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  KOMMUNISTISCHE STREITPUNKTE - Zirkularblätter - Nr. 5 - 10.02.2000 - Onlineversion

Werner Imhof

Skizzen eines emanzipatorischen Kommunismus


Alles gesellschaftliche Leben ist wesentlich praktisch.

Alle Mysterien, welche die Theorie zum Mystizismus

veranlassen, finden ihre rationelle Lösung in der

menschlichen Praxis und im Begreifen dieser Praxis.

(Marx, 8.These über Feuerbach)


(Der folgende Text basiert auf einem Vortrag vom 26.2.99 im Demokratischen Presseclub in Berlin, dessen damals nur angerissene Gedanken ich hier ausführlicher zu entwickeln suche. Den – nicht von mir gewählten – Titel des Vortrags habe ich beibehalten, weil er Anlaß zu einigen methodischen Klarstellungen gab und gibt.)


Eingrenzung des Themas


Der Titel, unter dem der Vortrag angekündigt wurde, ist geeignet, Erwartungen zu wecken, die ich von vornherein enttäu­schen möchte: Mein Thema ist nicht "der Kommunismus" oder "die kommunistische Gesellschaft", schon gar nicht nach dem Motto "Wir malen uns ein Bild vom Kommunismus" im Sinne eines erdachten oder erwünschten Gesell­schaftssystems oder -modells. Was ich skizzieren möchte, ist vielmehr eine Kapital(ismus)kritik, die überhaupt erst (wieder) den Blick freimacht auf die mögliche Praxis oder praktische Möglichkeit einer kommunistischen, d.h. direkt gesellschaftli­chen Produktionsweise als Selbstorganisation der gesellschaftlichen Arbeit durch die (wie auch immer) "assoziierten Pro­duzenten" (auf Basis ihrer gemeinsamen Herrschaft über die Produktionsmittel, -zwecke und -folgen). Die Betonung liegt dabei auf beidem, auf der Praxis wie auf der Möglichkeit.


Im gewöhnlichen, auch im gewöhnlichen linken, Sprachgebrauch steht die Abstraktion "Gesellschaft" für eine anonyme Macht, die dem Einfluß der Individuen entrückt und kaum durchschaubaren Eigengesetzen unterworfen scheint. Tatsäch­lich ist aber auch die bestehende "Gesellschaft" nur Menschenwerk und nichts anderes als die Gesamtheit der Beziehungen, die die Individuen als tätige Subjekte miteinander eingehen und unterhalten. Ihre fundamentale Praxis ist die gesellschaftliche Arbeit; und die Art und Weise, wie sie ihre materielle Reproduktion organisieren, wie sie mit ihrer gesellschaftlichen Arbeitskraft und deren Produkten umgehen, ist die "letztlich entscheidende" Basis ihrer geschichtlichen Entwicklung. Die Menschen machen ihre Geschichte selbst – allerdings unter Verhältnissen, die sie (noch) nicht beherr­schen. Aber auch diese Verhältnisse sind Resultat ihrer eigenen vergangenen und gegenwärtigen Praxis. Auch die herr­schenden Produktions- und Klassenverhältnisse existieren nur dadurch, daß sie durch die gesellschaftliche Praxis der Herr­schenden wie der Beherrschten laufend reproduziert (und modifiziert) werden, in erster Linie durch die kapitalistische Pro­duktionsweise selbst. Und wenn ihnen die geldgetriebene "Marktwirtschaft" auch als einzig denkbare, jedenfalls alternativlos "moderne" Wirtschaftsweise erscheint, als Ausdruck rationeller Sachverhalte und -zwänge, so ist sie doch nur eine bestimmte gesellschaftliche Manier, die materielle Reproduktion zu organisieren, und zwar eine bornierte und irrationale, die sich selbst ad absurdum führt und die Bedingungen ihrer eigenen Negation hervorbringt.


Eben deshalb sollte sie auch als anachronistische gesellschaftliche Praxis begreifbar sein. Jedenfalls für die, die direkt oder indirekt unter oder an ihr leiden, die von den bornierten Zwecken und verrückten Zwängen dieser Produktionsweise ernied­rigt und unterdrückt werden und daher ein Interesse entwickeln könnten, sie zu überwinden. Andererseits muß ein solches Interesse hilflos, abstrakt, utopisch oder eben reformistisch bleiben, wenn es nicht auf dem kritischen Verständnis der herr­schenden Praxis basiert (die der Beherrschten eingeschlossen). Erst wenn die Menschen die verdinglichten Verhältnisse – Markt, Geld, Kapital usw. – als Formen und Resultate bestimmter gesellschaftlicher Praxis begreifen, an der sie selbst auf verschiedene Weise beteiligt sind – erst dann können sie, behaupte ich, eine praktische Vorstellung davon gewinnen, daß und wie diese Verhältnisse zu ändern wären, daß und wie die kapitalistische Produktionsweise durch eine kommunistische zu ersetzen wäre.


Worum es mir also geht, ist ein Verständnis der herrschenden Produktionsweise, das das Verständnis ihrer möglichen Auf­hebung durch eine kommunistische Produktionsweise ohne Markt-, Geld- und Kapitalbeziehungen als Basis einer emanzi­pierten und emanzipatorischen Gesellschaft einschließt. Möglich in zweifacher Hinsicht: einmal im Sinne ihrer Realisier­barkeit oder Praktikabilität; zum andern im Sinne einer bloßen Option der Geschichte, deren Realisierung kein "vom Wil­len der Menschen unabhängiges Gesetz" ist, sondern nur das gewollte und bejahte Werk der bisher Lohnabhängigen selbst sein kann – entsprechend dem Motto der "Internationale": "Uns aus dem Elend zu erlösen, das können wir nur (bzw. das müssen wir schon) selber tun." Ob sie es auch wollen werden, steht auf einem anderen Blatt. Die Einsicht in die mögliche Praxis kommunistischer Produktion ist nicht notwendig identisch mit dem Interesse, sie auch zu verwirklichen. Aber sie ist seine Voraussetzung, die es überhaupt erst (wieder) zugänglich zu machen gilt.


Dem steht übrigens auch der überkommene Begriff "Kommunismus" selbst im Wege. Er war einmal gleichbedeutend mit Theorie, Praxis und Ziel proletarischen Emanzipationsstrebens in einem. Im Laufe der Geschichte ist er zum Inbegriff des Gegenteils geworden, zum Synonym verlogener bürokratischer Herrschaft über die Gesellschaft und die gesellschaftliche Arbeit. Und diese Bedeutung wird er im Massenbewußtsein auch solange behalten, solange er nicht mit einer erkennbaren anderen Praxis verbunden werden kann. Da hilft es auch nichts, ihm das Attribut "emanzipatorisch" voranzustellen, wie im Titel geschehen und wie ich es vor kurzem selbst noch getan habe. Auch ein "emanzipatorischer Kommunismus" reprodu­ziert noch einen Sprachge­brauch, in dem "der Kommunismus" (resp. "der Sozialismus") als ein mit Eigenleben begabtes (und nicht nur grammati­sches) Subjekt erscheint, das der Subjektivität und Praxis der Menschen entrückt und übergeordnet ist. Die Stalinisten (gleich welcher Spielart) hatten einen solchen Sprachgebrauch nötig, um die politbürokratische Herr­schaft über die Gesell­schaft, "sozialistisches System" genannt, im Namen angeblich "objektiver Klasseninteressen" (ein Widerspruch in sich) und "Gesetzmäßigkeiten" zu legitimieren. Ich halte es deshalb für angebracht, den Begriff "Kommu­nismus" bis auf weiteres fallenzulassen und statt dessen direkt von der emanzipatorischen und emanzipierten gesellschaftli­chen Praxis zu reden, die damit gemeint sein sollte. Und da die Vorstellung davon nur dem kritischen Verständnis der heu­tigen Praxis gesellschaftli­cher Reproduktion entspringen kann, wäre mein Thema eigentlich treffender umschrieben als "Skizzen (zu) einer eman­zipatorischen Kapital(ismus)kritik". Skizzen deshalb, weil es sich um kein fertiges Gedanken­gebäude handelt, sondern um unfertige Gedanken und Denkanstöße, die vor allem erst mal die Richtung aufzeigen sollen, in die eine solche Kritik zu entwickeln wäre.


Die gesellschaftliche Arbeit oder die alltägliche Entfremdung


Es ist eine scheinbar banale Tatsache, daß die materielle (und kulturelle) Reproduktion der heutigen Gesellschaft auf einer höchst entwickelten gesellschaftlichen Arbeitsteilung beruht, auf gesellschaftlicher Arbeit also, die nicht (oder nur margi­nal) der produktiven und individuellen Konsumtion der jeweiligen Produzenten dient, sondern "fremde", eben gesellschaft­liche Zwecke und Bedürfnisse erfüllt. Zwar ist die individuelle bzw. familiäre "Privatarbeit" für den Eigenbedarf immer noch ihre notwendige Bedingung und Ergänzung; doch es ist die Entwicklung der gesellschaftlichen Arbeit, die den mate­riellen Reichtum der Gesellschaft, den Umfang und das Niveau ihrer Reproduktion bestimmt. (Im Grunde ist die "Privat­arbeit" nur eine besondere Form gesellschaftlicher Arbeit, weil die Menschen auch in ihrer "Privat­sphäre" schließlich ge­sellschaftliche Individuen bleiben, ihre "private" Arbeit immer auch gesellschaftliche Funktion hat, mit gesellschaftlich produzierten Arbeitsmitteln verrichtet wird usw.)


Der gesellschaftliche Charakter oder Zusammenhang der Arbeit ist eine ebenso alltägliche wie unverstandene und unre­flektierte Erfahrung, nicht nur für den sog. Normalverstand, sondern auch in den gängigen Versionen "linker" Kapitalismuskri­tik. Dabei ist die kapitalistische Produktionsweise überhaupt nur vom Standpunkt der gesellschaftlichen Arbeit aus zu ver­stehen und sinnvoll zu negieren, eben als eine bestimmte historische Art und Weise, die gesellschaftliche Arbeit zu organi­sieren.


Nach Auffassung der traditionellen sozialistischen bzw. kommunistischen Bewegung ist sie charakterisiert durch die Mo­nopolisierung der Produktionsmittel in den Händen einer minoritären Klasse von Kapitalisten (und Grundbesitzern) einer­seits und die Trennung der Arbeiter von den Produktionsmitteln andererseits, was sie zu Proletariern macht und sie zwingt, vom Verkauf ihrer Arbeitskraft zu leben und mit ihrer Arbeit den Reichtum der Kapitalisten (und der Grundbesitzer) zu vermehren. Diese Charakterisierung hat eine entscheidende Schwäche: Sie ist in fataler Weise unvollständig, weil sie die Herrschaft über Menschen allein aus der Herr­schaft über Sachen erklärt, das kapitalistische Kommando über die gesell­schaftliche Arbeit allein aus der Verfügungsmacht über die Produktionsmittel. Wäre sie richtig und hinreichend, die kapi­talistische Produktionsweise zu verstehen, müßte rätselhaft bleiben, warum derart durchsichtige, fadenscheinige Produkti­onsverhältnisse sich überhaupt weltweit durchsetzen konnten und weiterhin durchsetzen, warum die ProletarierInnen ihnen nicht längst ein Ende gesetzt haben, sondern im Gegenteil dafür kämpfen, ihnen unterworfen zu bleiben oder sich ihnen unterwerfen zu können.


Die traditionellen "linken" Erklärungsversuche für die ungebrochene Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise sind ebenso zahlreich wie hilflos: angefangen von der Staatsmacht, die alle revolutionären Bewegungen mit Gewalt und notfalls mit faschistischem Terror unterdrückt, über die bürgerliche Ideologieproduktion, die die Hirne der Massen vernebelt und manipuliert, die Klassenbefriedung durch Sozialstaat und kompensatorischen Konsum, bis hin zum Opportunismus, Kapi­tulantentum und Verrat in den Reihen der Arbeiterbewegung selbst. All diese Behelfserklärungen enthalten ein mehr oder weniger großes Stück historischer Wahrheit. Aber sie versagen vor der Frage, was diese Mächte und Einflüsse derart wirk­sam machte, daß in allen Ländern mit entwickelter kapitalistischer Produktion das Privateigentum an den Produktionsmit­teln von den Lohnabhängigen nicht mehr ernsthaft in Frage gestellt wird und die einst so populäre "sozialistische Idee" keine nennenswerte soziale Basis mehr findet. Die Erklärung liegt in der kapitalistischen Produktionsweise selbst und in der erwiesene­nermaßen untauglichen Art und Weise, wie Sozialisten und Kommunisten meinten, sie kritisieren zu müssen und überwin­den zu können.


Was im Kapitalismus-Bild der sozialistischen bzw. kommunistischen Bewegung weitestgehend unter-, wenn nicht gänzlich unbelichtet war, ist der zwiespältige Charakter des Privateigentums und die "eigentümliche" Form, die die gesellschaftliche Arbeit unter seiner Herrschaft annimmt. Privateigentum an Produktionsmitteln ist nämlich nicht nur Verfügungsgewalt über sie (bzw. der juristische Ausdruck davon), Herrschaft über Sachen, sondern immer zugleich ihr Gegenteil: Beherr­schung durch Sachen, Beherrschung der Privateigentümer (seien sie Privatkapitalisten, Aktiengesellschaften oder Beleg­schaften "selbstverwalteter" Betriebe) durch ihre Produkte. Denn das Privateigentum an Produktionsmitteln trennt nicht nur Eigentümer von Nichteigentümern, sondern auch – und wichtiger noch – die Privateigentümer bzw. -produzenten vonein­ander; es ist gerade Ausdruck ihrer Getrenntheit. Privateigentum an Produktionsmitteln heißt nichts anderes, als daß gesell­schaft­liche Arbeit unter vordergründig "unabhängigen" Teilproduzenten aufgeteilt ist, die tatsächlich voneinander abhängig sind. Dies ist die wesentliche Bestimmung des Privateigentums als einem sozialen Verhältnis und nicht die Bestimmung durch sein Gegenteil, das Nicht-Eigentum. Sie bleibt auch fundamental für das kapitalistische Eigentum, für die Spaltung der Gesellschaft in Kapitalisten und Proletarier. Der grundlegende oder allgemeinste Widerspruch der kapitalistischen Pro­duk­tionsweise (den sie mit der vorkapitalistischen Warenproduktion teilt) besteht also darin, daß die gesellschaftliche Ar­beit in der Form "unabhängiger Privatarbeiten" "organisiert" ist. Dieser Widerspruch bedeutet nun nicht nur, daß die Men­schen ihre gesellschaftliche Arbeit nicht beherrschen (können), daß diese Produktionsweise (bei aller "unternehmerischen" Pla­nung und staatlichen "Steuerung") anarchischen und (bei aller Effizienz) verschwenderischen Charakter behält und Krisen erzeugt. Entscheidend ist vielmehr die verfremdete Form, in der der Widerspruch erscheint, die ihn unkenntlich macht und eben dadurch die Menschen beherrscht; eine Form, die zudem höchst paradoxe Wirkungen nach sich zieht, seit die Pri­vatarbeit auf der Unterordnung und Anwendung fremder Arbeitskraft beruht, also kapitalistische Produktion ist.


Der Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Arbeit und trennendem Privateigentum wird dadurch verdeckt, daß die ge­sellschaftliche Arbeit als etwas von ihr selbst Verschiedenes in Erscheinung tritt, als Werteigenschaft der Arbeitsprodukte, die sich in ihrem Geldnamen, im Preis, ausdrückt und sich in Geld verwandeln – und als Kapital bewähren – muß, ehe die Produkte in die (produktive oder individuelle) Konsumtion eingehen können. Und diese verselbständigte Form ist es, die ebenso verselbständigte, scheinbar sachliche Zwänge her­vorbringt, welche die Beziehungen der Marktsubjekte, somit auch die zwischen Käufern und Verkäufern der Arbeits­kraft, be­herrschen und die durchaus unabhängig sind vom Willen derer, die sie exekutieren. Daß aber die Wertform der gesell­schaftlichen Arbeit und die Zwänge, die ihr entspringen, dem gesell­schaftlichen Charakter der Arbeit selbst Hohn sprechen, während sie ihn gleichzeitig verstärken, daß sie die gesellschaftli­che Arbeit in feindliche Gegensätze zerreißen, in nur quantitativ zählende Arbeit an sich und qualitativ-besondere Arbeit, in aufgehäufte und flüssige, vergangene und gegenwärtige Arbeit, in Mehr­arbeit und notwen­dige Arbeit – all das ist ihnen auf den ersten Blick nicht anzusehen.


Das heißt, die Herrschaft von Menschen über Menschen erscheint eben nicht als bloße Folge ihrer Herrschaft über Sachen, sondern als etwas, was sie unter den Bedingungen des trennenden Privateigentums auch ist, als Vollzug versachlichter Zwänge, wie brutal, deprimierend oder verhaßt sie auch sein mögen. Und das um so mehr, je weniger sie durch das per­sönliche Regime (den "Herr-im-Haus-Standpunkt") der kapitalistischen Eigentümer oder ihrer Funktionäre verdeckt wer­den. Denn diese Zwänge sind nicht an die "Charaktermasken" der Privatkapitalisten oder der Kapitalmanager gebunden, auch wenn sie immer noch von ihnen vollstreckt und beeinflußt werden. Selbst wenn alle Betriebe "in Arbeiterhand" wären, das Pri­vateigentum an Produktionsmitteln also in einer Richtung – als Trennung in Besitzende und Besitzlose – aufgehoben wäre, bliebe mit der Wertform der Produkte auch ihre Kapitalform erhalten, würde sich die Arbeit in bezahlte und unbezahlte, in notwendige Arbeit zur Reproduktion der Belegschaften und in Mehrarbeit zur erweiterten Reproduktion der Produktions­mittel teilen und der Zwang zur Ausdehnung letzterer auf Kosten ersterer die Produktion beherrschen, solange das Privat­eigentum nicht auch in der anderen Richtung – als Trennung der Produzenten (die immer zugleich produktive und indivi­duelle Konsumenten sind) voneinander – aufgehoben wäre, solange die Markt- und Geldbeziehungen zwischen ihnen nicht durch andere Beziehungen ersetzt würden. Kurz: Die Aufhebung der kapitalistischen Produktions­weise ist nur möglich als Aufhebung der Warenproduktion überhaupt und damit auch des Geldes.


Gegen diese Vorstellung sträubt sich allerdings der sog. "gesunde" Menschenverstand ebenso wie der akademische. Die Warenproduktion hat das Geld hervorgebracht und mit ihr die Vorstellung, es sei das Geld, das die Warenproduktion bedinge und unverzichtbar mache. Und gerade darin liegt die ideologische Macht der kapitalistischen Produktionsweise begründet. Markt- und Geldbeziehungen gelten längst als Naturform menschlicher Beziehungen in der gesellschaftlichen Reproduktion. Schließlich sind sie keine Erfindung des Kapitalismus, er hat sie vielmehr vorgefunden; und er konnte und kann überhaupt nur Fuß fassen, wo sie bereits ein bestimmtes Entwicklungsniveau erreicht haben. Auch die Lohnabhängigen selbst lernen von Kindesbeinen an, in Preisen und Kosten zu denken, bevor sie als selbständige Marktsubjekte ihre Arbeitskraft verkaufen, um sich mit ihrem Lohn oder Gehalt Produkte fremder Arbeit aneignen zu können. Daß sie den kapitalistischen Unternehmern und Managern die Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel entreißen könnten, ist für sie eine immerhin noch nachvollziehbare Vor­stellung. Aber daß sie dann ihre Beziehungen untereinander ohne Kostenrechnung in Geld, ohne Einkauf und Verkauf und ohne betriebliche Gewinn- und Verlustrechnung abwickeln könnten, das würden sie sicher (zunächst) als spinnerte Idee abtun, realisierbar allenfalls in einer zentralistischen Plan- und Zuteilungswirtschaft, die sich aber mit dem Bankrott des einstigen "Realsozialismus" historisch erledigt hat. Und selbst der kam nicht ohne Markt und Geld aus, ohne jedoch mit ihnen auch nur annähernd so erfolgreich umgehen zu können wie die westlichen "Systemkonkurrenten". In und nach der Novemberrevolution herrschte in der Arbeiterbewegung noch die Vorstellung, es sei Aufgabe der Regierung bzw. des Staates, die von den Arbeitern kontrollierten Betriebe im Interesse des Allgemeinwohls zusammenzufassen und zu koordi­nieren, zu "sozialisieren". Spätestens nachdem der "Sozialismus" als staatliche Veranstaltung sich als katastrophale Sack­gasse erwiesen hat, hat sich diese Illusion weitgehend verflüchtigt; wenn auch oft nur, weil sie eine "ideale Regierung" voraus­setzt, die man keiner Partei mehr zutraut ("Politik" ist halt "ein schmutziges Geschäft" und "verdirbt den Charakter").


Verstärkt hat sich dagegen die Erfahrung, daß die Kapitalisten und ihre Funktionäre keineswegs nur selbstherrliche Kom­mandeure über die Produktionsmittel und die Arbeit sind, sondern selbst beherrscht und getrieben werden von den handfesten Zwängen "des Marktes" und der Konkurrenz. Gerade die Zivilisierung des Kapitalverhältnisses durch Arbeitsrecht, Mitbestimmung und Betriebsverfassung hat hier neben der medialen Dauerpräsenz internationaler Wirtschaftsprobleme das Bewußtsein der Lohnabhängigen nachhaltig geprägt. Wenn der "Sozialismus" (und einen anderen als den verblichenen Staatssozialismus kennen sie schließlich nicht) ein historischer Irrweg war und die "Marktwirtschaft" trotz aller Gebrechen und Schattenseiten offenbar die einzig "effektive" Form des Wirtschaftens ist – warum sollten sie dann noch den Unterneh­mern und Managern die Verfügung über die Produktionsmittel streitig machen? Was sollte sie zu der Überzeugung oder auch nur zu der Annahme veranlassen, daß sie die Gesetze und Zwänge "des Marktes" besser beherrschen? ("Seien wir doch ehrlich: Was würden wir an deren Stelle denn viel anders machen können?") Und sind sie mit den herrschenden Verhältnis­sen im historischen und internationalen Vergleich nicht noch relativ gut gefahren – bei aller Kritik an der "ungerechten" Verteilung von Arbeit und Einkommen, an "überzogener" Profitmacherei, "Mißmanagement" und anderen Begleiterschei­nungen, die im übrigen "anderswo noch schlimmer" sind?...


Ich halte nichts davon, über das pragmatische Arrangement der Lohnabhängigen mit den bestehenden Eigentums- oder Herrschaftsverhältnissen die Nase zu rümpfen; am allerwenigsten dann, wenn die Nase Leuten gehört, die die kapitalisti­sche Produktionsweise nur moralisch verurteilen oder abstrakt negieren, aber nicht angeben können, wie die gesellschaftli­che Reproduktion jenseits von Staat und Markt praktisch zu regeln wäre. Die Bourgeoisie beherrscht die Gesellschaft durch ihre unbestrittene Hegemonie, die sie zum einen ihrer ungebrochenen Fähigkeit verdankt, die Produktivität der gesell­schaftlichen Arbeit zu entwickeln, und dem Zugeständnis, die Lohnabhängigen daran teilhaben zu lassen, statt sie allein zur Steigerung der Mehrarbeit auszunutzen, zum andern der scheinbaren Naturgegebenheit von Markt und Geld und damit auch des Kapitals. Und diese Hegemonie wird nur zu erschüttern sein, wenn ihre beiden Säulen morsch werden. Was die erste an­geht, so hat die Bour­geoisie bereits selbst begonnen, Hand an sie zu legen, und zumindest ihre glänzende Oberflä­che be­schädigt. Aber dies allein kann bei den Lohnabhängigen kein progressives Aneignungsinteresse wecken (eher ein reaktionä­res Ausschlie­ßungsinteresse gegenüber Ausländern, Arbeitslosen, Kranken und Alten). Das kann nur entstehen, wenn sie erkennen, was sie selbst tatsächlich "anders und besser machen" könnten als die Ritter der "Marktwirtschaft", nämlich die gesellschaftli­che Arbeit auch gesellschaftlich zu organisieren, indem sie die Markt- und Geldbeziehungen zwischen den allseits abhän­gigen Teilproduzenten durch direkte und selbstbewußte kooperative Beziehungen ersetzten und so das Privateigen­tum an den Produktionsmitteln vollständig aufhöben. Was die Kapitalisten zur Klasse vereint, ist die Aufrechterhaltung dessen, was sie voneinander und von den Lohnabhängigen trennt, des Privateigentums. Die Lohnabhän­gigen können sich über­haupt nur zur Klasse vereinigen durch doppelte Negation des trennenden Privateigentums, durch das Interesse, sich nicht nur der Produktionsmittel zu bemächtigen, sondern des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses in seiner Totalität (und das heißt notwendig: auch im internationalen Maßstab).


An dieser Stelle wird sich wahrscheinlich manche/r zurücklehnen und einwenden: "Alles schön und gut. Aber das wird Utopie bleiben. Der Waren- und Geldfetisch wird die Menschen immer beherrschen. Die Geschichte hat bewiesen, daß der Marxismus ihm nichts anhaben konnte. Und schau dir doch die Leute an – ein Volk von Lottospielern und Egoisten, die gar nicht fähig sind, ein Interesse an ihrer gesellschaftlichen Arbeit zu entwickeln..." Ich halte das für eine Ausrede, für einen Versuch, die eigene gedankliche Bequemlichkeit oder Unfähigkeit dadurch zu verbergen, daß man sie anderen in die Schuhe schiebt. Wenn es möglich ist (und es ist möglich), die gesellschaftliche Arbeit gegen den Strich ihrer widerbor­stigen Erscheinungsformen der konkreten Erfahrung zugänglich zu machen, dann muß es auch getan werden, selbst wenn es zunächst als Sisy­phusarbeit erscheint. Und ich meine, es gibt gute Gründe anzunehmen, daß sie es nicht sein wird. Einige davon liegen in der Geschichte der bisherigen sozialistischen bzw. kommunistischen Bewegung selbst.


Marx' Kritik der politischen Ökonomie und die Ohnmacht des "wissenschaftlichen" Sozialismus


Die ideologische Macht der kapitalistischen Produktionsweise hat sich in der Tat als stärker erwiesen als der (sozialdemokratische und kommunistische) Marxismus. Aber warum? Weil er sie entweder nicht wahrgenommen hat, oder sofern er sie wahrnahm, ihr mit letztlich untauglichen Mitteln beizukommen suchte. Die Herrschaft der "bürgerlichen Ideologie" wurde gewöhnlich verstanden als direkter Ausfluß der bürgerlichen Herrschaft über die sachli­chen Produktionsbedingungen (Druckereien, Verlage, Papier) und als Produkt der bürgerlichen Intelligenz. Theoretiker wie Kautsky (und Lenin) waren sich immerhin noch ihrer "spontanen" Wirksamkeit bewußt (wenn auch Lenin sie nur ihrem Alter und ihrer Verbreitung zuschrieb). Doch die Schlußfolgerung, die Kautsky daraus zog, war die, daß "das moderne sozialistische Bewußtsein", das "Bewußt­sein der Möglichkeit und Notwendigkeit des Sozialismus", "nur erstehen kann auf Grund tiefer wissenschaftlicher Einsicht" (Hervorhebung von mir). In diesem Satz (1902 geschrieben) ist das ganze Dilemma des sozialdemokratischen wie kommu­nistischen Marxismus und seine spätere Entwicklung im Keim enthalten. Denn was damit gemeint war, war die auf den Kopf gestellte Methode der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie.


Der "wissenschaftliche" Sozialismus war für Kautsky wie jede andere Wissenschaft Sache intellektueller Experten (wie Marx, Engels und er selbst), die das theoretische Verständnis der gesellschaftlichen Entwicklung herausarbeiten, es über "geistig hervorragende Proletarier" in den Klassenkampf "hineintragen" und so die Arbeiterklasse "mit dem Bewußtsein ihrer Lage und Aufgabe erfüllen". Resultat dieser Wissenstransplantation war die Entstehung der Sozialdemokratie als "Vereinigung von Sozialismus und Arbeiterbewegung", als Organ und Hebel zur weiteren Verbreitung des Sozialismus. Tatsächlich war die so verstandene "Vereinigung" eine Verbindung sehr ungleicher Elemente. Das "moderne sozialistische Bewußtsein" war, da an "tiefe wissenschaftliche Einsicht" gebunden, in originärer Form nur der intellektuellen Elite zu­gänglich. Die Weiterentwicklung, Vertiefung und Verteidigung der Theorie war ihre Domäne, ihr Privileg oder ihre Last. Die breite Mitgliedschaft blieb mehr oder weniger kritische Empfängerin dieser Theorie, die sie in der Regel nur in verkürzter, verein­fachter, popularisierter Form aufnehmen konnte. Ihr sozialistisches Bewußtsein blieb ein Bewußtsein zweiter Hand, ein "verliehenes" Bewußtsein, immer angewiesen auf Führung und Orientierung durch die theoretischen Autoritäten. Der Zen­tralismus als Organisationsprinzip war (wenn auch formell immer demokratisch legitimiert) notwendiger Ausdruck dieser Unselbständigkeit (wie denn Zentralismus immer Ausdruck oder auch Ursache rückständiger, unreifer Verhältnisse ist). Der "wissenschaftliche" Sozialismus im Sinne Kautskys war keine Theorie, die dazu geeignet war, "die Massen zu ergreifen" oder richtiger: von ihnen ergriffen zu werden. Er war eine Theorie, die die Massen nur anziehen, als Anhänger und Gefolgschaft unter der Fahne der Sozialdemokratie sammeln konnte und sollte (was sie zeitweilig ja auch relativ erfolgreich tat). Ihr entscheidender Mangel bestand gerade darin, daß sie eine Wissenschaft wie jede andere sein sollte.


Jede Wissenschaft hat ihren Grund in der Differenz von Erscheinung und Wesen ihres Gegenstands. Jede Wissenschaft geht aus von sinnlich-praktischen Erfahrungen, aus denen sie per Abstraktion allgemeine Aussagen über ihren inneren Zusammenhang, ihre Bewegungsgesetze usw. gewinnt, um mit deren Hilfe zu einem tieferen Verständnis der Erfahrungen zu gelangen. Die konkrete Erfahrung oder Praxis ist Ausgangspunkt und Ziel des Denkens. Nicht anders beim Sozialismus, wenn er denn Wissenschaft sein soll. Doch sein Gegenstand ist ein besonderer "Stoff", der auch eine Besonderheit in der Methode verlangt. Sein Gegenstand ist die bürgerliche Gesellschaft, ihre Praxis, insbesondere ihre materielle Reproduktion. Der Sozialismus hatte das Nachdenken über die kapitalistische Produktionsweise jedoch nicht erfunden. Er mußte von der vorgefundenen Wissenschaft ausgehen, d.h. von der klassischen bürgerlichen Ökonomie oder der politischen Ökonomie, wie sie genannt wurde. Deren Abstraktionen, Kategorien und Begriffe aber waren die mit der kapitalischen Produktionsweise selbst entstandenen. Es waren "gesellschaftlich gültige, also objektive Gedankenformen" (Marx), wie Ware, Wert, Preis, Kapital, Profit, Lohn, Grundrente usw., die der Praxis der Kapitalisten entsprungen und ihr angemessen waren. Für deren wissenschaftliche Durchdringung aber waren sie Hindernisse, weil sie die Beziehungen der gesellschaftlichen Individuen und Klassen als Eigenschaften und Verhältnisse von Dingen widerspiegeln. Die politische Ökonomie konnte diesen "gegenständlichen Schein" (Marx) nicht auflösen. Sie hatte zwar die Bestimmung der Wertgröße durch die Arbeit(szeit) und den Gegensatz von Lohn und Profit entdeckt. Aber sie verstand die Wertform ebenso wie das Geld und das Kapital als Naturgegebenheiten, ohne ihre historische Bedingtheit, ihren inneren Zusammenhang und ihre Entwicklungstendenzen zu begreifen.


Erst die Methode, die Marx in die politische Ökonomie einführte, brachte Licht ins Dunkel; sie bedeutete die methodische Vollendung der politischen Ökonomie und ihre Überwindung zugleich. Formuliert hatte Marx sie schon 1845 in den "Thesen über Feuerbach". Seine Kritik der politischen Ökonomie in den "Grundrissen" und im "Kapital" war ihre Anwendung auf die Erforschung der Produktionsweise der bürgerlichen Gesellschaft. Allgemein gesagt, besteht sie darin, 1. die gesellschaftliche Wirklichkeit wesentlich als bestimmte Form menschlicher Praxis und diese selbst als "gegenständliche Tätigkeit" (Marx) zu begreifen, die die sachlichen Bedingungen und Verhältnisse, unter denen sie stattfindet, auch selbst hervorbringt, reproduziert, modifiziert und umwälzt; und 2. das Bewußtsein oder Nachdenken über die gesellschaftliche Wirklichkeit nicht als Tätigkeit des bloß anschauenden Geistes, als "subjektive" oder "ideelle" Widerspiegelung der "objektiven" oder "materiellen Außenwelt" zu begreifen, sondern als Produkt und Teil der materiellen Welt, nämlich der menschlichen Praxis selbst, weshalb sein Wahrheitsgehalt sich auch nur in der Praxis beweisen kann, das Denken also selbst praktisch werden muß. Das ist keineswegs so banal, wie es klingen mag. Angewandt auf die politische Ökonomie, hatte (und hat) diese Methode höchst revolutionäre Konsequenzen.


Zunächst mal gelang Marx damit eine "Entdeckung", um die "der Menschengeist seit mehr als 2000 Jahren vergeblich" gerungen hatte: daß nämlich die Wertform der Arbeitsprodukte nichts anderes ausdrückt, als daß die "unabhängigen" Privatproduzenten ihre verschiedenen Arbeiten im Austausch der Produkte auf gleiche menschliche Arbeit reduzieren, um sie quantifizierbar zu machen, und sich so als Glieder einer gesellschaftlichen Gesamtarbeit be(s)tätigen. "Sie wissen das nicht, aber sie tun es." (Marx) Der Wert ist nur das umständliche und "verrückte" Gedankenprodukt einer ebenso umständlichen und "verrückten", aber unter der Bedingung des Privateigentums notwendigen Manier, die auf ein Produkt verwandte Arbeit als Teil der gesellschaftlichen Gesamtarbeit auszudrücken. Und so ist es mit allen Kategorien der bürgerlichen Ökonomie. Sie alle sind gedankliche Produkte praktischer Beziehungen zu bestimmten verdinglichten und verselbständigten Formen und Teilen der gesellschaftlichen Arbeit, Gedankenprodukte einer Praxis, die ihre Akteure nicht beherrschen, sondern von der sie wie von einer "blinden Macht" (Marx) beherrscht werden. Ausgehend von der entschlüsselten Wertform der Arbeitsprodukte, verfolgte Marx dann die Entwicklung dieser verselbständigten Form der gesellschaftlichen Arbeit über die Geldform zur Kapitalform, sodann deren widersprüchliche Bewegungen und Metamorphosen bis hin zum "Gesamtprozeß der kapitalistischen Produktion", wobei er alle Kategorien der bürgerlichen Ökonomie (die er selbst noch präzisierte und vervollständigte) auf ihr materielles Substrat, die sich selbst entfremdete gesellschaftliche Arbeit, zurückführte und mit den daraus abstrahierten eigenen Kategorien kontrastierte. Aus der politischen Ökonomie wurde so ihre eigene Kritik.


Das Ergebnis dieser Methode war eine Analyse der kapitalistischen Produktionsweise, die "im positiven Verständnis des Bestehenden zugleich auch das Verständnis seiner Negation einschließt" (Marx), aber nicht als abstrakte oder voluntaristische Verneinung, sondern als Aufhebung durch eine Praxis, die die kapitalistische Produktion selbst vorbereitet. Die Quintessenz der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie besteht gerade darin, daß die vermeintlich souverän Herrschenden selbst von Zwängen beherrscht, von Gesetzen regiert werden, die sich um so mehr gegen das Privateigentum als Basis ihrer Herrschaft kehren, je konsequenter und erfolgreicher sie sie befolgen. Es sind die aus dem Privateigentum resultierenden Zwangsgesetze der kapitalistischen Produktion selbst, die den gesellschaftlichen Zusammenhang der Arbeit verstärken und intensivieren und damit die Wertform der Arbeitsprodukte zunehmend hinfällig werden lassen, die die abgesonderte Geldform des gesellschaftlichen Reichtums in einen Krisenfaktor verwandeln, weil sie die "Verschlingung von Produktion und Zirkulation" (Marx) periodisch stört, und die die Kapitalform der Produktions- und Lebensmittel zur Ursache von Produktions- und Konsumtionsblockaden machen, weil ihr Maßstab, die Profitrate, den gesellschaftlichen Reichtum nur als Ballast des privaten "Erfolges" registriert. Und allein diese Paradoxien und Absurditäten sind es, die die kapitalistische Produktionsweise als endliche kennzeichnen, weil nur in ihnen (und nicht im materiellen und psychischen Elend, das sie begleitet) die materiellen Bedingungen einer Produktionsweise sinnfällig werden, in der die gesellschaftliche Arbeit die Tätigkeit "frei vergesellschafteter Menschen" sein kann, "die mit gemeinschaftlichen Produktionsmitteln arbeiten und ihre vielen individuellen Arbeitskräfte selbstbewußt als eine gesellschaftliche Arbeitskraft verausgaben" (Marx). Diese freie Vergesellschaftung oder "Assoziation" der Produzenten aber ist alles andere als ein "humanistischer Ausrutscher", der im Widerspruch zu Marx' sonstiger "Klassenkampfrhetorik" stünde. Sie ist der zwar allgemeine, aber unzweideutige Ausdruck für die Form gesellschaftlicher Beziehungen, in der allein das Privateigentum vollständig aufgehoben werden kann; eine Form, die sich als Konsequenz übrigens schon aus der Analyse der Wertform ergibt.


Marx' Kritik der politischen Ökonomie war in der Tat das Resultat "tiefer wissenschaftlicher Einsicht", einer Abstraktionsleistung, die durchaus einer epochalen Entdeckung gleichkam. Aber seit diese Entdeckung gemacht ist, kann und muß sie auch genutzt und nicht immer nur reproduziert werden. Die Entdeckung, daß sich die Erde um sich selbst und um die Sonne dreht, ist nicht dadurch Allgemeingut geworden, daß jede/r einzelne für sich selbst noch einmal das mittelalterliche geozentrische Weltbild überwindet und die Gleichungen der Himmelsmechanik beherrscht; sie ist dadurch zum (fast) selbstverständlichen Kulturwissen geworden, daß sie mit wichtigen Alltagserfahrungen übereinstimmt und sie erklärt. Ähnlich ist es mit der Entdeckung, daß sich die Wertform der Produkte mit all ihren historischen Entwicklungen in gesellschaftliche Arbeit und deren Entwicklung auflösen läßt. Sie kann nicht dadurch ins Alltagsbewußtsein treten, daß jede/r für sich ihre theoretische Herleitung aus der Analyse der Wertform nachvollzieht, sondern nur dadurch, daß sie zur Erklärung der Alltagserfahrung, d.h. zur Kritik der gesellschaftlichen Praxis, angewandt wird. Aber während die Popularisierung von physikalischen Erkenntnissen die Physik und ihre Teildisziplinen als Wissenschaft nicht aufhebt, sondern voraussetzt, kann die Kritik der politischen Ökonomie umgekehrt nur dadurch Wissenschaft bleiben, daß sie mit ihrer "Popularisierung" identisch wird. Sie hat in der Tat den Sozialismus "von der Utopie zur Wissenschaft" erhoben, aber zu einer Wissenschaft, deren einziger Zweck es ist, sich als Wissenschaft aufzuheben! Und zwar nicht nur als Spezialgebiet einer besonderen Schicht intellektueller Experten, sondern als Wissenschaft überhaupt, die ihren Grund darin hat, daß die Menschen "nicht Herren ihrer eigenen Gesellschaftlichkeit" (Engels) sind. Als Wissenschaft, die ihren Gegenstand, die kapitalisische Produktionsweise, nur "beherrschen" kann, indem sie ihn negiert, d.h. kritisiert und aufhebt, und die ihn nur negieren kann, indem die "wissenschaftliche Einsicht" selbst praktisch wird und dazu drängt, in kritische, d.h. aneignende und umwälzende, Praxis umzuschlagen. Andernfalls muß die Kritik der politischen Ökonomie wieder zur bürgerlichen Ökonomie verkommen, die sich dazu eignen mag, die Welt zu interpretieren (und zu erhalten), aber nicht, sie zu verändern.


Das "moderne sozialistische Bewußtsein" kann gerade nicht, wie Kautsky meinte, dadurch entstehen, daß die Resultate "tiefer wissenschaftlicher Einsicht", also des abstrakten Denkens, "von außen" in die Köpfe der Lohnabhängigen "hineingetragen" werden und ihnen Bewußtsein "verleihen". Es kann nur dadurch entstehen, daß das abstrakte Denken selbst lernt, konkret zu werden und dem vorhandenen (oder doch jedermann zugänglichen) Wissen, der vorhandenen Erfahrung zur Einsicht in die konkrete gesellschaftliche Praxis zu verhelfen, in die gegebene, die die Menschen beherrscht, wie in die mögliche künftige, die die Menschen beherrschen. Der Durchgang durch die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie und ihre Entdeckungen ist vorläufig noch der einzige Weg, das dazu notwendige methodische Rüstzeug zu erwerben. Und dieser Durchgang muß heute als Nadelöhr erscheinen. Aber je mehr und besser es gelingt, das Rüstzeug anzuwenden, desto leichter sollte es fallen, den ideologischen Schleier, den die kapitalistische Produktionsweise über sich selbst legt, zu zerreißen, die herrschenden "Gedankenformen" als Abstraktionen der mit sich selbst entzweiten gesellschaftlichen Arbeit zu entmystifizieren und diese selbst auf direktem Wege der konkreten Anschauung zugänglich zu machen, in ihren absurden Gegensätzen, in die sie durch das Privateigentum gezwängt ist, ebenso wie in ihrem stofflich-technischen Zusammenhang und den Beziehungen der konsumierenden Produzenten, die es obsolet machen. (Das jedenfalls ist meine Überzeugung, die plausibel zu machen ich noch versuchen werde.) Übermächtig bleiben die Fetischgestalten der gesellschaftlichen Arbeit nur für das abstrakte Denken, das meist noch nicht einmal ihre theoretische Erklärung nachvollziehen kann. Zu "entzaubern" sind sie allein dadurch, daß sie mit der konkreten, unverhüllten gesellschaftlichen Arbeit selbst konfrontiert werden. Die kapitalistische Produktionsweise ist wie ein absurdes Theater, dessen Akteure meinen, sie spielten ein naturalistisches Stück. Wissenschaftlicher Sozialismus (ohne Anführungszeichen) kann nichts anderes sein als die Methode, den Akteuren ihre wirkliche Rolle bewußt zu machen, eine Methode, die in Marx' "Thesen über Feuerbach" ihren konzentriertesten Ausdruck gefunden hat und die er schon in den "Deutsch-Französischen Jahrbüchern" formulierte: "Die Reform des Bewußtseins besteht nur darin, daß man die Welt ihr Bewußtsein innewerden läßt, daß man sie aus dem Traum über sich selbst aufweckt, daß man ihre eignen Aktionen ihr erklärt. Unser ganzer Zweck kann in nichts anderem bestehen... Es wird sich dann zeigen, daß die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von der sie nur das Bewußtsein besitzen muß, um sie wirklich zu besitzen..."


Die Geschichte ist bisher anders verlaufen. Der "offizielle" oder "parteiamtliche" Marxismus nach Marx hat gerade diesen methodischen Kern seines Denkens, die materialistische Dialektik, von Grund auf mißverstanden, verkannt, verdrängt und begraben und damit sein eigenes Schicksal besiegelt. Diese Entwicklung kann nicht allein, auch nicht primär als subjektives Versagen der Marx-"Epigonen" erklärt werden. Sie muß Gründe haben, die in der Entwicklung der gesellschaftlichen Praxis, der kapitalistischen Produktionsweise selbst liegen und erklären, warum sie sich so hartnäckig "gegen ihr Verständnis sträubt" (Engels) – was im Umkehrschluß bedeutet, daß dies Verständnis massenhaft nur möglich ist, wenn die kapitalistische Produktionsweise selbst dazu drängt und ihre ideologische Macht selbst untergräbt. Darauf komme ich noch zurück. Zunächst noch einige Anmerkungen zur subjektiven Geschichte des sozialistischen und kommunistischen Denkens, die zu verstehen nötig bleibt, wenn man nicht in seine verhängnisvollen Bahnen zurückfallen will.


(Fortsetzung folgt)

 

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