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  KOMMUNISTISCHE STREITPUNKTE - Zirkularblätter - Nr. 1 - 16.09.1998 - Onlineversion

Werner Imhof

Antithesen

zu den Thesen der "Übergänge zum Kommunismus" vom August 1998

Die "Übergänger" haben nun erstmals öffentlich klargestellt, was sie mit der "Debatte über ein neues kommunistisches Programm" meinen und bezwecken, zu der sie in Nr. 4 "eingeladen" hatten. Dort hieß es noch zurückhaltend: "Die Herausgeber der ÜBERGÄNGE wollen die Diskussion über den öst-westlichen (!) Kommunismus ... in erweitertem (!) Kreis fortsetzen", und: "Wir hegen die Hoffnung (!), daß diese Debatte nicht nur der Kritik alles Bestehenden (!) einen trotzig-philosophischen ‚Impetus‘, sondern dem Programm des praktischen Umsturzes der Verhältnisse positive theoretische Grundlagen (!) liefern kann." (Hervorhebungen im Original, Ausrufezeichen von mir.)

Jetzt heißt es volltönend: " ... von nun an (steht) der Kampf für den revolutionären Übergang (!) zum Kommunismus wieder unmittelbar (!) auf der Tagesordnung", und: das Programm dieses Übergangs "diesmal noch rechtzeitig (!) neu unter sich zu klären, auszuarbeiten, zu beschließen (!); es in der Aktion (?) zu vertreten und zu überprüfen (?); d.h. eine Grundlage für ihre revolutionäre Kooperation zu schaffen: das ist die alles (!?) entscheidende Aufgabe, die alle (!) revolutionären (?) Sozialisten (?) und (?) Kommunisten (?) – unbeschadet (!) ihrer verschiedenen theoretischen, politischen und organisatorischen Traditionen – jetzt gemeinsam (!) in Angriff zu nehmen haben." (These XII; Fettsatz sowie alle Ausrufe- und Fragezeichen von mir.) Und um keinen Zweifel daran zu lassen, daß sie den "revolutionären Übergang zum Kommunismus" als aktuellen Tagesordnungspunkt der Geschichte zu managen bereit sind, haben sich die "Übergänger" gar "die Blöße einer Festlegung auf einige programmatisch bestimmte Aussagen" gegeben, wie es im Vorschlag zur Tagesordnung des nächsten Treffens heißt. Als programmatische "Eckpunkte", die den "proletarisierten Individuen" zeigen sollen, wo’s zum Kommunismus geht, haben sie "vorläufig festgehalten": "Gleicher Arbeitszwang für alle", "Abschaffung der kapitalistischen Lohnarbeit", "Selbstorganisation der Arbeit", "gesellschaftlich planmäßige Verteilung der Arbeitszeit" und "Ausnutzung der Demokratie zur Errichtung der Diktatur einer Assoziation aller vom Produkt ihrer gemeinsamen Arbeit enteigneten, von ihrer Arbeit entfremdeteten Individuen zum Zweck despotischer Eingriffe in jene Ordnung des Eigentums, die diese Enteignung und Entfremdung ebenso zur Voraussetzung hat, wie sie dieselbe stets von neuem spontan erzeugt..." (Ebd.)

Es fällt mir schwer, gerade diese von allen "Übergängern" mitgetragenene These XII nicht als rrrevolutionäre Phrasendrescherei, als ultralinke Kommunismus-Karikatur abzutun und mit einer nur noch bissigen Polemik zu beantworten. Was mich noch davon abhält, ist allein der Umstand, daß ich einige Übergänger persönlich als ernsthafte Menschen kennengelernt habe. Die wenigen Gemeinsamkeiten dagegen, die sich mit einigem guten Willen an Hand der "August-Thesen" und ihrer Langfassung "Im Westen nichts Neues?" noch ausmachen lassen, geben für sich noch keinen Anlaß, auf Verständigung zu hoffen, weil sie durch das Übergewicht entgegengesetzter Äußerungen und Schlußfolgerungen wieder zunichte gemacht werden. Um eine vielleicht dennoch mögliche Diskussion zu erleichtern, werde ich meine Ansichten über die Bedingungen eines neuen, emanzipatorischen Kommunismus zunächst in positiver Form entwickeln. Meine Kritik an der Gesamtheit der Thesen ist darin implizit enthalten. Sollte sich darüber Diskussionsbedarf ergeben, bin ich bereit, die explizite Kritik nachzuliefern.

I. Wo stehen wir heute?

150 Jahre nach dem Erscheinen des "Manifests der Kommunistischen Partei" stehen wir vor der paradoxen historischen Situation, daß die objektiven Voraussetzungen für eine klassenlose Gesellschaft auf Basis einer kommunistischen Produktionsweise in den entwickelten kapitalistischen Ländern weiter gediehen sind als je zuvor (wie sollte es auch anders sein), während ihre subjektiven Voraussetzungen, also gesellschaftliches Bewußtsein und Emanzipationsstreben in der ArbeiterInnenbewegung, noch nie so komplett ausgelöscht schienen wie heute.

Die objektiven Voraussetzungen kommunistischer Produktion bestehen vor allem in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, die Betriebe und Produzenten zu einem engen Netz wechselseitiger Abhängigkeit und Kooperation, zu einem gesellschaftlichen (Re-)Produktionsprozeß verbindet, in der Verallgemeinerung der Lohnarbeit, in den enormen wissenschaftlichen und technischen Produktivkräften der gesellschaftlichen Arbeit, in der elektronischen Datenverarbeitung, den modernen Informations- und Kommunikationsmedien, in der fortschreitenden Trennung der unmittelbaren Leitung des Produktionsprozesses vom privaten Eigentum an den Produktionsmitteln, selbst in den zahlreichen gesetzlichen, administrativem und technischen Regeln und Vorschriften, mit denen der bürgerliche Staat den gesellschaftlichen Bedingungen und Folgen der Produktion Rechnung tragen muß, um den Fortbestand der Kapitalverwertung zu sichern, und die eine unmittelbar gesellschaftliche Produktion mitvorbereiten, und in anderem mehr. All das würde es den heute noch Lohnabhängigen erlauben, bei gemeinsamer Herrschaft über die (meisten und wichtigsten) Produktionsmittel als "Assoziation freier und gleicher Produzenten" den weitaus größten Teil des gesellschaftlichen Gesamtprodukts kommunistisch zu produzieren, seine Zusammensetzung und Verwendung ihrer bewußten Planung und Kontrolle unterwerfen und die dafür notwendige Arbeit in gemeinschaftlicher Eigenregie zu organisieren, also ohne "vermittelnde" (richtiger: trennende) Markt- und Geldbeziehungen, ohne daß ihre Arbeit die verdinglichte Form des Werts der Produkte annimmt und ohne daß ihre vergangene Arbeit ihnen als verselbständigte Macht, als Kapital, gegenübertritt.

Doch die Lohnabhängigen haben von den emanzipatorischen Möglichkeiten, die in der Gegenwart angelegt sind, keinerlei Vorstellung. Ihnen ist jede Perspektive ihrer sozialen Befreiung fremd geworden. Der Bankrott des "Realsozialismus" gilt ihnen als Beweis, daß sozialistische resp. kommunistische Verhältnisse weder erstrebenswert noch dauerhaft möglich sind. Die Unterwerfung der Lohnabhängigen unter das Kapitalverhältnis, unter die ideologische Macht der verdinglichten Verhältnisse und der versachlichten Zwänge scheint total. Selbst wo sie gegen die Zumutungen des Kapitals und seine unverstandenen Verwertungszwänge rebellieren, tun sie es im Namen der – Lohnarbeit. Die Überreste und Nachfahren der einst so selbstgewissen "kommunistischen Weltbewegung" bestärken sie noch darin, indem sie über die Forderung nach Umverteilung und Vermehrung der Lohnarbeit, die "Bändigung" des Kapitals, die "Regulierung" der Märkte usw. nicht hinauskommen, weil auch sie sich eine Wirtschaftsweise, die auf der Selbstherrschaft der Produzenten über ihre sachlichen Produktionsbedingungen und auf der gemeinschaftlichen Selbstorganisation ihrer Arbeit beruht, nicht vorstellen können oder mögen. Und eine Linke, die fähig wäre, das Kapital als längst anachronistisches Produktionsverhältnis zu entmystifizieren, in den verkehrten Erscheinungs- und Gedankenformen der Verhältnisse wieder die tatsächlichen gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen und in diesen Beziehungen die Möglichkeit ihrer Überwindung ins Bewußtsein zu heben – eine solche Linke ist weit und breit nicht zu vernehmen.

II. Zwei Fragen

Die beschriebene Situation wirft zwei grundlegende Fragen auf, ohne deren Beantwortung ein emanzipatorischer Kommunismus als theoretische Richtung, als politische Bewegung und erst recht als gesellschaftliche Praxis nicht denkbar ist, nämlich: 1. wie die Kluft zwischen den objektiven und den subjektiven Voraussetzungen einer kommunistischen Produktionsweise zu erklären ist und 2. wie – wenn überhaupt – und unter welchen Bedingungen diese Kluft überwunden werden kann. Es liegt auf der Hand, daß die Beantwortung der zweiten Frage die der ersten voraussetzt. Sie läuft im wesentlichen (aber nicht allein) darauf hinaus, den Bankrott des bisherigen Kommunismus zu verstehen, d.h. den Zusammenbruch des sog. "Realsozialismus" ebenso wie den Niedergang der kommunistischen Bewegung in den kapitalistischen Ländern.

Die noch bestehenden kommunistischen Gruppierungen lassen sich zuverlässig daran messen, ob sie sich beiden Entwicklungen stellen und wie sie das tun. In der Regel tun sie es nämlich nur äußerst widerwillig und dann mit dem offensichtlichen Bemühen, die Tatsache des historischen Bankrotts zu beschönigen und das Scheitern des Kommunismus nicht ihm selbst, sondern ihm äußeren, fremden Mächte anzulasten (sei es der Übermacht des System- oder Klassenfeindes, der Korrumpier- und Manipulierbarkeit der Massen oder dem Verrat in den eigenen Reihen), oder indem sie – besonders geschickt – das Scheitern des östlichen Kommunismus auf das Versagen des westlichen Kommunismus zurückführen – und umgekehrt! Auch DD und die "Übergänger" machen da keine Ausnahme (vgl. auch den aufschlußreichen Text "Die Lebenden müssen sich von der Last der Toten befreien – Die Herstellung der Einheit der revolutionären Linken durch Offene Kommunistische Foren", 31 ff.). Tatsächlich kann das Schicksal des Kommunismus im Osten wie im Westen aber nur aus seiner jeweils eigenen Geschichte, d.h. aus seinem Verhältnis zur Arbeiterklasse des jeweiligen Landes, verstanden und beurteilt werden.

III. Der Stalinismus und der Bankrott des "Realsozialismus"

(wird nachgeliefert)

IV. Der Niedergang der kommunistischen Bewegung (in Deutschland)

Der Niedergang der kommunistischen Bewegung im Westen begann in Deutschland – und darauf beschränkt sich die folgende Skizze – schon wenige Jahre nach ihrer Gründung. Einer der Geburtsfehler der KPD war, daß sie auf die sozialistische Revolution, für die sie eintrat, ebenso wenig vorbereitet war wie die Arbeiter- und Soldatenräte, die sie begannen, um sie auf halbem Wege wieder abzubrechen. In Bezug auf die sozialistische Organisation der Produktion hatte die KPD nie wirklich mit der Tradition der Sozialdemokratie gebrochen. Die aber hatte schon vor der Jahrhundertwende die Marxsche (und im wesentlichen auch Engelssche) Vorstellung des Kommunismus als einer "Assoziation der freien und gleichen Produzenten", die ihre "Gesamtarbeit" "genossenschaftlich", "ohne Dazwischenkunft des vielberühmten ‚Werts‘" regeln, fallengelassen. Kautsky konnte sich das sozialistische "Endziel" nur als "Staatswirtschaft" vorstellen, und zwar als zentral geleitete Staatswirtschaft (auf dem Boden der parlamentarischen Demokratie), in der die Arbeitsprodukte weiterhin ausgetauscht werden und die deshalb auch auf das Geld als "Wertmaßstab" und "Zirkulationsmittel" nicht verzichten kann. Solche Vorstellungen waren gang und gäbe in der Sozialdemokratie, ohne daß sie zum Gegenstand eines Richtungsstreits geworden wären!

Zwar enthielt das von Rosa Luxemburg verfaßte Gründungsprogramm der KPD eine Charakterisierung der sozialistischen Gesellschaft, die der Marxschen Vorstellung nahekam und die Sätze enthielt wie diese: "Das Wesen der sozialistischen Gesellschaft besteht darin, daß die große arbeitende Masse aufhört, eine regierte Masse zu sein, vielmehr das ganze politische und wirtschaftliche Leben selbst lebt und in bewußter freier Selbstbestimmung lenkt." Doch solche Sätze blieben selbst in (oder gerade wegen) ihrer pathetischen Vagheit ein Fremdkörper im Denken der KPD, der sich nie in ihrer Praxis niederschlug. Und bezeichnenderweise hat es die KPD auch nie für nötig gehalten, ihre programmatischen Vorstellungen über die sozialistische Umwälzung weiterzuentwickeln, obwohl die Halbheit der Revolution wesentlich in der Unklarheit der Rätebewegung darüber begründet lag, wie die allseits geforderte "Sozialisierung der Großbetriebe" oder die "Vergesellschaftung der kapitalistischen Produktionsmittel" praktisch zu organisieren war. 1

Die sozialistischen Bestrebungen und Hoffnungen der Arbeitermassen drückten sich in zwei gegensätzlichen Formen aus: in einer spontanen Basisbewegung auf Betriebs- und Branchenebene mit dem Ziel der "Arbeiterkontrolle über die Produktion" bis hin zu syndikalistischen Losungen wie "Die Bergwerke den Bergleuten" und in der Forderung nach "Sozialisierung" als Maßnahme der Regierung, die schließlich die Interessen der "Allgemeinheit" zu wahren hätte. Daß die Arbeiter ihre allgemeinen oder gemeinsamen Interessen gegen egoistische Belegschafts- und bornierte Betriebsinteressen selbst hätten wahren können, nämlich durch die Organisation der wechselseitigen Verbindungen der Betriebe und Industriezweige untereinander, und daß sie dazu der Räte als ihrer eigenen Klassenorganisation an Stelle des bürgerlichen Staates bedurft hätten – das kam ihnen nicht in den Sinn. 2 Folgerichtig legte denn auch der erste Rätekongreß die gerade errungene Macht in die Hände des sozialdemokratischen Rats der Volksbeauftragten und damit in die des zu wählenden Parlaments.

Das Schicksal der Novemberrevolution zeigte, daß der Arbeiterbewegung die wichtigste Voraussetzung zur sozialistischen Revolution fehlte: das Bewußtsein, die Organisation der gesellschaftlichen Arbeit selbst in die Hand nehmen zu müssen. Die Tragik der Geschichte war, daß sie auch nicht die Chance hatte, es nachträglich zu entwickeln, weil selbst ihr "kommunistischer" Flügel einer solchen Entwicklung im Wege stand. Auch die KPD konnte sich von der Vorstellung des Sozialismus als einer zentralistischen Wirtschaftsweise nicht lösen. Daß der dabei vorausgesetzte Staat die "Diktatur des Proletariats" in Gestalt der Räterepublik, also die organisierte Arbeiterklasse selbst, sein sollte, war ein Widerspruch, den sie nie begriffen hat.

Die Räterepublik war nur dann als Diktatur des Proletariats denkbar, wenn sie zugleich (wie ein halbes Jahrhundert zuvor die Kommunalverfassung der Pariser Commune) "die endlich entdeckte politische Form" sein sollte, "unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte" (Marx). Geeignet wäre sie dazu wahrscheinlich gewesen. Nur hätte sie dann keinen Platz lassen können für eine zentrale Planung und Organisation der Produktion. Zentralismus ist mit der Räteorganisation auf Dauer ebenso wenig vereinbar wie mit sozialistischer Produktion. Die ist nur möglich als gesellschaftliche Veranstaltung, als gemeinsame, selbstbestimmte Herrschaft der Produzenten über ihre Produktionsmittel, -bedingungen und -ergebnisse. Sie schließt, ebenso wie die Räteorganisation, die freiwillige und vorübergehende Zentralisierung bestimmter Funktionen und Kompetenzen der gesellschaftlichen Arbeit nicht aus. Was sie jedoch ausschließt, ist Zentralismus als Organisationsprinzip, eine selbständige zentrale Macht als Dauereinrichtung.

Da die KPD aber die "Sozialisierung" der Wirtschaft wesentlich als "proletarische" Zentralisierung, als Unterordnung unter eine einheitliche zentrale Leitung verstand, 3 verfehlte sie nicht nur das Wesen der sozialistischen Produktion, sondern auch der Räteorganisation. Die propagierte "Rätediktatur" wurde so zur leeren politischen Form ohne sozialistischen Inhalt, zum bloßen Vehikel der politischen Macht, ohne die notwendige Form zur sozialistischen Organisation der Produktion zu sein. Wesentlich war ihre Funktion als Rätediktatur, nicht ihre Form als Rätediktatur. Die Form war zweitrangig, ohne inneren Bezug zum Ziel des Sozialismus, und damit prinzipiell – verzichtbar (was die Praxis der KPD denn auch in kürzester Zeit bestätigte). Was die KPD von der alten Sozialdemokratie unterschied, war also nicht ihre Sozialismus-Konzeption, sondern allein das politische Rezept ihrer Realisierung auf revolutionärem, diktatorischem Wege. Für die Mehrheit der ArbeiterInnen blieb sie daher immer ein Geschöpf vom Fleische der Sozialdemokratie, das sich mit dieser einen unerquicklichen "Bruderkampf" lieferte (die Parteien waren "natürlich" männlichen Geschlechts).

Das Fatalste aber war, daß die KPD die traditionelle Staatsfrömmigkeit der Arbeiterbewegung als Produkt und Ausdruck ihrer ökonomischen Subalternität in "revolutionärer" Form bestätigte. Die Arbeiterklasse hatte begonnen, mit dieser Subalternität zu brechen, indem sie sich als Rätebewegung gegen die Repräsentanten der alten Staatsmacht und gegen die Macht des Kapitals auf Betriebsebene erhob. Aber darüber wußte sie nicht hinauszugehen. Die ersehnte "Sozialisierung" konnte sie sich nur vorstellen als Werk "des Staates" als einer über ihnen stehenden, die "Allgemeinheit" repräsentierenden Macht. Sie verstand nicht, daß die Kapitalherrschaft nur aufzuheben, die "Sozialisierung" nur zu realisieren wäre durch die Zusammenfassung der privaten Betriebe und Wirtschaftszweige zu einem gesamtgesellschaftlichen Produktionsprozeß (den das Kapital mitsamt den dazugehörigen Verkehrs- und Kommunikationsmitteln weitgehend vorbereitet hatte), und zwar als Werk der "vereinigten Arbeiter" (Lenin) selbst, die sich zu diesem Zweck selbst als "Staat" betätigen müßten. Nicht der Reformismus hinderte die Arbeiter, die Revolution weiterzuführen, sondern ihre Fixierung auf den Götzen "Staat", in der sich die Entfremdung von ihrer gesellschaftlichen Arbeit ausdrückte und die ihrerseits dem Reformismus den Boden bereitete. Nicht revolutionärer Staatssozialismus war die Alternative zum reformistischen "Sozialisierungsschwindel", sondern Rätesozialismus, der seiner Natur nach nur revolutionär sein konnte. Die KPD war nicht nur außerstande, der Arbeiterklasse an Hand ihrer eigenen Erfahrungen aus ihrem subalternen Bewußtsein herauszuhelfen, sie konnte es schließlich selbst nur noch verstärken.

Denn die staatssozialistische Orientierung der KPD mußte zwangsläufig auch ihr Verhältnis zur Klasse und zur politischen Macht prägen. Wenn die Arbeiterklasse grundsätzlich unfähig war, die sozialistische Produktion selbst zu organisieren, sondern dazu der zentralen Planung und Kontrolle bedurfte, dann mußte sie auch nicht mehrheitlich zur politischen und ökonomischen Selbstherrschaft bereit sein. Dann sollte es reichen, wenn sie der kommunistischen Partei zur Macht verhülfe und sich ihrer Führung anvertraute, so wie sie der SPD zur Macht verholfen und sich ihrer "Interessenvertretung" anvertraut hatte. Diese instrumentelle Logik hat sich denn auch tatsächlich in der KPD durchgesetzt, und zwar in erschreckend kurzer Zeit.

Hatte die KPD (Spartakusbund) 1918 noch beteuert: "Der Spartakusbund ist keine Partei, die über die Arbeitermasse oder durch die Arbeitermasse zur Herrschaft gelangen will ... Der Spartakusbund wird nie anders die Regierungsgewalt übernehmen als durch den klaren, unzweideutigen Willen der großen Mehrheit der proletarischen Masse in Deutschland", so hieß es zwei Jahre später (auf dem Vereinigungsparteitag mit dem linken Flügel der USPD) schon, daß die Partei die "Führung der Massen bekommen" müsse und die Massen sich an diese Führung "gewöhnen" und "Zutrauen" zur Partei fassen müßten. Was wie eine bloße Akzentverschiebung erscheinen mag, war tatsächlich der Beginn einer Umkehrung des Verhältnisses von Partei und Klasse. Die Partei wurde nicht mehr als Instrument der Klasse im Dienste ihrer sozialen Befreiung, sondern die Klasse als Instrument der Partei im Dienste ihrer Machtergreifung betrachtet (im "objektiven" Interesse der Klasse, versteht sich).

Hatte Rosa Luxemburg die theoretische und politische Schwäche der KPD 1918 noch mit der Floskel "Die Arbeiterklasse lernt nicht (!) durch Worte, sondern (!) durch Taten" zu überspielen gesucht, womit immerhin noch die eigenen Erfahrungen der Arbeiterklasse gemeint waren, so verstand sich die zahlenmäßig erstarkte VKPD 1920 schon als die bessere Lehrmeisterin, nämlich durch ihre "Propaganda der Tat". Die Parteiaktion sollte die "denkträge Masse" in Bewegung bringen. Produkt dieser Logik war die sog. "Offensivtheorie", die auf die angeblich revolutionierende Wirkung von "Teilkämpfen" setzte, welche durch offensives Vorgehen und militante Kampfformen der Partei zum revolutionären Machtkampf gesteigert werden sollten. Welchen sozialistischen Maßnahmen und Zielen – über die "Teilforderungen" hinaus – die Macht dienen sollte, blieb im Dunkeln. Das Mittel selbst wurde zum Zweck, reduziert auf die unbestimmte Losung der "proletarischen Diktatur". Ein Resultat der "Offensivtheorie" war die gescheiterte "Märzaktion" 1921.

Der "Offensivtheorie" folgte die "Stadientheorie": Durch Ausweitung und Steigerung der "Teilkämpfe" sollte die SPD derart unter Druck gesetzt werden, daß sie bereit wäre, eine "Arbeiterregierung" zu bilden, die dann unter dem Druck der Reaktion ihre Unfähigkeit und damit die Notwendigkeit der "proletarischen Diktatur" beweisen würde. Diese Theorie erlebte ihr Fiasko in der "Oktoberniederlage" 1923. Auf Beschluß der Zentrale koalierte die KPD in Sachsen mit der SPD in der Erwartung, die absehbaren Repressionen der Reichsregierung würden die gesamte Arbeiterschaft zur Verteidigung der sächsischen "Arbeiterregierung" auf den Plan rufen (lassen). Sie mußte jedoch feststellen, daß sie sich verkalkuliert hatte und keine wirkliche Stütze in der Massenbewegung besaß, und sah sich gezwungen, den schon beschlossenen Aufruf zu Generalstreik und bewaffnetem Aufstand ersatzlos zurückzuziehen. Nur in Hamburg kam es zum isolierten Aufstandsversuch, weil der Rückzugsbefehl der Zentrale nicht rechtzeitig eingetroffen war ...

(An dieser Stelle aus Zeitmangel abgebrochen. Der Rest wird mitsamt These III nachgeliefert.)

V. Offene Fragen

Das selbstverschuldete Scheitern des bisherigen Kommunismus erklärt, warum die große Masse der Lohnabhängigen jeden ernsthaften Gedanken an die Überwindbarkeit des Kapitalismus aufgegeben hat. 4 Aber es bleibt die Frage, warum sich ein anderer als der gescheiterte Kommunismus nicht entwickelt hat, warum die Marxsche Konzeption des Kommunismus als "Assoziation freier und gleicher Produzenten" erst vom sozialdemokratischen, dann vom kommunistischen Staatssozialismus verdrängt wurde, ohne über vereinzelte theoretische, organisatorische und praktische Ansätze hinaus (ich denke z.B. an Mattick, die holländischen Rätekommunisten oder den "kurzen Sommer der Anarchie" in Spanien 1936) dauerhafte Spuren in der Arbeiterbewegung zu hinterlassen. Auch der industrielle Aufstieg der Sowjetunion und die Entstehung des "sozialistischen Lagers" nach dem II. Weltkrieg reichen m. E. nicht aus, das Verstummen fast jeden emanzipatorischen Denkens in den Reihen des "Arbeiterbewegungsmarxismus" (Kurz) plausibel zu machen. Daß die Arbeiterbewegung bzw. ihr radikaler Flügel bisher immer nur eine staatssozialistische Interpretation der Marxschen Kapitalkritik hervorgebracht hat, muß selbst marxistisch, also materialistisch, erklärt werden. Lag es daran, daß die Interpretationsmacht in der Hand von Intellektuellen lag, die aufgrund ihrer sozialen Stellung und Erfahrung die fortschreitende Vergesellschaftung der Arbeit nicht (richtig) erkennen konnten? Oder lag es an den Formen und dem Grad der Vergesellschaftung selbst? Oder an was sonst?

Ich kenne bisher keine schlüssige Antwort 5 und habe auch selbst keine parat. Solange diese Frage aber offen ist, solange muß auch die Zukunft des Kommunismus als offen betrachtet werden. "Es genügt nicht, daß der Gedanke zur Verwirklichung drängt, die Wirklichkeit muß sich selbst zum Gedanken drängen." (Marx) Offenbar war das "Drängen" der Wirklichkeit in der Vergangenheit nicht stark genug, um das zur Verwirklichung drängende Denken auf die richtige Spur zu führen. Das aber hieße, daß die objektiven Voraussetzungen des Kommunismus – entgegen Marx’ eigener Auffassung – noch gar nicht ausgereift waren. Denn von der Reife der objektiven Voraussetzungen kann man vernünftigerweise nur reden, wenn sie die Entwicklung der subjektiven Voraussetzungen zumindest nahelegen. Das hieße dann aber auch, daß unsere heutige Situation nur paradox erscheint, daß tatsächlich erst heute die objektiven Voraussetzungen reif genug sind oder werden, um die Entwicklung der subjektiven Voraussetzungen zu gestatten, und daß dazu der bisherige Kommunismus auch erst restlos scheitern mußte ...

Das sind für mich, wie gesagt, offene Fragen. Sie sind jedoch kein Hinderungsgrund, über die erkennbaren und beeinflußbaren Bedingungen eines künftigen emanzipatorischen Kommunismus nachzudenken.

VI. Konturen eines emanzipatorischen Kommunismus

Ein erneuerter, emanzipatorischer Kommunismus existiert heute allenfalls – da kann ich DD zitieren – als "marginalisierte(r), zersplitterte(r), unklare(r) Kommunismus" (6). Es gibt eine Anzahl vereinzelter Individuen und "mikrobischer Zirkel" (ebd.), die über die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Kommunismus und über ein Wiederanknüpfen an der originären Marxschen Kritik der politischen Ökonomie das "verlorene Ziel" (Kurz) einer klassenlosen Gesellschaft mit kommunistischer Produktionsweise zu rekonstruieren suchen, die aber weit davon entfernt sind, eine gemeinsame, vernehmbare, eigenständige und vor allem entwicklungsfähige Richtung zu repräsentieren. Es ist nicht einmal ausgemacht, daß sie es überhaupt dazu bringen werden. Was läßt sich dennoch – bei aller gebotenen Zurückhaltung – über die Bedingungen sagen, unter denen die Herausbildung einer solchen Richtung möglich sein könnte? Die Antwort ergibt sich m. E. aus der konkreten Situation selbst. Zwei Bedingungen müßten vor allem erfüllt sein, bevor von einer eigenständigen, vernehmbaren und entwicklungsfähigen Richtung die Rede sein kann:

1. Es muß theoretische Klarheit herrschen über die essentials eines emanzipatorischen Kommunismus, nämlich a) über die kommunistische Organisation der gesellschaftlichen Arbeit selbst, nicht als abstraktes Prinzip oder als ausgedachtes oder erwünschtes Bild einer fernen Zukunft, sondern als praktische Möglichkeit, so wie sie vom heutigen Kapitalismus vorbereitet ist, und b) über das Verhältnis des Kommunismus (als wie immer organisierter Bewegung) zur Masse der Lohnabhängigen, ein Verhältnis, das jede Art von missionarischer Eiferei, Phrasendrescherei und Sektierertum ausschließen muß.

Theoretische Klarheit auf beiden Gebieten setzt voraus: zum einen die Beherrschung der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie, aber nicht als "objektive Wissenschaft" von der "Funktionsweise" des Kapitalismus, sondern als Methode der dialektischen Kritik der im Kapital verdinglichten gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen; zum anderen ein kritisches Verständnis des bisherigen Kommunismus und der Geschichte seines Scheiterns; zum dritten die Auseinandersetzung mit (bzw. Abgrenzung von) den vorherrschenden Formen des linken Bewußtseins, denen allen gemeinsam ist, daß sie sich die "genossenschaftliche Regelung der Gesamtarbeit" (Marx), die gemeinschaftliche Organisation der gesellschaftlichen Arbeit durch die assoziierten gesellschaftlichen Individuen selbst, nicht vorstellen können oder mögen.

Der mainstream der heutigen Linken hat selbst den Versuch aufgegeben, über den Kapitalismus hinauszudenken, und träumt von der Rückkehr zu einem erträglichen Kapitalismus der vergoldeten Ketten. Seine Kritik erschöpft sich in der Benennung des Kapitals als Kapital, des Profits als Profit und der "ungerechten" Verteilung von Arbeit und Einkommen. Allenfalls beteuert er noch zur Beruhigung seines linken Gewissens, die "Suche nach gesellschaftlichen Alternativen" nicht aufgeben zu wollen. Aber auch die verbliebenen Anhänger des Kommunismus (oder Sozialismus) repräsentieren nur verschiedene Formen seiner Negation. Während die einen die "Entlastungsfunktion" von Markt und Geld (also privater, und das heißt heute notwendig: kapitalischer Verfügung über Produktionsmittel und lebendige Arbeit) für unverzichtbar halten, nur "gebändigt" durch die rahmensetzende, "regulierende" Tätigkeit des (bürgerlichen) Staates, können sich die anderen die "Regelung der Gesamtarbeit" nur qua zentraler behördlicher Planung und Kontrolle vorstellen, deren Fehleranfälligkeit durch demokratische und marktwirtschaftliche Korrektive zu minimieren sei, während die dritten den Kommunismus dadurch "erledigen", daß sie ihn für obsolet erklären, indem sie das "Ende der Arbeitsgesellschaft" und damit auch der gesellschaftlichen Arbeit verkünden.

2. Das theoretische Bewußtsein muß praktisch werden durch die Entfaltung einer Gesellschaftskritik, die die Fetischgestalten der gesellschaftlichen Arbeit wieder auf ihren realen Gehalt, die gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen zueinander und zu den Produkten ihrer Arbeit, zurückführt; einer Kritik, die die Lohnabhängigen, statt sie auf ihre Lohnabhängigkeit zu reduzieren, als individuelle Glieder einer gesellschaftlichen Arbeitskraft begreift, auf deren Arbeit (fast) die (gesamte) materielle Reproduktion der Gesellschaft beruht, nur in der verrückten, gegensätzlichen Form, daß ihre vergangene, in den Produktionsmitteln vergegenständlichte Arbeit in der Hand einer besonderen Klasse als verselbständigte Macht über ihre lebendige Arbeit herrscht, zu dem einzigen Zweck, sich auf deren Kosten zu vermehren, die also den Lohnabhängigen verwehrt, für ihre eigene Reproduktion zu arbeiten, sofern sie nicht zusätzlich ein unbezahltes Mehrprodukt liefern bzw. dessen Umwandlung in Geld und Kapital besorgen; einer Kritik, die das wachsende Mißverhältnis enthüllt zwischen der bereits vergegenständlichten Arbeit und den vorhandenen Produktionsmöglichkeiten einerseits und dem bornierten Zweck der "Plusmacherei" andererseits und die zeigt, wie das Kapital diesen Zweck mit Mitteln verfolgt (der Reduzierung der lebendigen Arbeit), die tendenziell den Zweck selbst aufheben; einer Kritik, die zugleich in den bestehenden Verhältnissen die materiellen Bedingungen ihrer Überwindung sichtbar macht und diese Überwindung – nein, weder als historische Zwangsläufigkeit noch als ausgeklügeltes Programm einer Minderheit, sondern – nur als (immerhin praktisch vorstellbare) Möglichkeit aufzeigt, deren Verwirklichung allein das gemeinsame Werk der unzweideutigen Mehrheit der heute lohnarbeitenden Klassen sein kann 6; einer Kritik schließlich, die imstande ist, in den gegebenen sozialen Bewegungen und Auseinandersetzungen, in den vorhandenen Interessen, Forderungen und Bewußtseinsformen die progressiven Momente und Ansätze hervorzuheben und zu fördern, die diese Möglichkeit näherbringen; einer Kritik also nach dem Motto des jungen Marx:

  • "Wir treten nicht der Welt doktrinär mit einem neuen Prinzip entgegen: Hier ist die Wahrheit, hier kniee nieder! [Sondern:] Wir entwickeln der Welt aus den Prinzipien der Welt neue Prinzipien. Wir sagen ihr nicht: Laß ab von deinen Kämpfen, sie sind dummes Zeug; wir wollen dir die wahre Parole des Kampfes zuschrein. Wir zeigen ihr nur, warum sie eigentlich kämpft, und das Bewußtsein ist eine Sache, die sie sich aneignen muß, wenn sie auch nicht will.

    Die Reform des Bewußtseins besteht nur darin, daß man die Welt ihr Bewußtsein innewerden läßt, daß man sie aus dem Traum über sich selbst aufweckt, daß man ihre eignen Aktionen [i.e. ihre gesellschaftliche Praxis] ihr erklärt... Reform des Bewußtseins nicht durch Dogmen, sondern durch Analysierung des mystischen, sich selbst unklaren Bewußtseins, trete es nun religiös oder politisch [oder ökonomisch] auf. Es wird sich dann zeigen, daß die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von der sie nur das Bewußtsein besitzen muß, um sie wirklich zu besitzen."

  • Das hört sich leicht an. Und es muß in der Tat leicht werden. Deshalb ist es heute noch so schwierig ...

    Wer von den vorhandenen Individuen und "mikrobischen Zirkeln" des "unklaren", unausgegorenen Kommunismus wie und wann (wenn überhaupt) dazu beiträgt, die beschriebenen Bedingungen zu schaffen, kann nur die Zukunft zeigen. Das ist keine Entwicklung, die sich planen und organisieren ließe. Ich kann sie mir nur vorstellen als einen längerfristigen (möglicherweise kooperativen) Prozeß von Debatte und praktischer Bewährung, in dem sich die tragfähigsten und überzeugendsten Auffassungen herauskristallieren und letztlich durchsetzen müssen.

    11.09.98

    Weiter siehe "Nachtrag zu den "Antithesen ..."


    1: Ende 1920 verabschiedete sie ein „Agrarprogramm" mit einer Unzahl bürokratisch-detaillierter „Forderungen", aber die Erfahrungen von zwei Jahren ökonomischer und politischer Streiks (Kapp-Putsch!), bewaffneter Aufstände und regionaler Räterepubliken auszuwerten und daraus konkrete Orientierungen für die sozialistische Umwälzung abzuleiten, war sie nicht imstande.

    2: Wie die Subalternität des Lohnarbeiterdaseins sich in der Haltung zum bürgerlichen Staat reproduzierte und „den Staat" zum väterlichen Beschützer der unselbständigen Klasse erhöhte, hat 1904 unübertrefflich naiv (und aktuell!) der Sozialdemokrat Karl Renner ausgedrückt: „Reden wir nicht in Begriffen, sondern in Tatsachen. Der Arbeiter fordert: Der Staat soll den Achtstundentag festsetzen; der Staat soll den Schaffenden in der Werkstatt schützen; der Staat soll ihn gegen Krankheit und Unfall versichern; der Staat soll die Mütter schützen, die Säuglinge in Obhut nehmen, die Kinder gesund erhalten, die Jugend lehren; der Staat soll das Alter vor Elend und Ungemach schützen; der Staat soll die Volksbildung pflegen, die Wissenschaft und die Künste den Massen zugänglich machen; der Staat soll den Ackerbau pflegen, damit es den Massen an Nahrung nicht gebreche; der Staat soll die Anarchie der Produktion bannen, die Krisen überwinden und so fort! Der Staat soll! Er ist der eine und einzige, immer wiederkehrende Imperativ der proletarischen Politik, ihrer Praxis! Wer denn sonst als der Staat?" Ja, wer denn sonst?

    3: Auch der „Sozialisierungstheoretiker" Karl Korsch blieb in dem Dualismus von Staatssozialismus und Syndikalismus, von „Kontrolle von oben" und „Kontrolle von unten" befangen, den er mit seinem Konzept der „industriellen Autonomie" zwar versöhnen wollte, aber nicht aufheben konnte. Auch er konnte sich das Zusammenwirken der bislang vom Privateigentum getrennten Betriebe und Industriezweige nicht anders vorstellen als durch den „Übergang von Herrschaftsrechten" an die „öffentlichen Funktionäre der Gesamtheit" und einen zentralen „Gesamtwirtschaftsplan".

    4: Daß ein erstaunlich hoher Anteil der Bevölkerung nach demoskopischen Umfragen „den Sozialismus" bzw. „den Kommunismus" immer noch für eine „im Prinzip gute Idee" hält, steht dazu nicht im Widerspruch. Denn dieses Urteil erweist sich zugleich immer (noch) als Vorurteil, das sich den Sozialismus bzw. Kommunismus nur als Werk einer – auf Dauer unmöglichen – „guten Regierung" vorstellen kann und daher ins Reich der Utopie verweist.

    5: Nur zur Klarstellung: Das Problem ist nicht, zu begreifen, warum die Masse der Lohnabhängigen nicht „spontan" kommunistisches Bewußtsein entwickelt. Das Problem ist, warum auch die Minderheit marxistisch gebildeter Arbeiter und Intellektueller – von Ausnahmen abgesehen – über staatssozialistische Konzepte nicht hinauskam.

    6: Ich spreche bewußt von lohnarbeitenden Klassen im Plural, weil die gemeinsame Stellung als LohnarbeiterInnen oder Lohnabhängige noch kein gemeinsames Klasseninteresse konstituieren kann. Solange sich die Lohnabhängigen nur als Lohnabhängige begreifen, bleiben sie Gefangene der Lohnarbeit und damit auch der Funktion und der Einkommensquelle, die ihnen die herrschende Struktur der gesellschaftlichen Arbeit im Dienste des Kapitals zuweist – als LohnarbeiterInnen des industriellen, des kommerziellen oder des Geldkapitals, der öffentlichen Dienste oder der privaten Haushalte. Zu einer Klasse mit gemeinsamen Interessen können sie nur werden durch ihren positiven Bezug auf den materiellen Reproduktionsprozeß der Gesellschaft in seiner Gesamtheit, d.h. indem sie ihn ihrer gemeinsamen Herrschaft unterwerfen und an ihm teilnehmen wollen

     

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