Friedens-, die Anti-Atom-, die Ökologiebewegung waren erste Reaktionen auf diese neuen Gefahren.

Auch wir Kommunisten haben versucht, dieser neuen Qualität Rechnung zu tragen. So hieß es im Entwurf "BRD 2000" der DKP vom März 1989:

"Die Zuspitzung globaler Probleme hat erstmals in der Geschichte die Gefahr der Selbstvernichtung der menschlichen Zivilisation mit sich gebracht. ... Auch die Gefahr der Vernichtung der natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit durch die ökologische Krise nimmt zu. Die Zeit zur Lösung dieser Probleme ist auf wenige Jahrzehnte begrenzt."12

Doch diese Prozesse wurden m.E. nie richtig in ihrer gesamten Tiefe analysiert. Die Erscheinungsformen, die unter dem Schlagwort "globale und Menschheitsfragen" zusammengefasst wurden, wurden als neue Widersprüche angesehen, die additiv zu den alten Widersprüchen dieser Welt hinzukommen oder gar diese ersetzen. Sie zu lösen sei vorrangig, da die ganze Menschheit betroffen ist, war sie schnell auch als Subjekt ausgemacht, das mit Hilfe "Neuen Denkens" diese Probleme lösen sollte. Ein "umfassender Umbau zur Ökologisierung der Produktivkräfte" wurde in "BRD 2000" gefordert, "auch unter den Bedingungen des staatsmonopolistischen Kapitalismus" seien "Alternativen zur deformierten Produktivkraftentwicklung möglich"13, ein neuer Typ der Produktivkraftentwicklung müsse durchgesetzt werden. - So richtig es war und nach wie vor ist, daß diese Widersprüche zu Existenzfragen der Menschheit werden und ihre Lösung keinen Aufschub duldet, so unzureichend und teilweise falsch waren die Lösungsvorschläge, die angeboten wurden.

Das Haupthindernis auf dem Weg zu adäquaten Antworten auf die neuen Herausforderungen lag in der unzureichenden Analyse der Ursachen der "globalen Probleme", die als Auswirkungen der wissenschaftlich-technischen Revolution dargestellt wurden. Das greift jedoch zu kurz. Die Folge war eine von den Produktionsverhältnissen losgelöste Betrachtungsweise der Produktivkraftentwicklung, die sich auf die Forderung nach "stofflichem Umbau der materiellen Produktivkraftstrukturen" konzentrierte, aber die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen dies durchsetzbar ist und die gesellschaftlichen Kräfte, die dies durchsetzen können, nicht richtig benennen konnte. In einer umfassenden Kritik des Leitantrages des MSB Spartakus habe ich im Frühjahr 1988 geschrieben:

"Das neue der gegenwärtigen Situation besteht zusammengefaßt doch darin, daß durch die Entwicklung der Produktivkräfte im Gefolge der wissenschaftlich-technischen Revolution eine Lage eingetreten ist, in der die menschliche Tätigkeit die Größenordnung globaler Naturprozesse erreicht hat und dadurch unter weltweit noch maßgeblich vom Kapitalismus mitgeprägten Produktionsverhältnissen und Verwertungsbedingungen die Existenzgrundlagen menschlichen Lebens überhaupt gefährdet sind. Das hat zur Folge, daß die Lösung der drängensten Menschheitsfragen nicht mehr auf Zeiten besserer gesellschaftlicher Rahmenbedingungen, auf den Sozialismus, warten kann, sondern bereits heute, unter den Bedingungen der Systemkonkurrenz von Kapitalismus und Sozialismus angepackt werden muß. So weit so gut. Aber die neuen Herausforderungen haben die alten doch nicht ersetzt - im Gegenteil, sie resultieren direkt aus der Entfaltung der alten Widersprüch und fordern mit neuer Schärfe auch deren Lösung. Oder anders ausgedrückt: Die neuen Herausforderungen haben sich auf der Grundlage der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse gebildet und sind mit ihnen eng verwoben. Sie lassen sich nicht unabhängig vom Klassencharakter der Verhältnisse und seinen ökonomischen Wurzeln analysieren, und ohne die Berücksichtigung dieser Grundlagen lassen sich auch keine realistischen Lösungsstrategien entwickeln.
Aber genau dies wird im Leitantrag versucht. Man gewinnt den Eindruck, daß im Leitantrag die Begriffe "Humanismus", "Demokratie", "neue Politik" etc völlig losgelöst von der ökonomischen Struktur der Gesellschaft verwandt werden. Der Leitantrag muß sich noch "von der Utopie zur Wissenschaft" entwickeln.
Was meines Erachtens deutlicher herauskommen muß: Die globalen Probleme, die heute zu drängenden Menschheitsfragen geworden sind, sind auf der Basis der gesellschaftlichen Widersprüche und speziell auf der Basis des Grundwiderspruchs von gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung entstanden. Nicht allein "altes Denken", sondern in den bestehenden Produktionsverhältnissen angelegte objektive Gesetzmäßigkeiten behindern ihre Lösung. Der bei uns vorherrschende Typ der Produktivkraftentwicklung hat ebenso wie das ausbeuterische Verhältniss zur Natur seine Ursachen nicht so sehr in "Dummheit" oder "Steinzeitlogik", sondern darin, daß der Motor der ökonomischen Entwicklung hierzulande das kurzfristige und konkrete einzelkapitalistische Profitinteresse ist.
Ebenso ist der "alte Typ von Politik" - im Leitantrag treffend mit den Begriffen "Demagogie" und "Arroganz der Macht" gekennzeichnet - auch nicht Ausdruck der Unfähigkeit Bonner Politiker, sondern Wesensmerkmal kapitalistischer Herrschaftssicherung in der bürgerlich-demokratischen Gesellschaft. Eine Politik, die objektiv gegen die Interessen der Mehrheit der Bevölkerung gerichtet ist, dieser als "in ihrem Sinne" zu verkaufen und durchzusetzen, geht nun mal nicht anders als mit Demagogie und Arroganz der Macht. Diese beiden Beispiele, die sich beliebig vermehren ließen, zeigen, daß der Kampf um die Lösung der drängensten Menschheitsfragen nur aufgefaßt werden kann als antimonopolistischer Kampf, daß sein Erfolg davon abhängt, ob es gelingt den Bereich kapitalistischer Verfügungsgewalt und Handlungsfreiheit in wesentlichen Punkten einzuschränken und daß errungene Erfolge immer gefährdet bleiben werden, solange dem "alten Denken" nicht seine ökonomische Grundlage entzogen ist, sprich solange wir nicht den Sozialismus erkämpft haben.
Die wichtigen globalen Fragen, die jetzt Lösungen zugeführt werden müssen, müssen daher im Rahmen der Dialektik von Reform und Revolution gesehen und analysiert werden.
Daß im ganzen Leitantrag die Kräfte und Mechanismen, die der Lösung der drängenden Fragen im Wege stehen, nie klar benannt werden, daß auch unser weitergehendes Ziel, die Durchsetzung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung, nicht offen ausgesprochen wird und folglich auch der Zusammenhang zwischen den neuen globalen Aufgaben und dem Kampf um Sozialismus nicht deutlich wird, stimmt mich sehr bedenklich. Denn damit bleibt auch der Adressat der Forderung nach "Neuem Denken", der Träger des Kampfes um das Überleben der Menschheit, die Koalition der Vernunft unklar und verschwommen, ebenso wie die Frage, gegen wen sich dieser Kampf richten muß, und die Frage, was in dieser Gesellschaft durchsetzbar ist, was an die Grenzen des Systems führt und was eine sozialistische Umgestaltung zur Voraussetzung hat."14

Der Ansatz, den Klassenkampf und selbst den real existierenden Sozialismus aufzugeben, um innerhalb des imperialistischen Systems, gemeinsam mit der herrschenden Bourgeoisie die globalen Probleme zu lösen, konnte nur scheitern. Denn das Auftreten der globalen Probleme ist ein direktes Ergebnis des überreifen kapitalistischen Weltsystems. Nicht Dummheit und Unvernunft, "altes Denken" der herrschenden Klasse ist die Ursache der globalen Probleme, sondern die dem Kapitalismus innewohnende Gesetzmäßigkeit, nach der jeder Kapitalist bei Strafe seines Untergangs als Kapitalist gezwungen ist, jedes Mittel zur Kapitalverwertung auszuschöpfen. Er wird über die Umweltsünden der Konkurrenz zetern, aber selbst bedenkenlos sein eigenes Trinkwasser vergiften, er wird scharfe Waffenexportkontrollen fordern, solange er seine Ausnahmegenehmigung in der Tasche hat. Er mag ein honoriger Mensch sein und auf die Prinzipien des Club of Rome schwören, aber vor seiner "globalen Verantwortung" steht ihm immer seine Verantwortung als Kapitalist, die Verantwortung für die optimale Verwertung seines Kapitals und damit für die Konkurrenzfähigkeit seines Betriebes.

Der Apell an den Imperialismus, "Neues Denken" einzuführen, geht schon deshalb ins Leere, weil "der Imperialismus" gar nicht denken kann. Der Imperialismus funktioniert eben nicht durch rationale Gesamtentscheidungen, sondern durch die Summe konkreter Einzelentscheidungen konkreter einzelner Kapitalisten, die sich in der Regel nicht einmal am langfristigen Gesamtinteresse ihrer Klasse, sondern an ihrem eigenen kurzfristigen und konkreten einzelkapitalistischen Profitinteresse orientieren.

Natürlich ist der Kapitalismus in der Lage einen ökologischen Reparaturbetrieb aufzubauen, indem entsprechende staatliche Aufträge entsprechenden Profit versprechen. Aber während er einen Schaden repariert, schafft er zehn neue. Der Appell an die Kapitalistenklasse, in ihrem eigenen Interesse zur Lösung der globalen Probleme beizutragen, nützt wenig, weil der Kapitalismus nicht in der Lage ist, seine eigenen langfristigen Klasseninteressen durchzusetzen, wenn sie gegen die kurzfristigen einzelkapitalistischen Profitinteressen stehen. Auch die Abschaffung der Kinderarbeit und die Einführung des Zehnstundentages im 19.Jahrhundert waren nur im Klassenkampf gegen das Kapital durchsetzbar, obwohl sie langfristig auch in seinem Interesse lagen.

Die Forderung nach einem neuen Typ der Produktivkraftentwicklung ist richtig und logisch, denn würde die bisherige Entwicklung fortgeschrieben, würde sie unweigerlich zum Untergang der Menschheit führen. Doch wie läßt sich dieser neue Typ der Produktivkraftentwicklung bestimmen, wie typisiert man überhaupt Produktivkraftentwicklung?

"BRD 2000" charakterisierte den gegenwärtigen Typ der Produktivkraftentwicklung als "deformierte Produktivkraftentwicklung" im Rahmen der konservativen, privatmonopolistischen Entwicklungsvariante des staatsmonopolistischen Kapitalismus und orientierte auf den Kampf für eine Umorientierung der Produktivkraftentwicklung die mit den Worten "stofflicher Umbau des Produktivkräftesystems" und "Ökologisierung der Produktivkräfte" beschrieben wurde.

Auch heute noch wird in verschiedenen politischen und gesellschaftlichen Kreisen die Forderung nach einem neuen, "sanften" Typ der Produktivkraftentwicklung laut - teilweise in bewußter Entgegensetzung zu dem vorläufig gescheiterten Versuch der Durchsetzung neuer Produktionsverhältnisse.

Betrachten wir die Sache näher: Um die Forderung nach einem neuen Typ der Produktivkraftentwicklung zu präzisieren und die Voraussetzungen zu seiner Realisierung zu bestimmen, müssen wir erst einmal den gegenwärtigen Typ der Produktivkraftentwicklung näher bestimmen.

Der gegenwärtige Typ der Produktivkraftentwicklung ist dadurch gekennzeichnet, daß neue Produktivkräfte daraufhin entwickelt und dann eingesetzt werden, wenn durch sie an dem bezahlten Teil lebendiger Arbeit mehr eingespart wird, als an vergangener Arbeit zugesetzt wird, (Näheres siehe MEW 23, S.414 und MEW 25, S.271ff). Dies ist das einzige Kriterium und die einzige Schranke für den Einsatz neuer Produktivkräfte.

Diesen Typ der Produktivkraftentwicklung, den ich den kapitalistischen Typ der Produktivkraftentwicklung nenne, charakterisiert Marx als "die unbedingte Entwickelung der gesellschaftlichen Produktivkräfte als Mittel zum beschränkten Zweck der Kapitalverwertung". Dagegen setzt Marx für die künftige sozialistische Gesellschaftsordnung einen Typ der Produktivkraftentwicklung, in der die Entwicklung der Produktivkräfte "bloße Mittel für eine sich stets erweiternde Gestaltung des Lebensprozesses für die Gesellschaft der Produzenten sind". (MEW 25, S.260)

Hier ergibt sich ein neuer Ansatzpunkt für die Beantwortung der Frage nach dem Punkt, an dem die kapitalistischen Produktionsverhältnisse zur Fessel der Produktivkraftentwicklung werden:

Anscheinend kann der Punkt, an dem der Übergang zum Sozialismus objektiv notwendig ist, nicht dadurch bestimmt werden, daß die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse jede Art quantitativer Weiterentwicklung der Arbeitsproduktivität behindern, sondern dadurch, daß sie einen bestimmten, für das Überleben der Menschheit notwendigen Typ der Produktivkraftentwicklung verhindern. Die Überlebtheit der kapitalistischen Produktionsweise zeigt sich durch nichts deutlicher als dadurch, daß beim heutigen Stand der Produktivkräfte der kapitalistische Typ der Produktivkraftentwicklung die Existenzgrundlagen menschlichen Lebens überhaupt in Frage stellt.

Oder anders herum:

So wie die für den Kapitalismus typische Form der materiellen Produktion die gesellschaftliche Produktion ist, so sind auch die wichtigsten unter seiner Ägide entwickelten Produktivkräfte gesellschaftliche, nur von einer Gesamtheit von Menschen anwendbare Produktivkräfte.

Neben den Produktionsmitteln in Form gewaltiger Fabrikanlagen, denen man ihren Charakter als gesellschaftliche Produktivkräfte unmittelbar ansehen kann, entwickeln sich im Kapitalismus spezifische gesellschaftliche Produktivkräfte der Arbeit direkt aus dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion, z.B. schon durch einfache Kooperation, bei der sich zeigt, daß beispielsweise die kombinierte Arbeitskraft von 100 Arbeitern sehr viel größer ist, als die Summe der Arbeitskraft von 100 vereinzelt Arbeitenden.

Dieser gesellschaftliche Charakter der materiellen Produktion, der Produktivkräfte und ihrer Entwicklung steht im Widerspruch zu ihrer kapitalistischen, d.h. privaten Aneignung und Nutzung.

Entwicklung der Produktivkräfte der Arbeit bedeutet wie wir gesehen haben immer Ersatz lebendiger durch vergangene Arbeit. Diese Beschreibung ist hinreichend genau, solange der Stoffwechselprozeß der Menschheit klein ist im Verhältnis zu den globalen Naturprozessen und daher im Wesentlichen mit einer natürlichen Reproduktion der natürlichen Produktionsbedingungen gerechnet werden kann. Solange dies der Fall ist, läßt sich mit Fug und Recht davon sprechen, daß Naturkräfte und Naturstoffe kostenlose Produktivkräfte sind, kann man sagen, Luft, Wasser, Stoffe aller Art in ihrem naturursprünglichen Zustand haben keinen Wert, da zu ihrer Produktion keine menschliche Arbeitskraft benötigt wird. In dem Maße nun, in dem durch die Größenordnung ihrer Vernutzung die natürliche Reproduktion dieser Stoffe nicht mehr gewährleistet ist, gewinnen sie einen Wert, der bestimmt ist durch die zu ihrer Reproduktion gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit. Solange sie jedoch noch in hinreichender Qualität und Menge von Natur aus vorhanden, werden sie nicht zur Ware, lassen sich nach wie vor gratis aneignen, denn ihre Nutzung findet privat statt, durch das Kapital, während ihre Reproduktion eine gesellschaftliche Aufgabe ist. Es findet hier praktisch neben der Ersetzung lebendiger Arbeit durch vergangene auch eine Substituion lebendiger Arbeit durch zukünftige statt, die im Gegensatz zur völlig bezahlten toten Arbeit und zur teilweise bezahlten lebendigen Arbeit nicht bezahlte und nicht geleistete Arbeit ist, ein ungedeckter Wechsel auf die Zukunft, Beraubung künftiger Generationen.

Beispiel: Giftige Produktionsrückstände werden in der Nordsee verklappt. Dies spart in großem Stil lebendige Arbeit, die notwendig wäre um diese Stoffe unschädlich zu machen, aufzuarbeiten und in den Stoffwechselkreislauf zu reintegrieren, bzw. um die Produktion so zu verändern, daß diese Stoffe gar nicht erst anfallen. Gleichzeitig erwächst hieraus für die Zukunft die in ihrem Umfang überhaupt nicht überschaubare Aufgabe der Entgiftung der Meere.

Dies zeigt: Der Kapitalismus ist nicht mehr in der Lage, die Produktivkraft der Arbeit richtig zu bewerten. Die von ihm hervorgebrachten gesellschaftlichen Produktivkräfte verlangen nach gesellschaftlicher Bewertung. Das Maß jedoch, das der Kapitalismus als einziges zur Beurteilung der Produktivität kennt, liegt in der privaten Aneignung der Produktionsergebnisse, ist der erzielte Profit. Das profitable Verklappen ist aber Bestandteil einer höchst unproduktiven Produktion wenn man die unterschlagene zukünftige Arbeit mit in Rechnung stellt. So wird der Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung der Produktionsergebnisse zur Fessel der gesellschaftlichen Produktivkraftentwicklung und kann gesamtgesellschaftlich gesehen sogar zu entscheidenden Senkungen der Produktivkraft der Arbeit führen. Der kapitalistische Typ der Produktivkraftentwicklung erweist sich damit auf der heute erreichten Stufe des Soffwechselprozesses als Scheinentwicklung, die durch den sozialistischen Typ der Produktivkraftentwicklung abgelöst werden muß.

Zusammenfassung und Ausblick

Warum ist diese marxistische Bestimmung des Typs der Produktivkraftentwicklung heute so wichtig?

1. Marx und Engels haben uns die Augen dafür geöffnet, daß die objektive Notwendigkeit revolutionärer Veränderungen in der Geschichte immer dann entstand, wenn die bestehenden Eigentumsverhältnisse zur Fessel für die Produktivkraftentwicklung wurden. In der Übertragung dieses Gedankens auf die heutige Zeit sind wir oft schematisch vorgegangen, haben gemeint, die mit der Konzentration und Zentralisation des Kapitals einhergehende Einschränkung der Konkurrenz würde auf einer bestimmten Stufe zur Stagnation der Produktivkraftentwicklung führen. Heute sehen wir, daß der Imperialismus in der Lage ist die Produktivkraftentwicklung - rein quantitativ gesehen - weiter zu beschleunigen; wir sehen, daß auch heute noch gilt, was Marx schon im Kommunistischen Manifest feststellte: "Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren." Also kann sich die Frage nach der objektiven Notwendigkeit des Sozialismus nicht daraus ergeben, daß die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse jede Art quantitativer Produktivkraftentwicklung behindern, sondern daraus, daß sie einen bestimmten, für das Überleben der Menschheit notwendigen Typ der Produktivkraftentwicklung hemmen. Die Überlebtheit der kapitalistischen Produktionsweise zeigt sich durch nichts deutlicher als dadurch, daß beim heutigen Stand der Produktivkräfte der kapitalistische Typ der Produktivkraftentwicklung die Existenzgrundlagen menschlichen Lebens überhaupt in Frage stellt.

2. Sie zeigt, daß die Forderung nach Durchsetzung eines neuen Typs der Produktivkraftentwicklung innerhalb des kapitalistischen Systems, wie sie in einigen sozialdemokratischen und grünen Kreisen aufgestellt wird, illusionär und unmarxistisch ist.

3. Sie weist auf die Notwendigkeit der Ausarbeitung eines neuen, sozialistischen Typs der Produktivkraftentwicklung im Sozialismus hin.

Wenn wir betonen, daß die Gefahren, die sich heute für den Fortbestand der Menschheit ergeben, direkt aus der Entfaltung der Widersprüche des Kapitalismus resultieren, wird häufig angemerkt, daß der reale Sozialismus ja wohl auch seinen Beitrag zu den globalen Problemen geleistet habe. Wie sieht es damit aus?

Zum Einen hat der Sozialismus z.B. zum Thema ökologisch verträglicher Produktion durchaus einiges geleistet, auch wenn es heute Mode ist, das Gegenteil zu behaupten.

Zum Anderen muß aber hier auch unsere Kritik ansetzen und Konsequenzen für unsere Sozialismuskonzeption bringen. Der reale Sozialismus in Europa ist nicht nur an mangelhafter Entfaltung sozialistischer Demokratie, an mangelnder Überzeugungsarbeit und mangelnder Einbeziehung der Menschen gescheitert, sondern auch daran, daß wir Kommunisten nicht klar genug erkannt haben, daß der Sozialismus auch einen neuen, sozialistischen Typ der Produktivkraftentwicklung braucht. Wie die Ausbildung eines solchen neuen Typs unter den Bedingungen der Systemkonkurrenz vor sich gehen kann, ist eine Frage, die noch näher zu untersuchen wäre.

4. In dem Maße, in dem offensichtlich wird, daß die globalen Probleme innerhalb des kapitalistischen Systems nicht lösbar sind, können die globalen und Menschheitsfragen zu einem neuen Zugang für viele Menschen zum revolutionären Kampf um den Übergang zum Sozialismus werden.

Hamburg, den 11.07.1994

 

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1K.Marx, Vorwort zur Kritik der Politischen Ökonomie, MEW 13, S.8

2ebenda

3ebenda

4K.Marx, F.Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, S.465

5F.Engels, Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, MEW 19, S.219f

6ebenda

7F.Engels, Anti-Dühring, MEW 20, S.263

8siehe: Lenin, Staat und Revolution, Berlin 1948, S.101

9K.Marx, Das Kapital - 1.Band, MEW 23, S.414

10K.Marx, Das Kapital - 3.Band, MEW 25, S.271ff

11Die Bedingungen, die der reale Sozialismus für die Entwicklung der Produktivkräfte bot, umfassend zu untersuchen, scheint mir eine der wichtigsten Aufgaben für marxistische Ökonomen und Historiker, um die Lehren des sozialistischen Anlaufes 1917-89 in der notwendigen Schärfe ziehen zu können.

12"Bundesrepublik Deutschland 2000" - überarbeiteter Entwurf, verabschiedet von der 3.PV-Tagung der DKP am 17./18.3.1989, S.1

13ebenda, S.23

14aus: A.Knolle-Grothusen, Brief an den Bundesvorstand des MSB Spartakus, Februar 1988