Mao Werke

 

KAPITEL IV

"EINKREISUNGS- UND AUSROTTUNGSFELDZÜGE" UND GEGENOPERATIONEN

- DIE HAUPTFORMEN DES BÜRGERKRIEGS IN CHINA

In den seit Beginn des Partisanenkriegs verflossenen zehn Jahren war jede selbständige rote Partisanenabteilung oder Einheit der Roten Armee, jedes revolutionäre Stützpunktgebiet stets den "Einkreisungs und Ausrottungsfeldzügen" des Feindes ausgesetzt. Der Feind betrachtet die Rote Armee als ein Monstrum, das er, sobald es auftaucht, einzufangen sucht. Er ist stets darauf aus, der Roten Armee nachzusetzen und sie einzukreisen. Seit zehn Jahren hat sich diese Kampfform nicht geändert, und sie wird sich auch, wenn der Bürgerkrieg nicht einem nationalen Krieg weichen sollte, so lange nicht ändern, bis der Feind die schwächere und die Rote Armee die stärkere Seite geworden ist.

Die Aktivität der Roten Armee hat die Form von Gegenoperationen zur Abwehr der "Einkreisungs- und Ausrottungsfeldzüge" angenommen. Wenn von unseren Siegen die Rede ist, so handelt es sich hauptsächlich um Siege in den Gegenoperationen, also um strategische und operative Siege. Der Kampf gegen einen "Einkreisungs- und Ausrottungsfeldzug" war jedesmal eine Operation, die häufig aus einigen bis einigen Dutzend größeren und kleineren Gefechten bestand. Solange ein "Einkreisungs- und Ausrottungsfeldzug" nicht im wesentlichen zerschlagen war, konnte von einem strategischen Sieg oder einem siegreichen Abschluß der ganzen Ope-
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Sowohl bei den "Feldzügen" des Feindes als auch bei den Gegenoperationen der Roten Armee wurden die beiden Arten des Kampfes, Angriff und Verteidigung, angewandt, und in dieser Hinsicht gibt es keinen Unterschied zu anderen Kriegen in Vergangenheit oder Gegenwart, in China oder im Ausland. Die Besonderheit des chinesischen Bürgerkriegs jedoch ist der wiederholte Wechsel zwischen diesen beiden Arten im Laufe eines langen Zeitraums. Bei jedem seiner "Feldzüge" griff der Feind die sich verteidigende Rote Armee an, und die Rote Armee setzte dem feindlichen Angriff ihre Verteidigung entgegen - das war die erste Phase unserer Gegenoperation. Wenn sich der Feind gegen die angreifende Rote Armee verteidigte und die Rote Armee der feindlichen Verteidigung ihren Angriff entgegensetzte, dann war das die zweite Phase unserer Gegenoperation. Jeder "Feldzug" bestand aus diesen beiden Phasen, und sie wechselten einander im Laufe einer längeren Zeitperiode ab.

Mit dem wiederholten Wechsel im Laufe einer längeren Zeitspanne meinen wir die Wiederholung der Formen des Krieges und den Wechsel der Arten des Kampfes. Das ist eine für jedermann offenkundige Tatsache. "Einkreisungs- und Ausrottungsfeldzug" auf der einen und Gegenoperation auf der anderen Seite, das ist die Wiederholung der Formen des Krieges. In jedem "Feldzug" besteht der Wechsel der Arten des Kampfes darin, daß die erste Phase, in welcher der Feind unserer Verteidigung seinen Angriff entgegensetzt, während wir uns gegen den feindlichen Angriff verteidigen, von der zweiten Phase abgelöst wird, in der wir der feindlichen Verteidigung unseren Angriff entgegensetzen, während sich der Feind gegen unseren Angriff verteidigt.

Was aber den Inhalt des Krieges und der Kämpfe betrifft, so haben wir es hier nicht mit einer einfachen Wiederholung zu tun, sondern mit einer jedesmaligen Änderung. Auch das ist eine für jedermann offenkundige Tatsache. Es stellte sich hier die Gesetzmäßigkeit ein, daß mit jedem "Feldzug" und jeder Gegenoperation das Ausmaß größer, die Lage komplizierter und die Kämpfe erbitterter wurden.

Das heißt jedoch nicht, daß es da kein Auf und Ab gegeben hätte. Nach dem fünften "Einkreisungs- und Ausrottungsfeldzug"
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Was ist eine Niederlage der Roten Armee? Nur wenn eine Gegenoperation völlig gescheitert ist, kann man das, strategisch gesehen, als eine Niederlage bezeichnen, aber auch dann lediglich als eine teilweise und zeitweilige Niederlage. Denn eine totale Niederlage im Bürgerkrieg würde bedeuten, daß die Rote Armee restlos vernichtet ist, was jedoch niemals der Fall war. Der Verlust ausgedehnter Stützpunktgebiete und die Standortverlegung der Roten Armee stellten eine zeitweilige und teilweise Niederlage dar, aber keine endgültige und vollständige Niederlage, wenn auch diese Teilniederlage den Verlust von 90 Prozent des Mitgliederstands der Partei, der Truppenstärke der Roten Armee und des Umfangs der Stützpunktgebiete mit sich gebracht hat. Wir nennen diese Tatsache eine Fortsetzung der Defensive der Roten Armee und ihre Verfolgung durch den Feind eine Fortsetzung seiner Offensive. Das heißt, in dem Kampf zwischen dem "Feldzug" und der Gegenoperation verwandelte sich unsere Defensive nicht in eine Offensive, sondern wurde durch die Offensive des Feindes zerschlagen, und so wurde aus unserer Verteidigung ein Rückzug, aus dem Angriff des Feindes eine Verfolgung. Als jedoch die Rote Armee in ein neues Gebiet gelangt war, beispielsweise aus der Provinz Kiangsi und anderen Gegenden in die Provinz Schensi, kam es erneut zu einer Wiederholung der "Einkreisungs- und Ausrottungsfeldzüge". Deshalb sagen wir, daß der strategische Rückzug der Roten Armee (der Lange Marsch) eine Fortsetzung ihrer strategischen Verteidigung und die vom Feind durchgeführte strategische Verfolgung eine Fortsetzung seiner strategischen Offensive war.

Der chinesische Bürgerkrieg kennt - wie alle anderen Kriege der Vergangenheit und der Gegenwart, des In- und des Auslandes - nur zwei Grundarten des Kampfes: Angriff und Verteidigung. Die Besonderheit des chinesischen Bürgerkriegs besteht darin, daß sich eine lange Zeit hindurch "Einkreisungs- und Ausrottungsfeldzüge" und Gegenoperationen wiederholen und daß die beiden Kampfarten Angriff und Verteidigung einander abwechseln, wobei eine so bedeutsame Erscheinung wie die grandiose strategische Standortverle-
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Das gleiche gilt auch für eine Niederlage des Feindes. Der Feind erleidet eine strategische Niederlage, wenn sein "Einkreisungs- und Ausrottungsfeldzug" von uns zerschlagen wird, unsere Defensive zur Offensive wird, der Feind zur Defensive übergeht und erst eine Reorganisierung vornehmen muß, ehe er einen neuen "Feldzug" starten kann. Der Feind mußte nicht wie wir eine strategische Standortverlegung seiner Truppen in eine mehr als 10000 Kilometer entfernte Gegend vornehmen, weil er das ganze Land beherrscht und viel stärker ist als wir. Doch teilweise gab es auch solche Fälle bei seinen Truppenteilen. Es kam vor, daß in einigen unserer Stützpunktgebiete der Feind aus den von der Roten Armee eingekreisten weißen Stützpunkten ausbrach und sich in die weißen Gebiete zurückzog, um neue Angriffe zu organisieren. Wenn der Bürgerkrieg sich in die Länge zieht und die Siege der Roten Armee ein noch größeres Ausmaß annehmen, werden solche Fälle häufiger eintreten. Aber der Feind wird dabei nicht das gleiche Ergebnis erzielen können wie die Rote Armee, weil er nicht die Unterstützung durch das Volk genießt und zwischen seinen Offizieren und Soldaten keine Einheit herrscht. Sollte er die Standortverlegungen der Roten Armee über weite Entfernungen nachahmen, würde er unweigerlich vernichtet werden.

Zur Zeit der Linie Li Li-sans im Jahre 1930 begriff Genosse Li Li-san nicht den langwierigen Charakter des chinesischen Bürgerkriegs, bemerkte daher nicht, daß sich dieser Krieg nach dem Gesetz der eine lange Zeit hindurch stattfindenden Wiederholung der "Einkreisungs- und Ausrottungsfeldzüge" und ihrer Zerschlagung entwickelt (bis dahin hatte es bereits unter anderen drei solche "Feldzüge" im Grenzgebiet Hunan-Kiangsi und zwei in der Provinz Fukien gegeben), erteilte infolgedessen der noch in den Kinderschuhen steckenden Roten Armee den Befehl, die Stadt Wuhan anzugreifen, und ordnete einen bewaffneten Aufstand im ganzen Land an, um einen raschen Sieg der Revolution in China herbeizuführen. Damit beging er einen "links"-opportunistischen Fehler.

Die "linken" Opportunisten der Jahre 1931 bis 1934 glaubten ebenfalls nicht an das Gesetz der Wiederholung der feindlichen "Feldzüge". In dem Stützpunktgebiet an den Grenzen zwischen den Provinzen Hupeh, Honan und Anhui war die Theorie der sogenannten "Flankentruppen" verbreitet; dort waren manche führende Genossen der Ansicht, die Kuomintang-Armee sei nach ihrer Niederlage beim
|238| dritten "Einkreisungs- und Ausrottungsfeldzug" zu bloßen Flankentruppen geworden, während für weitere Angriffe gegen die Rote Armee die Imperialisten selbst die Hauptkräfte stellen müßten. Der auf einer solchen Einschätzung der Lage beruhende strategische Kurs forderte den Angriff der Roten Armee auf Wuhan. Im Prinzip stimmte das mit den Ansichten jener Genossen in der Provinz Kiangsi überein, die die Rote Armee zum Angriff auf Nantschang aufriefen, die gegen die Bemühungen um die Verschmelzung der einzelnen Stützpunktgebiete zu einem einheitlichen Ganzen sowie gegen die Taktik, den Feind tief ins Innere des eigenen Territoriums zu locken, auftraten, die die Eroberung der Hauptstadt und anderer Schlüsselstädte einer Provinz als Basis für den Sieg in dieser Provinz betrachteten und der Meinung waren, daß "der Kampf gegen den fünften ,Einkreisungs- und Ausrottungsfeldzug` die Entscheidungsschlacht zwischen dem revolutionären und dem kolonialen Weg" sein würde, usw. In diesem "linken" Opportunismus lag der Keim jener falschen Linie, an die man sich bei den Gegenoperationen zur Abwehr des vierten "Einkreisungs- und Ausrottungsfeldzugs" im Grenzgebiet Hupeh-Honan-Anhui sowie des fünften "Feldzugs" im Zentralen Gebiet in der Provinz Kiangsi gehalten hat, und dieser "linke" Opportunismus brachte die Rote Armee angesichts der wütenden "Feldzüge" des Feindes in eine hilflose Lage und fügte der chinesischen Revolution gewaltigen Schaden zu.

Die Ansicht, daß die Rote Armee unter keinen Umständen zu Defensivmaßnahmen greifen dürfe, stand in direkter Verbindung mit diesem "linken" Opportunismus, der die Wiederholung der "Einkreisungs- und Ausrottungsfeldzüge" leugnete. Auch das war durch und durch falsch.

Selbstverständlich hat die These, Revolutionen und revolutionäre Kriege seien offensiv, ihre richtige Seite. Revolutionen und revolutionäre Kriege sind, wenn sie vom Ausbruch zur Ausweitung, von klein zu groß, von der Machtlosigkeit zur Machteroberung, vom Fehlen einer Roten Armee zur Aufstellung einer solchen, vom Fehlen revolutionärer Stützpunktgebiete zu deren Schaffung fortschreiten, notwendigerweise offensiv, dürfen nicht konservativ bleiben; Tendenzen des Konservatismus müssen bekämpft werden.

Vollkommen richtig ist aber nur die These, daß Revolutionen und revolutionäre Kriege wohl offensiv sind, aber auch Verteidigung und Rückzug mit einschließen. Sich verteidigen, um angreifen zu können; sich zurückziehen, um vorrücken zu können; an den Flanken operieren,
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Von den beiden obenerwähnten Thesen mag die erste auf politischem Gebiet richtig sein; auf militärisches Gebiet übertragen, wird sie jedoch falsch. Und auch auf dem Gebiet der Politik ist sie nur in einer bestimmten Situation richtig (bei einem Vormarsch der Revolution), wird aber falsch, wenn man sie auf eine andere Situation überträgt (bei der die Revolution im Rückzug begriffen ist - in einem allgemeinen Rückzug wie in Rußland im Jahre I906 [15] und in China im Jahre I927 oder in einem teilweisen Rückzug wie in Rußland zur Zeit des Abschlusses des Vertrags von Brest-Litowsk im Jahre 1918 [16] ). Nur die zweite These gibt die volle Wahrheit richtig wieder. Der "linke" Opportunismus der Jahre 1931 bis I934, der sich mechanisch gegen die Anwendung von Mitteln der militärischen Verteidigung wandte, war nichts als eine ungewöhnlich naive Vorstellung.

Wann wird diese Wiederholung der "Einkreisungs- und Ausrottungsfeldzüge" zu Ende sein? Wenn sich der Bürgerkrieg in die Länge zieht, wird dies meiner Ansicht nach der Fall sein, sobald im Kräfteverhältnis zwischen uns und dem Feind eine grundlegende Änderung eingetreten ist. Sobald die Rote Armee stärker geworden ist als ihr Gegner, hört diese Wiederholung auf. Dann werden wir es sein, die Feldzüge unternehmen, um den Feind einzukreisen und zu vernichten, und dieser wird versuchen, sie abzuwehren; die politischen und militärischen Bedingungen werden es ihm aber nicht gestatten, die gleiche Position einzunehmen wie die Rote Armee während ihrer Gegenoperationen. Dann kann man mit Gewißheit sagen, daß diese Wiederholung der "Feldzüge", wenn schon nicht vollständig, so doch im großen und ganzen ihr Ende gefunden haben wird.

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