Mao Werke

 

KAPITEL 3

DIE BESONDERHEITEN DES REVOLUTIONÄREN KRIEGES IN CHINA

1. DIE BEDEUTUNG DIESER FRAGE

Jene Leute, die nicht zugeben, nicht wissen oder nicht wissen wollen, daß der revolutionäre Krieg in China seine Besonderheiten
|228| hat, setzen den Krieg der Roten Armee gegen die KuomintangTruppen dem Krieg im allgemeinen oder dem Bürgerkrieg in der Sowjetunion gleich. Die Erfahrungen des von Lenin und Stalin geleiteten Bürgerkriegs in der Sowjetunion haben Weltbedeutung. Alle kommunistischen Parteien, unter ihnen auch die Kommunistische Partei Chinas, betrachten diese Erfahrungen und ihre theoretische Verallgemeinerung durch Lenin und Stalin als ihren Wegweiser. Das bedeutet aber nicht, daß wir sie mechanisch auf unsere Verhältnisse anwenden sollen. Der revolutionäre Krieg in China ist in vieler Hinsicht durch Besonderheiten gekennzeichnet, die ihn vom Bürgerkrieg in der Sowjetunion unterscheiden. Es wäre natürlich ein Fehler, diese Besonderheiten nicht zu berücksichtigen oder sie zu leugnen. Das wurde durch unseren zehnjährigen Krieg voll und ganz bestätigt.

Unser Feind machte ähnliche Fehler. Er gab nicht zu, daß man im Krieg gegen die Rote Armee eine andere Strategie und Taktik anwenden müßte als in Kriegen gegen andere. Gestützt auf seine Überlegenheit in verschiedener Hinsicht, unterschätzte er uns und klammerte sich an seine alten Methoden der Kriegführung. So verhielt es sich sowohl in der Zeit seines vierten "Einkreisungs- und Ausrottungsfeldzugs" im Jahre I933 als auch vorher, und das Ergebnis war, daß der Feind eine Reihe von Niederlagen einstecken mußte. Der erste, der in der Kuomintang-Armee eine neue Ansicht in dieser Frage vorbrachte, war der reaktionäre General Liu We-yüan, dem dann Dai Yüä folgte. Schließlich wurde ihre Ansicht von Tschiang Kai-schek akzeptiert. So kam es zur Gründung des Offiziersausbildungskorps Tschiang Kai-scheks in Luschan [8] und zur Aufstellung der neuen reaktionären militärischen Prinzipien [9], die dann im fünften "Einkreisungs- und Ausrottungsfeldzug" angewandt wurden.

Als der Feind seine militärischen Prinzipien änderte, um sie den Verhältnissen, unter denen er gegen die Rote Armee zu kämpfen hatte, anzupassen, traten jedoch in unseren Reihen Leute auf, die wieder in den "alten Trott" verfielen. Sie bestanden darauf, daß man zu den Methoden zurückkehrt, die den allgemeinen Umständen entsprechen, weigerten sich, jeweils die Besonderheit einer jeden Situation in Betracht zu ziehen, verwarfen die von der Roten Armee in ihren blutigen Schlachten erworbenen Exfahrungen, unterschätzten die Kräfte des Imperialismus und der Kuomintang sowie die Stärke der Kuomintang-Armee, drückten vor den neuen reaktionären Prinzipien, die der Feind anwandte, ein Auge zu. Das Ergebnis war, daß bis auf das Schensi-Kansu-Grenzgebiet alle revolutionären Stütz-
|229| punktgebiete verlorengingen, die Stärke der Roten Armee von 300 000 auf einige Zehntausend Mann zurückging und sich die Mitgliederzahl der Kommunistischen Partei Chinas von 300 000 auf einige Zehntausend verringerte, wobei die Parteiorganisationen in den Kuomintang-Gebieten fast restlos zerschlagen wurden. Mit einem Wort, es folgte eine schwere historische Strafe. Diese Leute nannten sich Marxisten-Leninisten, aber in Wirklichkeit hatten sie vom Marxismus-Leninismus nichts gelernt. Lenin sagte, das innerste Wesen des Marxismus, seine lebendige Seele, bestehe in der konkreten Analyse einer konkreten Situation [10]. Und gerade das haben diese Genossen vergessen.

Daraus kann man ersehen, daß man ohne Verständnis für die Besonderheiten des revolutionären Krieges in China nicht imstande ist, diesen Krieg zu leiten und ihn auf den Weg des Sieges zu führen.

2. WAS SIND DIE BESONDERHEITEN DES REVOLUTIONÄREN KRIEGES IN CHINA?

Was sind nun die Besonderheiten des revolutionären Krieges in China?

Meiner Meinung nach gibt es vier hauptsächliche Besonderheiten. Die erste Besonderheit: China ist ein großes, halbkoloniales Land, das in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht ungleichmäßig entwickelt ist und die Revolution von 1924-1927 durchgemacht hat.

Diese Besonderheit besagt, daß der revolutionäre Krieg in China sich entwickeln und mit dem Sieg enden kann. Wir haben bereits damals (auf dem I. Parteitag des Hunan-Kiangsi-Grenzgebiets [11]) darauf hingewiesen, nachdem im Winter 1927 und im Frühjahr 1928, kurz nach dem Beginn des Partisanenkriegs in China, manche Genossen aus dem Djinggang-Gebirge an der Grenze der Provinzen Hunan und Kiangsi die Frage gestellt hatten: "Wie lange werden wir die rote Fahne noch hochhalten können?" Denn das war eine Frage von fundamentalster Bedeutung; ohne Beantwortung der Frage, ob die revolutionären Stützpunktgebiete in China und die chinesische Rote Armee bestehen und sich entwickeln könnten, hätten wir keinen einzigen Schritt vorwärts machen können. Der VI. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas im Jahre 1928 hat nochmals die Antwort auf diese Frage gegeben. Seither verfügt die revolutionäre Bewegung in China über eine richtige theoretische Grundlage.

|230| Betrachten wir nun diese Frage im einzelnen.

Die politische und wirtschaftliche Entwicklung Chinas verläuft ungleichmäßig. Nebeneinander bestehen gleichzeitig: eine schwächliche kapitalistische Wirtschaft und eine gewichtige halbfeudale Wirtschaft; ein paar moderne Industrie- und Handelsstädte und eine riesige Zahl stagnierender Dörfer; einige Millionen Industriearbeiter und mehrere hundert Millionen unter dem Joch der alten Gesellschaftsordnung leidender Bauern und Handwerker; große Militärmachthaber, die die Zentralregierung in Händen haben, und kleine Militärmachthaber, die in den einzelnen Provinzen herrschen; zwei Sorten von reaktionären Truppen, nämlich die sogenannte Zentralarmee unter Tschiang Kai-schek und die den Militärmachthabern der einzelnen Provinzen unterstellten sogenannten buntscheckigen Heerhaufen; einige wenige Eisenbahnen, Schiffahrtslinien und Autostraßen sowie eine Unmenge von Karrenwegen, Fußpfaden und Pfaden, die sogar für Fußgänger schwer passierbar sind.

China ist ein halbkoloniales Land. Die Uneinigkeit unter den Imperialisten führt zu einer Uneinigkeit unter den herrschenden Gruppen in China. Zwischen einem halbkolonialen Land, in dem mehrere Staaten schalten und walten, und einer Kolonie, in der ein einziger Staat das Heft in der Hand hat, besteht ein Unterschied.

China ist ein großes Land. "Ist es dunkel im Osten, so ist es hell im Westen; verfinstert sich der Süden, so leuchtet immer noch der Norden", und so braucht man denn nicht zu befürchten, daß es an Raum zum Manövrieren mangeln könnte.

China hat eine große Revolution erlebt, die den Boden für die Geburt der Roten Armee vorbereitete, die die Führerin der Roten Armee - die Kommunistische Partei - heranbildete und die die Volksmassen, die bereits einmal an der Revolution teilgenommen hatten, ausbildete.

Deshalb sagen wir eben: Die erste Besonderheit des revolutionären Krieges in China besteht darin, daß China ein großes halbkoloniales Land ist, das bereits eine Revolution durchgemacht hat und in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht ungleichmäßig entwickelt ist. Diese Besonderheit bestimmt von Grund auf nicht nur unsere politische, sondern auch unsere militärische Strategie und Taktik.

Die zweite Besonderheit: unser Feind ist stark.

Wie liegen die Dinge beim Gegner der Roten Armee, bei der Kuomintang? Die Kuomintang ist eine Partei, die die politische Macht an sich gerissen und ihre Herrschaft mehr oder weniger ge-
|231| festigt hat. Sie hat die Unterstützung der wichtigsten imperialistischen Staaten der Welt erlangt. Sie hat ihre Armee reorganisiert, sie zu einer Armee umgebaut, die sich von jeder anderen Armee in der Geschichte Chinas unterscheidet und im großen und ganzen den Armeen der modernen Staaten der Welt gleicht. Hinsichtlich ihrer Versorgung mit Waffen und sonstigem Kriegsmaterial übertrifft sie bedeutend die Rote Armee, und hinsichtlich ihrer zahlenmäßigen Stärke ist sie jeder Armee in der Geschichte Chinas und jedem stehenden Heer irgendeines anderen Landes der Welt überlegen. Zwischen der Kuomintang-Armee und der Roten Armee besteht ein himmelweiter Unterschied. Die Kuomintang kontrolliert die Schlüsselstellungen und Kommandohöhen in der Politik, in der Wirtschaft, im Verkehrswesen und im Kulturleben Chinas, ihre Macht erstreckt sich über das ganze Land.

Einem so starken Feind steht die chinesische Rote Armee gegenüber. Das ist die zweite Besonderheit des revolutionären Krieges in China. Aus dieser Besonderheit ergibt sich, daß sich die Kriegführung der Roten Armee in vieler Hinsicht sowohl von den Kriegen im allgemeinen als auch vom Bürgerkrieg in der Sowjetunion und vom Nordfeldzug unterscheiden muß.

Die dritte Besonderheit: die Rote Armee ist schwach.

Die chinesische Rote Armee ist nach der Niederlage der ersten großen Revolution entstanden, und zwar anfänglich in der Form von Partisaneneinheiten. Dies ereignete sich nicht nur in einer Periode der Reaktion in China, sondern auch in einer Periode der relativen politischen und wirtschaftlichen Stabilisierung in den reaktionären kapitalistischen Ländern der Welt.

Unser politischer Machtbereich befindet sich in verstreuten und isolierten gebirgigen oder abgelegenen Gegenden, wohin keinerlei Hilfe von außen gelangt. Die wirtschaftlichen und kulturellen Bedingungen in den revolutionären Stützpunktgebieten sind im Vergleich zu denen im Machtbereich der Kuomintang rückständig. In den revolutionären Stützpunktgebieten gibt es nur Dörfer und Kleinstädte. Diese Gebiete waren anfangs von sehr geringer Ausdehnung und sind auch in der Folge nicht viel größer geworden. Außerdem sind sie nicht stabil; die Rote Armee besitzt keine wirklich festen Stützpunkte.

Die Rote Armee ist zahlenmäßig schwach, schlecht bewaffnet und hat äußerst große Schwierigkeiten bei ihrer Versorgung mit Nahrungsmitteln, Bekleidung und sonstigen Materialien.

|232| Diese Besonderheit steht in krassem Kontrast zu der vorher erwähnten. Aus diesem krassen Kontrast ergeben sich Strategie und Taktik der Roten Armee.

Die vierte Besonderheit: die Führung durch die Kommunistische Partei und die Agrarrevolution.

Diese Besonderheit ist eine unausbleibliche Folge der ersten Besonderheit. Daraus ergeben sich zwei Aspekte. Erstens: Der revolutionäre Krieg in China kann - obwohl er in einer Periode der Reaktion in China und in der ganzen kapitalistischen Welt stattfindet - mit dem Sieg enden, weil er von der Kommunistischen Partei geleitet wird und die Unterstützung der Bauernschaft genießt; unsere Stützpunktgebiete stellen trotz ihrer geringen Ausmaße in politischer Hinsicht eine beträchtliche Macht dar, behaupten sich standhaft gegen das Kuomintang-Regime mit seinem riesigen Machtbereich und bereiten in militärischer Hinsicht den Kuomintang-Truppen bei ihren Angriffen sehr große Schwierigkeiten, weil die Bauern uns unterstützen; die Rote Armee verfügt trotz ihrer zahlenmäßigen Schwäche über eine große Kampfkraft, da ihre Angehörigen, geführt von der Kommunistischen Partei, aus der Agrarrevolution hervorgegangen sind und für ihre eigenen Interessen kämpfen, wobei zwischen Kommandeuren und Kämpfern eine politische Einheit besteht.

Zweitens: Die Kuomintang steht in krassem Kontrast dazu; sie ist gegen die Agrarrevolution und erhält daher keinerlei Unterstützung durch die Bauernschaft; obwohl sie eine zahlenmäßig starke Armee hat, kann sie die Massen der Soldaten und viele aus den Reihen der Kleinproduzenten stammende Offiziere der unteren Dienstgrade nicht dazu bringen, freiwillig ihr Leben für die Kuomintang in die Schanze zu schlagen; zwischen Offizieren und Soldaten besteht politisch eine Trennungslinie, was die Kampfkraft der Kuomintang-Armee herabmindert.

3. UNSERE DAHERRÜHRENDE STRATEGIE UND TAKTIK

Ein großes halbkoloniales Land, das eine große Revolution erlebt und sich in politischer wie in wirtschaftlicher Hinsicht ungleichmäßig entwickelt hat; ein starker Feind; eine schwache Rote Armee; die Agrarrevolution - das sind die vier hauptsächlichen Besonderheiten des revolutionären Krieges in China. Diese Besonderheiten bestimmen die Leitlinie sowie viele strategische und taktische Prinzipien des
|233| revolutionären Krieges in China. Aus der ersten und der vierten Besonderheit folgt, daß die chinesische Rote Armee imstande ist, sich zu entwickeln und ihren Feind zu besiegen. Aus der zweiten und der dritten Besonderheit folgt, daß sie sich nicht sehr rasch entwickeln und ihren Feind nicht in kurzer Zeit besiegen kann, das heißt, daß der Krieg langwierig sein wird und, falls er schlecht geführt wird, sogar mit einer Niederlage enden könnte.

Das sind eben die beiden Seiten des revolutionären Krieges in China. Diese beiden Seiten existieren nebeneinander, das heißt, es bestehen sowohl günstige als auch schwierige Bedingungen. Das ist das Grundgesetz des revolutionären Krieges in China, von dem sich viele andere Gesetze ableiten. Die Geschichte unseres zehnjährigen Krieges hat die Gültigkeit dieses Gesetzes bewiesen. Wer seine Augen vor diesem Grundgesetz verschließt, der ist außerstande, den revolutionären Krieg in China zu leiten und die Rote Armee zum Sieg zu führen.

Es ist durchaus klar, daß nachstehende prinzipielle Fragen eine richtige Lösung fordern. Wir müssen die strategische Orientierung richtig bestimmen, bei der Offensive dem Abenteurertum, in der Defensive dem Konservatismus entgegentreten, bei einer Truppenverlegung die Fluchtmentalität bekämpfen; gegen das Partisanentum in der Roten Armee auftreten, zugleich aber ihren Partisanencharakter anerkennen; in operativer Hinsicht langwierige Kampfhandlungen und in strategischer Hinsicht einen Krieg mit rascher Entscheidung ablehnen, dagegen einen langwierigen Krieg in strategischer und Kampfhandlungen mit rascher Entscheidung in operativer Hinsicht bejahen; stabile Frontlinien und Stellungskrieg verwerfen, bewegliche Frontlinien und Bewegungskrieg befürworten; Kampfhandlungen mit dem Ziel, den Gegner in die Flucht zu schlagen, verneinen, aber solche zur Vernichtung des Gegners bejahen; die Idee von Schlägen mit beiden Fäusten in zwei strategischen Richtungen bekämpfen, für die Idee von einem Schlag mit einer Faust in einer strategischen Richtung eintreten; das Prinzip eines aufgeblähten Hinterlandsapparates ablehnen, dagegen das Prinzip eines kleinen Hinterlandsapparates befürworten; eine absolute Zentralisierung des Kommandos bekämpfen, für dessen relative Zentralisierung eintreten; dem rein militärischen Gesichtspunkt sowie der Mentalität umherschweifender Rebellenhaufen [12] entgegentreten und die Rote Armee als die Propagandistin und die Organisatorin der chinesischen Revolution anerkennen das Banditentum [13] bekämpfen und für eine straffe politische Disziplin eintreten;
|234| das Militärmachthabertum verwerfen und eine innerhalb gewisser Grenzen gehaltene Demokratie sowie eine auf Autorität beruhende militärische Disziplin befürworten; eine falsche, sektiererische Kaderpolitik ablehnen und eine richtige bejahen; eine Politik der Selbstisolierung verwerfen und für die Gewinnung aller möglichen Bundesgenossen eintreten; und schließlich ein Stehenbleiben der Roten Armee auf der alten Stufe bekämpfen und ihre Höherentwicklung auf eine neue Stufe fördern. Mit der Behandlung der strategischen Probleme wollen wir all diese Fragen im Lichte der Erfahrungen des zehnjährigen blutigen revolutionären Krieges in China eingehend darlegen.

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