Anhang
Kanthers "PKK-Verbot" und seine Folgen
- Eine Chronologie -

Am 22. November 1993 verfügt Bundesinnenminister Kanther (CDU) das Verbot jeder Betätigung der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und der Nationalen Befreiungsorganisation (ERNK), das Verbot und die Auflösung der Berxwedan Verlags GmbH und der kurdischen Nachrichtenagentur Kurd-Ha, der „Föderation der patriotischen Arbeiter- und Kulturvereine aus Kurdistan in der Bundesrepublik e.V. (FEYKA Kurdistan)“ sowie von 29 örtlichen kurdischen Vereinen in Aachen, Berlin, Bielefeld, Bonn, Bremen, Bremerhaven, Celle, Dortmund, Duisburg, Düren, Frankfurt/Main, Freiburg, Hagen, Hamburg, Hannover, Heilbronn, Ingolstadt, Kassel, Koblenz, Köln, Leverkusen, Mannheim, München, Nürnberg, Rendsburg, Saarbrücken, Siegen, Stuttgart und Ulm und des „Kurdistan-Komitees e.V.“ in Köln. Begründung: „Die Tätigkeit der PKK sowie ihrer Teilorganisationen ERNK, Berxwedan Verlags GmbH und Kurd-Ha verstößt gegen den Gedanken der Völkerverständigung, gefährdet die innere Sicherheit, die öfentliche Ordnung und sonstige erhebliche Belange der Bundesrepublik Deutschland.“ Zur Erläuterung wird auf kurdische „Anschlagswellen“ in der Bundesrepublik im Jahr 1992 sowie im Juni und im November 1993 verwiesen. Als Verbotsgründe werden weiter genannt „innerparteiliche gewaltsame Auseinandersetzungen“ in PKK-Strukturen in der BRD 1987 und 1988. Im einzelnen heißt es dann u.a.: „Die PKK/ERNK richtet sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung. (...) Die von Anhängern/Sympathisanten der PKK/ERNK begangenen Straftaten in Deutschland und der Türkei mit dem Ziel, einen Teil des türkischen Staatsgebietes in einen noch zu gründenden kurdischen Staat zu überführen, erfüllen diese Voraussetzungen. Die Straftaten stören das friedliche Zusammenleben zwischen Kurden und Türken sowohl in der Türkei als auch in Deutschland.“ Zudem würden die kurdischen Aktionen in der BRD „das Verhältnis zum türkischen Staat“ „erheblich“ „stören“, türkische Stellen (ausdrücklich genannt wird u.a. die Ministerpräsidentin Tansu Ciller) hätten den Vorwurf erhoben, „die Bundesregierung dulde PKK-Aktivitäten auf deutschem Boden und kontrolliere sie nicht oder nur mangelhaft“. „Die politische Agitation der PKK und ihr nahestehender Organisationen hat zwischenzeitlich ein außenpolitisch nicht mehr vertretbares Ausmaß erreicht. (...) Diese Aktivitäten schädigen bereits heute Deutschlands Ansehen in der Türkei und die bilateralen Beziehungen erheblich.“ „Eine weitere Duldung der PKK-Aktivitäten in Deutschland würde diese deutsche Außenpolitik unglaubwürdig machen und das Vertrauen eines wichtigen Bündnispartners, auf das Wert gelegt wird, untergraben.“ (Alle Zitate aus der Verbotsverfügung). Praktisch zeitgleich mit den Verboten eröffnet die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe gegen eine unbekannte Zahl von kurdischen Politikern Ermittlungsverfahren wegen Bildung bzw. Unterstützung einer „terroristischen Vereinigung“.

In der Türkei werden von der Regierung Ciller am 10. Dezember die Büros der prokurdischen Tageszeitung Özgür Gündem überfallen, alle 210 Mitarbeiter festgenommen.

Am 21.12. kündigen 25 Anwältinnen und Anwälte der kurdischen Vereine an, daß sie Kanthers Verbot als „Dokument der juristisch dürftig verbrämten Beihilfe zum Völkermord am Volk Kurdistans“ einstufen, das „die Stimmen der Kurden aus der Türkei über die dortigen Zustände auch bei uns zum Schweigen bringen soll“, und daß sie die Verbote (mit Ausnahme der Betätigungsverbote gegen PKK und ERNK, deren völkerrechtliche Gültigkeit bestritten wird) beim Bundesverwaltungsgericht juristisch anfechten werden.

1994

Im Januar wird der kurdische Miteigentümer der Tageszeitung „Özgür Gündem“, Behcet Cantürk, von einem türkischen Kommando (wie heute bekannt ist, auf Befehl der Ministerpräsidentin Ciller) entführt und ermordet.

Mitte Januar weilt eine kurdische Delegation aus Mitgliedern der „Demokratie-Partei“ (DEP) und des Menschenrechtsverein IHD in der BRD, darunter der stellvertretende Vorsitzende der DEP, Remzi Kartal, der Bürgermeister der kurdischen Stadt Hakkari, Necdet Bulgan, der IHD-Vorsitzende Ercan Kanar u.a., und kritisiert das PKK-Verbot als „Ermunterung“ für den türkischen Staat bei seiner „Unterdrückungs- und Gewaltpolitik“.

In der Türkei verkündet Ministerpräsidentin Tansu Ciller, 1994 werde man die PKK „auslöschen“. Im Vorfeld der für den 27. März angesetzten Kommunalwahlen eskaliert der Terror gegen die DEP-Partei. Während einer Sitzung von Parteivertretern in Ankara explodiert eine Bombe, eine Person kommt ums Leben, 20 weitere werden verletzt. Anfang März wird die Immunität der sechs Abgeordneten der DEP im türkischen Parlament aufgehoben, die Abgeordneten (darunter Leyla Zana, Hatip Dicle, Orhan Dogan u.a.) wegen „Separatismus“ und Mitgliedschaft in bzw. Untersützung einer „bewaffneten Bande“ (gemeint PKK) verhaftet.

In der Bundesrepublik eskalieren zum kurdischen Nationalfest „Newroz“ die Konfrontationen der Polizei mit Kurdinnen und Kurden außerordentlich. In fast allen Städten werden Newroz-Veranstaltungen verboten, anreisende Busse auf der Autobahn von der Polizei angehalten,. Dabei kommt es zu heftigen Auseinandersetzungen bis hin zu Selbstanzündungen von Kurdinnen und Kurden. Besonders eskalieren die Auseinandersetzungen in Augsburg, wo CSU-Innenminister Beckstein die Stadt abriegeln läßt und jeden Versuch der Kurdinnen und Kurden, ihr Fest zu feiern, brutal angreifen läßt. Ca. 500 Personalienfeststellungen zur Einleitung von Ermittlungsverfahren sind die Folge, mindestens 17 Personen werden festgenommen, viele sollen so rasch wie möglich abgeschoben werden. In Mannheim zünden sich zwei kurdische Frauen, Nilgün Yildirim und Bedriye Tas, aus Protest gegen die Verbote und die Verfolgung ihres Volkes an und sterben. Gegen einen nachfolgenden Trauerzug in Mannheim von ca. 10000 Kurdinnen und Kurden zur Ehrung der Verstorbenen werden am 27. März bundesweit nach Presseberichten fast 32.000 Polizisten eingesetzt, um den Trauerzug zu verhindern. Der Marsch findet aber dennoch statt.

Die belgische Regierung erklärt, sie werde trotz Drängens der Türkei kein PKK-Verbot verhängen.

Am 24. März veröffentlichen 41 Anwältinnen und Anwälte aus Hamburg, Bremen, Berlin, Essen, Bochum, Hagen, Köln, Bonn, Frankfurt, Kassel, Saarbrücken, Freiburg, München und Nürnberg eine gemeinsame Erklärung gegen das seit 1993 bestehende „PKK-Verbot“ und fordern dessen Aufhebung. Die Verbote seien ohne ausreichende gerichtsverwertbare Tatsachen vornehmlich aus politischen Gründen beschlossen, würden verfassungsrechtlich garantierte Rechte einer ganzen Bevölkerungsgruppe aufheben und seien zudem gegenüber der Türkei das falsche Signal.

Am 26. März gibt die Bundesanwaltschaft die ersten Verhaftungen im Rahmen ihres Ermittlungsverfahrens gegen eine angebliche „terroristische Vereinigung“ innerhalb der PKK bekannt: Zwei kurdische „Gebietsleiter“ im Raum Wiesbaden seien verhaftet.

Am 12. April legt das „Newroz-Koordinationsbüro“ in Frankfurt der Öffentlichkeit erneut Berichte über den Einsatz deutscher Waffen gegen die kurdische Bevölkerung vor. Auf einer Bundestagsdebatte am nächsten Tag fordern die Grünen den Rücktritt von Außenminister Kinkel, weil er die deutsche Öffentlichkeit über diese Tatsache belogen habe.

Am 4. Mai verkündet Außenminister Kinkel für die Bundesregierung, daß sie die – vor einiger Zeit unterbrochenen – Waffenlieferungen an die Türkei wieder aufnehmen werde. Ein vertragswidriger Einsatz deutscher Waffen sei auch durch die zahlreichen Fotodokumente, die die Newroz-Delegationen der Regierung vorgelegt hatten, „nicht bewiesen“.

Am 18. Mai findet in Brüssel eine „Internationale Kurdistan-Konferenz statt“. Dort verkündet Kani Yilmaz für die ERNK-Europavertretung die Bereitschaft der PKK, „jeden von uns zu erwartenden Schritt für eine politische Lösung zu unternehmen“. Der PKK-Vorsitzende Öcalan wendet sich mit einer Friedensbotschaft an die Konferenz. Nach einem Bericht des IHD soll die türkische Armee allein in den letzten zwei Wochen 138 kurdische Dörfer zerstört haben, 35.000 Menschen seien auf der Flucht vor der Armee nach Südkurdistan (Irak).

Am 4./5. Juni werden in der Türkei erneut bekannte kurdische Geschäftsleute (Adnan Yildirim und Haci Karay) in Istanbul ermordet – wieder, wie heute bekannt ist, auf Befehl der Ministerpräsidentin Tansu Ciller und ihrer inzwischen als „Susurluk-Bande“ berüchtigten Gangster und Geheimdienstleute. Im Februar war auf die gleiche Weise der kurdische Rechtsanwalt Yusuf Ekinci in Ankara ermordet worden, im März die beiden Geschäftsleute Fevzi Arslan und Sahin Arslan. Auf eine Anfrage der PDS/LL im Bundestag an die Bundesregierung antwortet diese, sie wisse von diesem Morden nichts.

Am 14. Juni legt die Verteidigung der verbotenen kurdischen Vereine vor dem Bundesverwaltungsgericht in Berlin ein Gutachten von Prof. Dr. Norman Paech „zu den völkerrechtlichen Fragen der Verbotsverfügung des Bundesministeriums des Innern gegen kurdische Vereine und Organisationen in der BRD vom 22. November 1993“ vor. Darin kommt dieser zu dem Ergebnis „daß der türkisch-kurdische Krieg in Süd-Ost-Anatolien ein internationaler Konflikt im Sinne Art. 1 Abs. Protokoll I ist. In ihm kämpft die PKK als legitime Vertretung des kurdischen Volkes um die Gewährung des Selbstbestimmngsrechts und die Einhaltung der Menschenrechte. Abgesehen von völkerrechtswidrigen Angriffen auf Zivilpersonen und zivile Objekte ist ihr Kampf gegen das türkische Militär völkerrechtlich gerechtfertigt. Sie ist dementsprechend weder eine terroristische Vereinigung noch verstößt sie gegen den Gedanken der Völkerverständigung. Eine ,Störung des friedlichen Zusammenlebens zwischen Kurden und Türkei‘ liegt vielmehr in der Weigerung der türkischen Regierung, das Selbstbestimmungsrecht der Kurden anzuerkennen.“ (S. 37) Die dementsprechenden Vorwürfe von Bundesinnenminister Kanther in seiner Verbotsverfügung von 1993 gegen die PKK, die ERNK, das „Kurdistan Komitee“ u.a. seien dementsprechend unzutreffend bzw. nicht haltbar. „Nach alledem muß dem Bundesminister des Innern eine vollkommene Unkenntnis bzw. Nichtberücksichtigung des Rechts auf Selbstbestimmung vorgeworfen werden ...“ (S. 39)

Am 16. Juni wird in der Türkei die Demokratie-Partei (DEP) verboten. Die sechs Abgeordneten der DEP im türkischen Parlament sind zu diesem Zeitpunkt bereits dreieinhalb Monate in Haft, 24 Funktionäre der DEP wurden in der kurzen Zeit ihrer legalen Existenz von „unbekannten Tätern“ ermordet. Dem DEP-Vorsitzenden Yasar Kaya gelingt die Flucht nach Europa, wo er schon vor Verhängung des Verbots ein „DEP-Solidaritätsbüro“ errichtet.

Am 25. Juni demonstrieren in Frankfurt ca. 100000 Kurdinnen und Kurden auf einer Großdemonstration „für eine politische und demokratische Lösung in Kurdistan“. Aufgerufen hatten ca. 80 kurdische und deutsche Gruppen, darunter zahlreiche Kurdistan-Solidaritätsgruppen, medico, Pax Christi, Mitglieder von PDS, Grünen und Gewerkschaften u.v.a.m.

Am 1. Juli wird der kurdische Jugendliche Halim Dener, der erst kurz zuvor in die BRD geflohen war, von einer Zivilstreife (SEK) nachts beim Kleben von Plakaten mit dem Aufdruck der ERNK von hinten erschossen. Die Polizeiversion: „Versehentlich“ habe sich ein Schuß gelöst, als der schon verhaftete kurdische Jugendliche zu fliehen versucht habe.

Am 6. Juli verhängt das Bayerische Oberste Landesgericht sein Urteil gegen die (kurdischen) Besetzer des türkischen Generalkonsulats in München im Sommer 1993. Neun Angeklagte werden zu je viereinhalb Jahren Haft, einer zu zweieinhalb Jahren verurteilt. Drei weitere Angeklagte erhalten je drei Jahre Jugendstrafe. Alle Strafen erfolgen wegen „gemeinschaftlicher Geiselnahme“ in 21 Fällen.

Ebenfalls am 6. Juli lehnt das Bundesverwaltungsgericht den Antrag der Verteidigung von FEYKA Kurdistan auf Aufhebung des 1993 verhängten Verbots der Vereinigung ab. Die Vereinigung unterstütze die PKK/ERNK und müsse sich auch die Gewaltaktionen von 1992/1993 in Europa zurechnen lassen. Auch ein ähnlich lautender Antrag der Verteidigung des „Kurdistan-Komitees“ (auf „Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage ... gegen die Verbotsverfügung“ Kanthers von 1993) wird am 15. Juli vom Bundesverwaltungsgericht abgewiesen.

Am 9. Juli beteiligen sich etwa 30000 zumeist kurdische Demonstranten an einem „Trauermarsch“ für den erschossenen Halim Dener. Der Hannoveraner OB Herbert Schmalstieg (SPD) drückt in einer Grußadresse sein tiefes Bedauern über die Erschießung aus.

Vom 19. bis 21. Juli ist der türkische Generalstabschef Güres zu Besuch in der BRD. Das DEP-Exilbüro meldet am ersten Tag des Besuchs, die türkische Armee habe am 18. Juli die kurdische Stadt Lice erneut in Brand gesteckt. Seit dem 1.1.1993 habe die Armee 1.274 kurdische Dörfer niedergebrannt, zerstört, entvölkert.

Ebenfalls am 19. Juli setzt das Bundesverwaltungsgericht die 1993 verhängten Verbote Kanthers gegen 21 örtliche kurdische Vereine wieder außer Kraft. Die Argumentation des Bundesinnenministers, diese Vereine seien „Teilorganisationen von Feyka Kurdistan“, sei nicht haltbar.

Am 18. August wird eine Fahrradtournee von ca. 150 kurdischen Jugendlichen, die zur Tagung der UN-Menschenrechtskommission in Genf führen soll, bereits bei der Abreise in Bonn u.a. wegen Tragens von Halim-Dener-T-Shirts von der Polizei mit Schlagstöcken und Tränengas angegriffen, viele Jugendliche kommen verletzt ins Krankenhaus. Die Aktion wird später trotzdem fortgesetzt und kommt – trotz weiterer Angriffe – in Genf an, wo die Jugendlichen ihre Dokumente der UNO übergeben dürfen.

In Heilbronn werden am 2.9. vier kurdische Jugendliche wegen „Autobahnblockaden“ im Zusammenhang mit dem kurdischen Newrozfest zu 8 bzw. 6 Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. Allein in Baden-Württemberg sollen wegen dieser Vorwürfe ca. 40 Kurdinnen und Kurden inhaftiert sein, bundesweit über ca. 260.

Am 12.9. teilt der Kölner Polizeipräsident dem Vertreter des kurdischen Agri-Verlags mit, daß gegen ihn wegen Verdachts auf Verstoß gegen § 90a StGB (Verunglimpfung der BRD) ermittelt werde. Grund: Der „Kurdistan-Report“, der vom Verlag vertrieben werde, beschuldige deutsche Stellen der Beihilfe zum „Völkermord in Kurdistan“.

Ein für den 24.9. in Hannover geplantes kurdisches Kulturfestival wird verboten. Es findet darauf in der niederländischen Stadt Maastricht statt. Trotz erheblicher Schikanen durch deutsche Behörden bei der Anreise nehmen über 100.000 Kurdinnen und Kurden teil.

Vom 26.9. bis 3. Oktober führen kurdische Frauen einen „langen Marsch gegen den Völkermord in Kurdistan“ von Mannheim nach Straßburg zum Europaparlament durch. Auch dieser Marsch wird mehrfach von der deutschen Polizei angegriffen.

Am 28.9. verurteilt das Europäische Parlament das Verbot der DEP in der Türkei und friert die Beziehungen mit der türkischen Regierung wegen der zahlreichen Menschenrechtsverstöße ein.

Am 26.10. wird der ERNK-Europasprecher Kani Yilmaz in London auf dem Weg zu einem Gespräch mit britischen Abgeordneten und Mitgliedern des Oberhauses über eine mögliche politische Lösung des Kurdistankonflikts von der Polizei verhaftet.

Am 10.11. schreibt der PKK-Vorsitzende Öcalan an Staats- und Regierungschefs von EU, OSZE, an UNO und NATO und fordert diese auf, sich für eine politische Lösung der Kurdistan-Frage einzusetzen.

Am 3.12. explodieren (auf Befehl der Ministerpräsidentin Tansu Ciller) in den Büros der kurdischen Tageszeitung „Özgür Ülke“ mehrere Bomben, ein Redaktionsmitglied stirbt, fünf weitere werden schwer verletzt.

Am 8.12. verurteilt das Staatssicherheitsgericht in Ankara die DEP-Abgeordneten Leyla Zana, Orhan Dogan, Ahmet Turk und Selim Sadak wegen „Bildung und Zugehörigkeit zu einer bewaffneten Gruppe“ zu 15 Jahre Haft, den Abgeordneten Surhat Yurttas zu siebeneinhalb Jahren und die Abgeordneten Sirri Sakik und Mahmut Alinak zu je dreieinhalb Jahren.

1995

Am 16. Februar finden in Baden-Württemberg erneut bei 21 Vorstandsmitgliedern kurdischer Vereine Razzien der Polizei statt. Vorwurf: „Verdacht auf verbotene Propagandatätigkeit“ zugunsten der PKK.

Am 2. März verbietet Bundesinnenminister Kanther das „Kurdistan-Informationsbüro“ in Köln. Vorwurf: das Büro sei Nachfolgeorganisation des 1993 verbotenen „Kurdistan-Komitees“ in Köln. In fünf Bundesländern werden in Zusammenhang mit dem Verbot die Wohnungen von 9 Vereinsmitgliedern durchsucht. Am gleichen Tag verbietet in Bayern CSU-Innenminister Beckstein erneut 5 kurdische Vereine bzw. deutsch-kurdische Vereine. Das Bundesverwaltungsgericht hatte den Vollzug der von Bundesinnenminister Kanther gegen diese Vereine 1993 verhängten Verbote erst vor wenigen Monaten ausgesetzt, nun verbietet sie der Landesinnenminister- mit leicht abgewandelter Begründung – erneut.

Am 10. März tauschen Bundesinnenminister Kanther und sein türkischer „Kollege“ einen Briefwechsel aus. Darin versichert der türkische Innenminister, aus der BRD abgeschobene Kurdinnen und Kurden würden in der Türkei rechtsstaatlich einwandfrei behandelt. Der Bundesregierung ist dieser Briefwechsel seitdem Vorwand für die bedenkenlose Abschiebung von Kurdinnen und Kurden, trotz aller Foltervorwürfe gegen türkische Polizei von amnesty international, türkischen und kurdischen Menschenrechtsvereinen usw.

Am 15. März eröffnet die ERNK in Wien eine offizielle Vertretung.

Am 12. April gründet sich in Den Haag das „Kurdische Exilparlament“. Zum Präsidenten des Parlaments wird Yasar Kaya (ehemals DEP-Vorsitzender) gewählt. Dem Parlament gehören 65 Mitglieder an, darunter ein armenischer und ein assyrischer Abgeordneter.

Am 25.4. eröffnet die ERNK in Kopenhagen (Dänemark) eine offizielle Vertretung.

Am 4. Mai wendet sich der PKK-Vorsitzende Öcalan erneut in einem Aufruf an die deutsche Öffentlichkeit, fordert die Aufhebung des PKK-Verbots und Verhandlungen über eine politische Lösung der kurdischen Frage und erklärt:“Wir wollen nicht, daß es (in der BRD, d. Red.) zu Zwischenfällen kommt“.

Am 14. Mai stürmen Beamte von SEK und GSG-9 eine Veranstaltung kurdischer Studierender in Mainz und verhaften 111 Personen, von denen 70 bereits am gleichen Abend, weitere 40 am nächsten Tag wieder freigelassen werden. Eine Person bleibt in Haft, sie soll angeblich der „Europäischen Führungszentrale“ der PKK angehört haben und für Anschläge verantwortlich sein.

Am 25. Mai eröffnet die ERNK in Oslo ein offizielles Büro.

Am 1. Juni eröffnet die ERNK ein offizielles Büro in Finnland.

Ebenfalls am 1. Juni wird der kurdische Agri-Verlag in Köln verboten und geschlossen, 15 Tonnen kurdische Literatur werden beschlagnahmt.

Am 17. Juni demonstrieren in Bonn ca. 100000 Kurdinnen und Kurden „für eine politische Lösung in Kurdistan“.

Am 4. Juli beginnen in vielen Städten kurdische Hungerstreiks gegen das PKK-Verbot, gegen die deutschen Waffenlieferungen in die Türkei und für eine politische Lösung der kurdischen Frage. In Frankfurt wird die Aktion am 27.7. durch einen brutalen Polizeiangriff gewaltsam beendet, die IG Medien in Frankfurt wirft der Polizei darauf „Methoden türkischen Militärs“ vor. Gegen die Teilnehmer/innen des Hungerstreiks in Frankfurt werden in der Folge 300 Ermittlungsverfahren eingeleitet, einer der Teilnehmer wird ein Jahr später zu 3 Jahren Haft verurteilt, weil er eine „gefährliche und schwere Körperverletzung“ versucht habe – er hielt zum Zeitpunkt des Polizeiüberfalls ein Feuerzeug und den Gaskocher (für Tee!) der Hungerstreikenden in Händen. Auch in anderen Städten kommt es zu Polizeiangriffen auf die Hungerstreikenden. In Berlin stirbt die Kurdin Gülnaz Baghistani während des Hungerstreiks. An einem Trauermarsch zu ihren Ehren beteiligen sich am 1. August ca. 10.000 Kurdinnen und Kurden in Berlin.

Am 13.-16. Juli vereinbaren deutsche und türkische Sicherheitsbehörden nach einem Besuch des Staatsekretärs im Bundesinnenministerium, Dr. Kurt Schelter, in Ankara eine engere Zusammenarbeit. U.a. will die BRD bei der „Modernisierung“ der türkischen Polizei durch „Aus- und Fortbildung“ helfen.

Ende Juli tauchen in der deutschen Presse erstmals Falschmeldungen auf, die PKK könne womöglich als nächstes „Scharfschützen“ gegen deutsche Polizisten einsetzen. Quelle: Das niedersächsische Landesamt für Verfassungsschutz. Die PDS-Niedersachsen fordert daraufhin die Entlassung des VS-Chefs von Niedersachsen.

Am 10. November wird eine für den 18. November in Köln geplante Demonstration für eine politische Lösung in Kurdistan und gegen die Verbote kurdischer Vereine verboten. Die Anmelderin, die PDS-Abgeordnete Ulla Jelpke, sowie die Veranstalter (u.a. BUKO, ASTEN, Antifa-Gruppen, PDS NRW, Dritte Welt- und Kurdistan-Solidaritätsgruppen) seien „Strohleute“ für die PKK.

Am 15.11. wird der Kurdisch-Deutsche Freundschaftsverein Hevalti in Bremen von Innensenator Bortscheller (CDU) verboten. Bortscheller: Der Verein sei eine „ Volkstanzgruppe zur Förderung der PKK“.

Am 21. November verbietet der bayerische Innenminister Beckstein den „Kurdischen Elternverein“ in München. Bei der polizeilichen Schließung des Vereins kommt es zu heftigen Protesten der anwesenden Kurdinnen und Kurden, die sich zeitweise in den Vereinsräumen verbarrikadieren. 16 „Besetzer“ werden daraufhin verhaftet.

Am 24.11. eröffnet die ERNK ein Büro in Stockholm.

Am 13. Dezember setzt das Europaparlament die Zollunion mit der Türkei in Kraft. Die grüne Abgeordnete Claudia Roth kritisiert: „Schwarzer Tag für die Demokratie“. Gleichzeitig mit dem Beschluß über die Zollunion appelliert das EU-Parlament an die Konfliktparteien in der Türkei und Kurdistan, eine politische Lösung der Kurdenfrage anzustreben.

Am 14. Dezember verkündet der PKK-Vorsitzende Öcalan einen neuen einseitigen Waffenstillstand in der Türkei.

Bei den Wahlen zum türkischen Parlament am 24.12. scheitert die HADEP trotz Stimmenanteilen von bis zu 51% in den kurdischen Gebieten an der landesweiten 10%-Hürde.

1996

Am 13. Januar wird eine Veranstaltung des AStA der Uni Hannover und des Frauenreferats beim AStA unter Mitwirkung des „Freien Frauenverbands Kurdistan“ (YAJK) über „Auswirkungen des Krieges und der Flucht auf das Leben von Frauen. Vergewaltigung und Folter als psychologische Kriegsführung. Frauenorganisierung in Kurdistan, den türkischen Metropolen und Europa“, auf der u.a. die SPD-Landtagsabgeordnete Hulle Hartwig, die Grüne Landtagsabgeordnete Heidi Lippmann-Kasten und die PDS-Bundestagsabgeordnete Ulla Jelpke sprechen sollten, wegen unerträglicher Polizeipräsenz in den Veranstaltungsräumen kurz nach Eröffnung abgebrochen.

Am 19. Januar verabschiedet das EU-Parlament eine Entschließung „Zur Lage in der Türkei und zum Waffenstillstandsangebot der PKK“. Darin protestiert das Parlament gegen Menschenrechtsverletzungen und terroristische Taten in der Türkei, „begrüßt“ den einseitigen Waffenstillstand der PKK und fordert die türkische Regierung auf, auf dieses Angebot einzugehen, „Mittel und Wege zur Einleitung eines nationalen Dialogs zu prüfen“ und die inhaftierten DEP-Abgeordneten sofort freizulassen.

Am 20. Januar wird eine kurdische Demonstration in Dortmund aus Anlaß des 50. Jahrestages der kurdischen Republik Mahabad von der Polizei verboten. Es seien 60.000 Teilnehmer angekündigt, die Veranstaltung könne also von der PKK „umfunktioniert“ werden, heißt es in der Begründung.

Anfang Februar wird der „Appell von Hannover“ veröffentlicht, in dem unter Mitwirkung des Kurdistan-Informationszentrums in Köln zahlreiche deutsche Personen des öffentlichen Lebens für einen Dialog und eine politische Lösung der Kurdistan-Frage aufrufen sowie die Aufhebung der in der BRD verhängten Verbote gegen kurdische Vereine verlangen. In den folgenden Monaten steigt die Zahl der Unterzeichner/innen auf über 500 Personen an.

Am 11./12.2. kommt es in Stuttgart im Zusammenhang mit einer angeblich geplanten und verbotenen Demonstration des kurdischen Jugendverbands zu einer breitflächigen „Kurdenjagd“ in der Stadt. Alle irgendwie kurdische aussehenden Personen werden von Greifkommandos der Polizei (3000 Beamte sind im Einsatz) überprüft, 98 Personen festgenommen.

Am 12. Februar verbreiten das Bundesamt für Verfassungsschutz und das BKA an die Presse Warnungen vor angeblich drohenden neuen „Gewalttaten“ der PKK gegen deutsche und türkische Einrichtungen in der BRD. Das Kurdistan-Informationszentrum in Köln protestiert, dies sei eine „Täuschung der Öffentlichkeit“.

Am 9. März kommt es bei einer Demonstration von etwa 1500 kurdischen und deutschen Frauen in Bonn aus Anlaß des Internationalen Frauentages zu schweren Auseinandersetzungen mit der Polizei.

Eine für den 16. März angemeldete große kurdische Demonstration in Dortmund wird am 12. März verboten. U.a. weil die Demonstration unter der Losung „Politische und demokratische Lösung in Kurdistan“ sich auf den einseitigen Waffenstillstand der PKK positiv beziehe, sei eine Steuerung durch die PKK erkennbar. In der Folge kommt es zu einer polizeilichen Abriegelung des Landes NRW, an allen größeren Straßen, Bahnhöfen, Grenzübergängen, Autobahnen usw. werden einreisende Kurdinnen und Kurden festgenommen, zurückgeschickt, an der Einreise gehindert usw. Dabei kommt es zum Teil auch zu heftigen Ausschreitungen von kurdischer Seite gegen die Polizei. In der Folge überschlägt sich die Presse gegen kurdische „Gewalttäter“ in der BRD, es kommt zu einer regelrechten Hysterie. Außenminister Kinkel spricht von kurdischen „Mordkommandos“, durch die er sich persönlich bedroht fühle. Der kurdische Dachverband YEK-KOM appelliert an die deutschen Behörden, zu einem „Dialog“ zurückzukehren, Grüne, Flüchtlingsorganisationen, PDS, Gewerkschaften u.a. kritisieren die Eskalationspolitik in Dortmund und das PKK-Verbot. CDU/CSU und FDP dagegen kündigen eine Verschärfung der Strafgesetze und der Abschiebungsregelungen gegen kurdische Straftäter und Verdächtige an.

Am 23./24. März verurteilt der 20. Strafverteidigertag in Essen das „PKK-Verbot“. Die Bundesrepublik habe damit die „politische Auseinandersetzung mit dem kurdischen Unabhängigkeitskampf zugunsten einer polizeilich/polizeistaatlichen Unterdrückung aufgegeben.“ Das Verbot verstoße gegen Völkerrecht und nehme der kurdischen Bevölkerung in der BRD ihre „Grund- und Freiheitsrechte“.

Am 3. April teilt Bundesinnenminister Kanther mit, daß er die Verbote von 20 örtlichen kurdischen Vereinen nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts „aus formalen Gründen“ aufgehoben habe. Er halte die Vereine weiterhin für „verbotsbedürftig“. Betroffen seien kurdische Vereine in NRW, Berlin, Bremen, Hessen, Baden-Württemberg, Hamburg, Schleswig-Holstein, Saarland. Tatsächlich hat zu diesem Zeitpunkt lediglich Bayern sofort nach der Aussetzung von Kanthers Verboten eigene Vereinsverbote verhängt.

Am 4. April strahlt der britische Sender BBC ein Interview mit dem PKK-Vorsitzenden Öcalan aus, in dem er diesen nach den in Deutschland in der Presse kursierenden angeblichen Drohungen der PKK gegen deutsche Politiker befragt. Öcalan nennt diese Drohungen frei erfunden, Gewaltaktionen in Deutschland seien „sinnlos und naiv“ und würden von ihm abgelehnt.

Am 10. April beginnt in Stuttgart ein dritter §129a-Prozeß wegen angeblicher Mitgliedschaft und/oder Unterstützung einer „terroristischen Vereinigung in der PKK“, diesmal gegen drei kurdische und einen türkischen Angeklagten.

Am 26. April verbietet der SPD-Innenminister Birzele von Baden-Württemberg den Deutsch-Kurdischen Freundschaftsverein in Stuttgart. Dieser fördere und ermögliche in den von ihm gemieteten Vereinsräumen und auf seinen Veranstaltungen systematisch die Fortsetzung der Tätigkeit der verbotenen PKK.

Am 8. Mai beginnt vor dem Landgericht Hannover der Prozeß gegen den SEK-Beamten Klaus T. wegen Tötung des kurdischen Jugendlichen Halim Dener vor knapp 2 Jahren in Hannover. Das Verfahren platzt nach wenigen Verhandlungstagen wegen schwerer Formfehler der Kammer.

Am 13. Mai wird der verantwortliche Redakteur der Zeitschrift „Biji – Informationen aus Kurdistan und der BRD“ wegen 10 Verstößen gegen das „PKK-Verbot“ durch Abdruck von PKK-, ERNK- oder ARGK-Dokumenten verurteilt.

Am 24. Mai melden Zeitungen: Deutsche und französische Firmen wollen der Türkei 30 Kampfhelikopter vom Typ „Puma“ verkaufen. Die Verhandlungen stünden kurz vor dem Abschluß.

Am 27. Mai bringen Prof. Gottstein (IPPNW), Prof. U. Albrecht (Berlin), Prof. Norman Paech (Hamburg) und Hans Branscheidt (medico international) von einem Besuch beim PKK-Vorsitzenden einen Brief mit, in dem dieser auf den anhaltenden Waffenstillstand hinweist, sein Interesse an einer politischen Lösung des Kurdistan-Konflikts unterstreicht und PKK-Anhänger in der BRD auffordert, „die Rechtsordnung ihrer demokratischen Gastländer zu befolgen“.

Am 15. Juni demonstrieren in Hamburg unter der Losung „Frieden jetzt“ mehrere zehntausend Kurdinnen und Kurden. Der Innensenator und der Regierende Bürgermeister senden Grußbotschaften und bedanken sich für den friedlichen Ablauf.

Am 18. September durchsuchen Polizisten in Baden-Württemberg in Stuttgart, Tübingen und Reutlingen Privatwohnungen und Büros. Betroffen sind Mitglieder des „Stuttgarter Komitees zur Unterstützung der politischen Gefangenen“ und des „Kurdischen Kultur- und Sportvereins Tübingen“. Anlaß ist u.a. ein Flugblatt, in dem das Vorgehen der Polizei gegen Kurdinnen und Kurden als „immer brutaler“ eingestuft wird. Das weckt den Verdacht einer Straftat nach § 90a („Verunglimpfung der BRD“) und der Zuwiderhandlung gegen das PKK-Verbot.

Am 19.9. verurteilt das EU-Parlament erneut die Menschenrechtsverletzungen in der Türkei, den Plan der Türkei, eine „Sicherheitszone“ in Südkurdistan (Nordirak) zu errichten, und fordert u.a. die Freilassung der inhaftierten kurdischen Abgeordneten der DEP. Die Türkei komme ihren Verpflichtungen in Menschenrechtsfragen, die sie auch mit dem Vertrag über die Zollunion bekräftigt habe, nicht nach. Alle Mittel für die Türkei aus dem MEDA-Programm werden gesperrt.

Am 21. September findet in Köln im Müngersdorfer (Fußball)Stadion wieder ein „Friedensfestival Kurdistan“ statt. Bundesinnenminister Kanther hatte in Briefen an den NRW-Innenminister bis zuletzt vergeblich versucht, diesen zu einem Verbot zu bewegen, das Festival sei „von der PKK gesteuert“. Zwischen 60000 und 70000 Kurdinnen und Kurden nehmen teil.

Im Oktober wird bekannt, daß die BRD zwei Fregatten an die Türkei liefern wird. Die Bundesregierung finanziert dies mit 150 Millionen DM Zuschuß.

Am 22. Oktober werden zwei kurdische Angeklagte in Stuttgart entlassen, gleichzeitig im gesamten Bundesgebiet über 100 Durchsuchungen durchgeführt. Vorwürfe sind u.a. Spendengelderpressung, Fortsetzung einer verbotenen Vereinigung usw. Beweise: ein „Zeuge vom Hörensagen“ (Spitzel). Die Freilassung der beiden inhaftierten Kurden am gleichen Tag war vom Gericht angeordnet worden, das zugleich das §129a-Verfahren gegen sie einstellt. Begründung: Die Beweismittel stammten aus illegalen Lauschangriffen der Polizei gegen kurdische Vereinsräume.

Rechtsanwalt Hans-Eberhard Schultz veröffentlicht Anfang November eine Übersicht über § 129a-Verfahren gegen Kurdinnen und Kurden in der BRD. Danach sind zu der Zeit 3 kurdische Personen aus früheren Prozessen rechtskräftig wegen Verstoßes gegen § 129a in Haft. Gegen 24 weitere, die schon inhaftiert sind, werde ermittelt, davon ist gegen 15 Inhaftierte der Prozeß eröffnet. Die BAW habe gegen 50 weitere Gesuchte fertige Haftbefehle.

Mitte November beschließt der Bundestag eine drastische Verschärfung der Abschiebungsbestimmungen. So sollen künftig Personen beim bloßen Verdacht einer Straftat abgeschoben werden können – eine gerichtliche Überprüfung der polizeilichen Beschuldigung ist nicht mehr nötig.

Am 13. Dezember beantwortet die Bundesregierung zwei Anfragen der PDS-Abgeordneten Ulla Jelpke (PDS). Sowohl die Fragen nach rechtskräftigen Urteilen gegen angebliche „PKK-Anhänger“ wegen Rauschgifthandel (Drucksache 13/6580) wie auch wegen angeblicher „Spendengelderpressungen“ (Drucksache 13/6579) kann die Bundesregierung nicht beantworten, da die Bundesregierung darüber keine Statistik führe. Was den Vorwurf des Drogenhandels betrifft, kann die Bundesregierung nur bestätigen, daß türkische Stellen die PKK beschuldigen.

1997

Am 18. Januar stürmt die Polizei kurdische Vereinsräume in Kassel. 40 Personen werden durchsucht, darunter Frauen, alte Leute und Kinder, ihr persönliches Geld unter demVorwand, es handele sich um „Spendengeld für die PKK“, beschlagnahmt. Kinderbücher und Musikkassetten werden beschlagnahmt, alle Anwesenden festgenommen.

Am 21. Januar stellt ein Frankfurter Richter in einem Verfahren gegen Drogenhändler in seiner mündlichen Urteilsbegründung fest, daß die frühere türkische Ministerpräsidentin Tansu Ciller tief in den Heroinhandel verstrickt sei. Die beiden Drogenhändler verfügten über „exzellente Verbindungen zur türkischen Regierung“. Die türkische Regierung reagiert empört. Eine Anfrage der PDS-Abgeordneten Ulla Jelpke nach „möglichen kriminellen Verstrickungen von türkischen Amtsträgerinnen und Amtsträgern und deren Verbindungen in die Bundesrepublik Deutschland“, in der auch nach den Kenntnissen der Bundesregierung über den „Susurluk“-Skandal und mögliche Einreisen des Mafiosi Catli in die BRD trotz internationalen Haftbefehls gefragt wird, beantwortet die Bundesregierung ausweichend. (Drucksache 13/7183)

Seit Anfang des Jahres häufen sich Meldungen, daß in die Türkei abgeschobene Kurdinnen und Kurden dort spurlos verschwinden. Am 25. März antwortet die Bundesregierung auf eine Anfrage der PDS-Abgeordneten Ulla Jelpke wegen Folterungen und „Verschwinden“ von in die Türkei abgeschobenen Kurdinnen und Kurden. Einzelne Vorwürfe seien ihr bekannt, aber zu weiteren Nachforschungen oder zu einer Änderung ihrer Politik sehe sie keinen Anlaß. Die türkischen Beteuerungen einer „rechtsstaatlich einwandfreien“ Behandlung abgeschobener Personen würden von Bonn nicht bezweifelt. (Drucksache 13/7156 und 7157)

Am 9. April bestätigt der BGH ein Urteil gegen den presserechtlich Verantwortlichen der Zeitschrift „Biji – Informationen aus Kurdistan“ und hebt den Freispruch des Redakteurs des „Kurdistan-Rundbriefs“ aus der 1. Instanz auf. Tenor beider Urteile: Die Veröffentlichung von Dokumenten von PKK und ERNK sei nach dem von Kanther verhängten PKK-Verbot strafbar, die Pressefreiheit eingeschränkt.

Auf dem 21. Strafverteidigertag in Kassel verabschieden am 13. April 500 Anwältinnen und Anwälte bei wenigen Gegenstimmen eine Resolution, die die Aufhebung des PKK-Betätigungsverbots fordert. Das Verbot habe zu „Hunderten von Verfahren bei den Staatsschutzkammern der Landgerichte“ geführt sowie zu noch mehr Verfahren wegen angeblicher „Nötigung“ (Straßenblockaden) usw. Es habe sich „als Mittel der Eskalation mit der zwangsläufigen Folge immer weiterer polizeilicher Maßnahmen und Strafverfolgung“ erwiesen und müsse aufgehoben werden. Nötig sei „Deeskalation und offene politische Auseinandersetzung auch unter Anerkennung der Menschenrechte und des Selbstbestimmungsrechtes des kurdischen Volkes“.

Vom 17. bis 20. April reist eine Delegation aus Vertretern von Pro Asyl, dem früheren NRW-Innenminister Schnoor (SPD). des Landeskirchenrats Rheinland u.a. durch die Türkei. In ihrem öffentlichen Abschlußbericht stellen sie als Ergebnisse ihres Besuches u.a. fest: „Systematische Folter, vom Staat gedeckt“, „zunehmende Rechtsunsicherheit und Unberechenbarkeit durch die Aushöhlung und Zerstörung demokratischer Institutionen“, „Behinderung und Zerstörung der kurdischen Kultur und der kurdischen Sprache“ und eine akute „Rückkehrgefährdung abgeschobener Asylbewerber/innen aus Deutschland.“

Am 26. April beteiligen sich in Düsseldorf etwa 65.000 Kurdinnen und Kurden an einer Demonstration „Zeit für Frieden in Kurdistan“.

Am 29. Mai beginnt der zweite Anlauf im Prozeß gegen den SEK-Beamten Klaus T. wegen Erschießung des kurdischen Jugendlichen Halim Dener im Sommer 1995 in Hannover beim Plakatekleben. Das Verfahren endet mit dem Freispruch des SEKlers.

Am 6. Juli werden in München die Räume des „Vereins für interkulturelle Zusammenarbeit – Mesopotamia“ von SEK und Bereitschaftspolizei durchsucht. Vorwand ist ein geplanter Hungerstreik, in dem alewitische Vereine an das Massaker von Siwas erinnern wollen, bei dem 1993 35 alewitische Intellektuelle und Künstler von islamischen Fundamentalisten in der Türkei ermordet wurden. Die Münchner Polizei vermutet einen „Verstoß gegen das PKK-Verbot“.

Am 8. August bestätigt das Bundesjustizministerium in einer Rechtsauskunft in einem Asylverfahren vor dem VG Gießen einen beständigen Datenaustausch zwischen deutschen und türkischen Justizbehörden, Polizei usw. Grundlage sind mehrere Abkommen, so das „Europäische Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen“ aus 1959 plus Zusatzprotokolle, das „Europäische Übereinkommen zur Bekämpfung des Terrorismus“ von 1997 u.a. Danach werden den türkischen Stellen regelmäßig alle Strafnachrichten übersandt sowie auf Ersuchen auch Daten zu nicht rechtskräftig abgeschlossenen Ermittlungsverfahren.

Am 20. August durchsuchen 400 Polizeibeamte 18 Wohnungen von Kurdinnen und Kurden und sechs Vereine. Sechs Personen werden festgenommen. Nach sieben weiteren wird gefahndet. Vorwurf: Spendengelderpressung. Beweis: 2 verletzte Personen sowie 10 weitere Zeugen, die angeblich „wie Spitzenpolitiker rund um die Uhr“ geschützt werden müßten.

Der „Friedenszug Musa Anter“, der am 26. August in Brüssel nach Diyarbakir aufbrechen sollte, um für ein Ende des Krieges und eine politische Lösung der Kurdenfrage zu werben, kann nicht fahren. Bundesinnenminister Kanther weist kurz vor Abfahrt des Zuges den Bundesgrenzschutz an, nicht-deutsche Mitreisen des Zuges an der Einfahrt zu hindern, da der Verdacht bestehe, sie würden auf dem Boden der BRD gegen Strafgesetze verstoßen wollen. Darauf kündigt die Bundesbahn den Vertrag über den Zug. Die Teilnehmer müssen mit Flugzeugen nach Istanbul fliegen, ihr Versuch, von dort mit dem Bus nach Diyarbakir zu gelangen, scheitert kurz vor der Stadt an einer türkischen Militärsperre, die definitiv erklärt, bei Weiterfahrt werde geschossen.

Am 7. September beteiligen sich erneut 70000 Kurdinnen und Kurden im Müngersdorfer Stadion in Köln an einem kurdischen Kulturfestival.

Am 24.9. wird bekannt, daß die Bundesregierung an die Türkei „Beobachtungs- und Aufklärungsgeräte zur mobilen Grenzüberwachung einschließlich Satellitentelefonen“ liefern will. Wert der Lieferung: 61,5 Mio. DM. Empfänger: der Distriktgouverneur von Diyarbakir. Die Bundesregierung hilft mit einer Bürgschaft. Die Grünen im Bundestag beantragen, die Genehmigung für die Lieferung zurückzunehmen (Drucksache 13/8564).

Am 13. Oktober endet der §129a-Prozeß gegen kurdische Angeklagte in Frankfurt. Die drei Kurden werden zu Haftstrafen von zweieinviertel, sechseinhalb und elf Jahren verurteilt wegen „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“. Damit werden sie für zahlreiche Taten in Hessen, bei denen es 1993 in Wiesbaden sogar einen Toten gab, politisch und strafrechtlich verantwortlich gemacht, obwohl z.B. das Verfahren wegen des Wiesbadener Anschlags gegen kurdische Beschuldigte schon vor Jahren eingestellt worden war und damals z.B. das zuständige Gericht eine Steuerung des Wiesbadener Brandanschlags auf ein türkisches Vereinslokal durch die PKK für nicht erwiesen hielt.

Am 19. Oktober erhält der kurdische Schriftsteller Yasar Kemal den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Bei der Preisverleihung in Frankfurt greift der Schriftsteller Günter Grass die Kurden- und Flüchtlingspolitik der Bundesregierung scharf an.

Vom 3. bis 26. November versucht der kurdische Dachverband YEK-KOM mit einer Rundreise unter der Losung „Dialog statt Verbot“, durch Infoveranstaltungen und Besuche bei Landtagen auf eine Aufhebung des PKK-Verbots hinzuwirken. In mehreren Städten wird die Delegation freundlich empfangen, in Niedersachsen und vor allem in Bayern kommt es dagegen zu erheblichen Behinderungen bis hin zu direkten Verboten von Informationsständen und Kundgebungen. Am Ende übergeben die Teilnehmer/innen der Innenministerkonferenz in Schwerin ihre Forderungen. Diese lehnt eine Aufhebung des PKK-Verbots ab. Im Zusammenhang mit der Rundreise veröffentlichen grüne Politiker aus Schleswig-Holstein, Hamburg, Bremen, Niedersachsen und Berlin eine „Norddeutsche Erklärung gegen das PKK-Verbot“.

Am 9. Dezember bestätigt das Bundesverwaltungsgericht in Berlin das von Kanther verhängte Verbot des „Kurdistan-Komitees“ in Köln, weil sich das Komitee in die Strukturen der PKK eingefügt und innerhalb dieser Strukturen „arbeitsteilig“ mitgewirkt habe und sich von den „Anschlagswellen“ von 1993 nicht distanziert habe. Die Verteidigung kündigt Revision beim Bundesverfassungsgericht an.

1998

Am 15.1. verabschiedet das Europaparlament im Zusammenhang mit der kurdischen Fluchtwelle eine Resolution, die die italienische Position in dieser Frage stützt und eine internationale Konferenz zur Lösung des „Kurdenproblems“ vorschlägt.

Am 11. Februar verkündet das OLG Celle das Urteil gegen Kani Yilmaz: siebeneinhalb Jahre Haft. Da der Vollzug der Strafe zugleich mit dem Urteil nach der halben Haftzeit beendet werden soll („Halbstrafenregelung“), wird er gleich nach der Urteilsverkündung freigelassen.

Zusammenstellung: Rüdiger Lötzer, 26.2.1998

 


[Zum Inhaltsverzeichnis] [Zum Seitenanfang]