Verkehrte Gerichtswelt

Freispruch im Halim-Dener-Prozeß. Anmerkungen zu einem denkwürdigen Strafprozeß wegen des polizeilichen Todesschusses auf Halim Dener

von RA Dr. Rolf Gössner

Am 27. Juni 1997 hat die 3. Strafkammer des Landgerichts Hannover den wegen fahrlässiger Tötung angeklagten SEK-Polizeibeamten Klaus T. freigesprochen. Das Gericht folgte in allen wesentlichen Punkten den Einlassungen des Angeklagten – und damit jener Version, die bei der Tötung des kurdischen Jugendlichen Halim Dener durch einen Schuß aus dem Dienstrevolver von einem Unglücksfall ausgeht. Danach sei dem Angeklagten im Juni 1994 beim Versuch der Festnahme des späteren Opfers und während eines anschließenden „Gerangels“ der Revolver aus dem Holster gefallen. Der Schuß müsse sich beim Zurückführen der Waffe und Losreißen des Flüchtenden unbeabsichtigt gelöst haben – wobei Halim Dener aus einer Entfernung von ca. 10 cm in den Rücken getroffen wurde und wenig später verblutete. Der 16jährige hatte Plakate für eine PKK-nahe Organisation geklebt, die in Deutschland mit einem Betätigungsverbot belegt ist.

Das Gericht billigte dem Angeklagten zu, daß er in dieser Streß-Situation, in der er einen unbewaffneten 16jährigen Plakatekleber festhalten und gleichzeitig seine aus dem Holster gefallene Waffe holstern wollte, „deutlich überfordert“ gewesen sei. Der Angeklagte habe den Schuß unter Streß in einer außergewöhnlichen Situation unabsichtlich abgegeben. Bloße Unvorsichtigkeit sei keine Fahrlässigkeit. Die Situation sei so dramatisch zugespitzt gewesen, „daß auch ein ausgebildeter SEK-Beamter sie nicht in den Griff bekommt“, urteilte das Gericht über die „Fähigkeiten“ der besonders geschulten Polizisten des Spezialeinsatzkommandos. Die Grundlage für diese Argumentation lieferte das Gutachten eines für das SEK tätigen Unfallforschers und Sachverständigen für Sensomotorik, obwohl ein Schußwaffensachverständiger auf Grundlage eines eigens durchgeführten Experiments eine unwillkürliche Schußabgabe unter solchen Umständen nach menschlichem Ermessen für ausgeschlossen hält. Immerhin muß bei der Schußabgabe mit dem benutzten Revolver ein hoher, kraftaufwendiger Abzugswiderstand von 4,3 kg überwunden werden, um einen Schuß aus der nicht vorgespannten Waffe auszulösen. Wie der Angeklagte die Waffe aufgenommen habe und die Schußabgabe tatsächlich erfolgte, konnte im Verfahren nicht geklärt werden.

Die Vertreter der Nebenklage haben Revision gegen das Urteil eingelegt.

Das Ermittlungs- und Strafverfahren gegen den Polizeibeamten dauerte insgesamt drei Jahre; die Ermittlungen waren kennzeichnet durch eine Reihe von Eigentümlichkeiten, die Hauptverhandlung fand unter strengen Sicherheitsbedingungen statt – besonders kraß beim ersten Anlauf 1996 im Oberlandesgericht Celle, ein wenig moderater bei der Neuauflage 1997 vor dem Landgericht Hannover, die notwendig wurde, weil der Prozeß 1996 wegen Erkrankung zweier Richter geplatzt war. Ein in jeder Hinsicht ungewöhnlicher Strafprozeß fand mit dem Freispruch sein konsequentes Ende – zeigte er doch in aller Deutlichkeit, wie anders als gewöhnlich Ermittlungen und Strafverfahren verlaufen, wenn es sich um einen Polizeibeamten als Angeklagten handelt:

Das Todesopfer: Der 16jährige Kurde Halim Dener aus Bingöl/Türkisch-Kurdistan war erst wenige Wochen in der Bundesrepublik. In Niedersachsen hatte er Asyl beantragt und dies damit begründet, daß er als Kurde in der Türkei verfolgt werde: Er war vor seiner Ausreise nach Deutschland in der Türkei eine Woche lang inhaftiert gewesen und gefoltert worden. Sein Heimatdorf ist, wie unzählige andere kurdische Dörfer zuvor, von der türkischen Armee niedergebrannt worden. Deners Aufenthalt in Niedersachsen wurde vorläufig gestattet.

Plakatekleben als „terroristisches“ Delikt: Halim Dener wurde von zwei Zivilpolizisten beim Plakatieren erwischt. Bei den inkriminierten Plakaten handelte es sich um solche der in Deutschland verbotenen „Nationalen Befreiungsfront Kurdistans“ (ERNK), die als Nebenorganisation der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) gilt, die in Deutschland teil- und zeitweise als „terroristisch“ eingestuft wurde und seit 1993 verboten ist. Auf diese Weise wurde aus dem harmlosen Plakatekleben – allenfalls als Ordungswidrigkeit oder Sachbeschädigung zu qualifizieren – ein quasi „terroristisches“ Delikt (Unterstützung bzw. „Werbung“ für eine verbotene bzw. terroristische Vereinigung und Verstoß gegen ein Vereinsverbot) – mit tödlichen Folgen für den „Delinquenten“.

In einer Nachvernehmung durch die Staatsanwaltschaft hatte der beschuldigte Polizeibeamte Klaus T. in diesem Zusammenhang ausgesagt, beim Anblick der jugendlichen Plakatierer habe er „nicht nur an eine Ordnungswidrigkeit oder eine Sachbeschädigung gedacht“; er habe vielmehr – wenn auch ohne nähere rechtliche Bewertung – den Verdacht geschöpft, es könne sich um eine strafbare Unterstützung der verbotenen PKK handeln – was ihn allerdings, so betont er ausdrücklich, nicht zu einer Kontrolle mit gezogener Waffe veranlaßt habe. Gleichwohl ist nicht auszuschließen, daß nach der massiven offiziellen Propaganda gegen die „terroristische“ PKK und gegen Kurden insgesamt („Neue Dimension des Terrors“) sich in den Köpfen von Polizeibediensteten möglicherweise ein entsprechendes „Feindbild“ festgesetzt hat, das zu einem überzogenen Verhalten geführt haben könnte.

Absurdes Bedrohungsszenario während des Prozesses: Der Prozeß gegen den angeklagten SEK-Polizeibeamten Klaus T. vor dem Landgericht Hannover fand in einer Polizeifestung statt. Massives Polizeiaufgebot, berittene Polizei, Absperrgitter und körperliche Durchsuchungen waren dazu angetan, mögliche Prozeßbesucher abzuschrecken – vor allem Kurdinnen und Kurden, die miterleben wollten, wie mit dem polizeilichen Todesschuß gegen einen der Ihren gerichtlich umgegangen wird. Wer sich von der Abschottung dennoch nicht abschrecken ließ, mußte sich ausweisen, wurde intensiv durchsucht, die Ausweise wurden kopiert. So wollte es der Vorsitzende Richter der 3. Großen Strafkammer des Landgerichts Hannover, der diese Sicherheitspolizeiliche Anordnung eigens für diesen Prozeß erlassen hatte. Ein Antrag der Nebenklage-Vertreter, diese vollkommen überzogenen Maßnahmen sofort einzustellen, weil sie die verfassungsrechtlich garantierte Öffentlichkeit des Verfahrens schwer beeinträchtigen, lehnte das Gericht kategorisch ab. Es fühlte sich offenbar bedroht, ohne allerdings eine Bedrohungsanalyse oder auch nur Anhaltspunkte für eine konkrete Gefahr vorzulegen. Der PKK-Hintergrund des Verfahrens reichte aus. Kurden könnten sich für den Todesschuß rächen wollen. Mit dieser ganzen Sicherheitsprozedur wurde die hysterisch geführte innenpolitische Debatte weiter genährt, mit der Kurden längst zu Gewalttätern und Terroristen gestempelt und zu innenpolitischen Feinden erklärt worden sind.

Beim ersten Anlauf 1996 war der Prozeß unter extremen Sicherheitsauflagen sogar in den Hochsicherheitssaal des Oberlandesgerichts Celle verlegt worden, obwohl das Gericht, wie sich herausstellte, die angebliche Gefährdungsanalyse des Landeskriminalamtes selbst nicht kannte. Dies hatte uns damals veranlaßt, den Vorsitzenden Richter wegen Befangenheit abzulehnen, woraufhin dieser einen Hörsturz erlitt und aus dem Verfahren ausgeschieden ist. Die Strafkammer hatte zuvor sogar erwogen, bis auf die Presse die Öffentlichkeit für die gesamte Dauer des Verfahrens auszuschließen. Ursprünglich wollten die Richter zu jedem Sitzungstag mit einem gepanzerten Fahrzeug von Hannover nach Celle fahren; das Justizministerium hat ihrer Sicherheitshysterie jedoch einen Dämpfer verpaßt und den „Panzer“ verweigert.

Erst die Kritik in den Medien und ein Brief der Nebenklage-Vertreter an den Landgerichtspräsidenten führten bei der Neuauflage des Prozesses 1997 zu einer gewissen Einschränkung der sichtbaren Polizeipräsenz. Gleichwohl blieben vor dem Gerichtssaal Polizisten in Kampfmontur postiert, im Gerichtssaal saßen den zivilen Zuschauern bewaffnete Polizeibeamte im Genick. Der angeklagte Polizeibeamte befand sich im sog. Personenschutzprogramm und wurde während der Hauptverhandlung von bis zu vier Bodyguards „beschützt“. Sein damaliger SEK-Dienstvorgesetzter beharrte sogar im Zeugenstand darauf, seine Dienstwaffe zu tragen, ohne dies mit einer besonderen Gefährdung rechtfertigen zu können. Bereits 1996 hatte er angekündigt, seine Dienstwaffe – wegen der „besonderen persönlichen Gefährdungslage“ – auch im Gerichtssaal (verdeckt) zu tragen. Diesem Ansinnen widersprach der damalige Vorsitzende Richter noch mit dem Hinweis, daß die im Saal befindlichen Sicherungskräfte der Polizei bereits bewaffnet seien und das genüge. Daraufhin wurde der Zeuge seinerzeit krank. Bei der Neuauflage 1997 hatte die Strafkammer nichts gegen den bewaffneten Zeugen einzuwenden, obwohl er dieses Mal keine besondere Gefährdung geltend machte. Vorgesetzte diesen Kalibers hatte der Angeklagte also zum Vorbild. Auch dessen ständige Begleitung durch drei bis vier Bodyguards in Zivil konnte mit keiner konkreten Gefährdung legitimiert werden. Alles in allem: ein absurdes Bedrohungsszenario. In einem Kommentar merkte die „Neue Presse“ zu diesen Sicherheitsmaßnahmen an: „Man mußte den Eindruck haben, es sei ein Polizist umgekommen“ – Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht hätten jedenfalls in diesem Verfahren nicht zum „Rechtsfrieden“ beigetragen (NP vom 28.6.1997).

Die Eltern des Opfers als Störenfriede: Die in Türkisch-Kurdistan lebenden Eltern des erschossenen Halim Dener hatten wiederholt den Wunsch geäußert, als Nebenkläger an dem Strafprozeß persönlich teilzunehmen. Doch die Deutsche Botschaft in Ankara verweigerte ihnen zunächst die Visa – ohne jegliche Begründung. Daraufhin haben wir gleich am ersten Verhandlungstag den Antrag gestellt, das Gericht möge umgehend bei der Deutschen Botschaft in Ankara über das Auswärtige Amt intervenieren und auf eine Erteilung der Visa hinwirken. Die persönliche Teilnahme stehe den Nebenklägern als Opfer der Tat nach der Strafprozeßordnung sowie nach dem verfassungsrechtlichen Grundsatz auf rechtliches Gehör zu. Danach hat jeder an einem gerichtlichen Verfahren Beteiligte ein Recht darauf, im Verfahren persönlich – und nicht nur über seinen Rechtsanwalt – zu Wort zu kommen. Die Nebenkläger können höchstpersönlich Erklärungen abgeben, Fragen und Anträge stellen sowie das Wort im Rahmen der Schlußvorträge ergreifen. Das Gericht, so unsere Begründung, sei nicht zuletzt aufgrund seiner Fürsorgepflicht für die Nebenkläger gehalten, alles in seiner Macht Stehende zu unternehmen, um die gewünschte Anwesenheit in der Hauptverhandlung zu ermöglichen.

Doch das Gericht weigerte sich mit der Bemerkung, die Nebenkläger seien durch Anwälte vertreten, daher bedürfe es der persönlichen Teilnahme nicht. Es bestand offenbar keinerlei Interesse an einer unmittelbaren Konfrontation zwischen den Eltern mit all ihrer Trauer um den getöteten Sohn und dem Angeklagten, der den Tod des Sohnes – wie auch immer – verursacht hat. Zwar bekundete der Angeklagte zu Beginn der Verhandlung sein Bedauern über das tödliche Ereignis, aber er sollte dies gegenüber den betroffenen Eltern persönlich zum Ausdruck bringen können (was er dann endlich in seinem Schlußwort getan hat).

Das Gericht lehnte nicht nur unseren Antrag ab, sondern es torpedierte, wie sich später herausgestellt hat, sogar die weiteren Bemühungen, für die Nebenkläger doch noch Einreisevisa zu erhalten.

„Gebot der Menschlichkeit“: Aufgrund der kritischen Medienberichterstattung über diese unverständliche Gerichtsentscheidung sah sich der Bundestagsabgeordnete Dr. Helmut Lippelt (Bündnis 90/Die Grünen) veranlaßt, beim Auswärtigen Amt (AA) zu intervenieren. Nachdem das AA zunächst Kooperationsbereitschaft signalisierte, übernahm es wenig später die ablehnende Argumentation der Deutschen Botschaft: Zum einen sei die Gefahr, daß die einreisenden Nebenkläger möglicherweise in Deutschland bleiben würden, gewichtiger als ihr Recht, als Nebenkläger persönlich am Verfahren teilzunehmen. Zum anderen habe das Landgericht Hannover bestätigt, daß die Anwesenheit der Eltern „nicht notwendig“ sei, da sie zur gerichtlichen Klärung nicht beitragen könnten und ihre Interessen anwaltlich vertreten würden.

Nach dieser Abfuhr beschäftigte der Abgeordnete am 11.6.1997 den Bundestag in der Fragestunde mit diesem Problem: Wie könne, so fragte er die Bundesregierung, eine Botschaft überhaupt erwägen, „die Rechte der bei diesem Prozeß geladenen Nebenkläger, der Eltern eines durch eine Polizeiwaffe umgekommenen jungen Mannes, auf diesem administrativen Wege der Visumsverweigerung zu behindern?“ Und: „Erweckt eine Einreiseverweigerung nicht den Eindruck einer Rechtsverkürzung gegenüber den ausländischen Nebenklägern im Interesse eines deutschen Beamten?“

In seiner Antwort wiederholte der zuständige Staatsminister im Auswärtigen Amt die Argumente der Botschaft und die ablehnende Haltung des Landgerichts Hannover. Auf diese Feststellung reagierte der Bundestagsabgeordnete Peter Conradi (SPD), so notiert das Bundestagsprotokoll, mit dem Zwischenruf: „Unglaublich!“

Conradi stellte fest, daß es im vorliegenden Fall nicht lediglich „um ein Gerichtsverfahren über Mietstreitigkeiten“ gehe, „sondern darum, daß der Sohn der Antragsteller, die als Nebenkläger tätig werden wollten, zu Tode gekommen ist“. Er fragte die Bundesregierung: „Hätte die Botschaft in diesem Fall nicht prüfen und dann die Visa erteilen müssen, weil es ein Gebot der Menschlichkeit ist, den Betroffenen Eltern die Möglichkeit der Teilnahme am Prozeß zu geben?“

Erst in der Fragestunde erklärte der zuständige Staatsminister, daß die Deutsche Botschaft inzwischen vom Auswärtigen Amt angewiesen worden sei, die Visa zu erteilen – offenbar nachdem Öffentlichkeit und Bundestag sich mit diesem Skandal kritisch beschäftigt haben. Und so konnten die Eltern endlich zum 9. Verhandlungstag erstmals persönlich an dem Prozeß in Hannover teilnehmen, der allerdings nur noch vier Tage dauern sollte.

Verkehrte Gerichtswelt: Während der Angeklagte, der Halim Dener erschossen hat, mit Bodyguards beschützt wurde, mußten sich die Eltern des Opfers einer peniblen und entwürdigenden Durchsuchung unterziehen lassen, bevor sie den Gerichtssaal betreten durften. Die „Begrüßung“ des Vorsitzenden fiel kalt und bürokratisch aus: „Können Sie bestätigen, daß das die Eltern sind?“ fragte er meinen Kollegen Eberhard Schultz; dann ein entsprechendes Diktat ins Protokoll. Kein persönliches Wort der Begrüßung (erst im Zuge der Urteilsverkündung sprach der Vorsitzende Richter den Eltern sein Beileid aus). Als die verschleierte Mutter Naile Dener während der Zeugenvernehmung zu weinen beginnt, will sie der Vorsitzende aus dem Gerichtssaal „komplimentieren“: Er fühlt sich ganz offensichtlich gestört. Unser Antrag, die Kosten der Reise der mittellosen Nebenkläger und die Kosten für einen Dolmetscher zur Verständigung zwischen den Nebenklägern und ihren Rechtsvertretern aus der Justizkasse zu begleichen, wird abgelehnt. Es ist schwer nachvollziehbar und den Nebenklägern kaum zu vermitteln, daß die Übernahme dieser Kosten abgelehnt wurde, während durch überzogene Sicherheitsmaßnahmen ein Vielfaches an zusätzlichen Kosten entstanden ist.

Die Verteidigung des angeklagten Polizisten hat in diesem Prozeß, wie sonst selten in Strafverfahren, kaum etwas zu tun – der Angeklagte wird schließlich bestens „verteidigt“ durch das Wohlwollen des Gerichts und die Fürsorge des Oberstaatsanwalts, der ihn ursprünglich wegen Fahrlässiger Tötung angeklagt hatte. Wie der Oberstaatsanwalt später im Plädoyer eingesteht, erfolgte die Anklage nur wegen des öffentlichen Drucks; sonst wäre offenbar schon frühzeitig eingestellt worden.

Schon bei den wenigen Nachfragen des Gerichts und der Staatsanwaltschaft zur Einlassung und Tatversion des Angeklagten wird dieser spürbar mit Samthandschuhen angefaßt – keine kritischen Fragen, keine Klärung von offensichtlichen Widersprüchen. Schon im ersten Prozeß 1996 waren die damalige Strafkammer und der Oberstaatsanwalt dem Angeklagten behilflich, alle Widersprüche in seinen Aussagen mit eigenen Formulierungsvorschlägen und Interpretationen zu überbrücken. Die Fragen der Nebenklage-Vertreter beantwortete der Angeklagte erst gar nicht, weder damals noch während der Neuauflage des Prozesses – pauschal abgelehnt, weil er sich von uns vorverurteilt fühle. Mit dieser selektiven Verweigerung hat er sich einer vorbehaltlosen Aufklärung des Falles verschlossen und setzt sich dem Verdacht aus, kritischen Nachfragen auszuweichen.

Der Ton im Gerichtssaal wird immer dann gereizt, rüde und autoritär, wenn von unserer Seite bestimmte gerichtliche Maßnahmen und Entscheidungen gerügt oder „unziemliche“ Anträge gestellt werden, die vom Gericht, mit wenigen Ausnahmen, rundweg abgelehnt werden – so auch jener Antrag, den mit Dienstwaffe erschienenen SEK-Polizeizeugen vor seiner Zeugenaussage zu entwaffnen. Und das Gericht entscheidet dabei praktisch immer so, wie der Oberstaatsanwalt es zuvor vorgeschlagen hat. Hintergründe der Tat interessieren das Gericht nur wenig. Und die Verteidigung, deren einzige sichtbare Aktivität in der Ablehnung unserer Anträge besteht, ist es wohl zufrieden.

Schonverfahren für einen Polizei-Kollegen

Die gerichtliche Behandlung hatte bereits ihre Entsprechung im Ermittlungsverfahren: Schon gleich nach der Tat hatte sich gezeigt, daß es sich um keinen „normalen Todesschützen“ handelte, sondern um einen Polizeibeamten des niedersächsischen Spezialeinsatzkommandos (SEK). Es hat sich im Laufe der Ermittlungen bestätigt, daß Klaus T. von seinen Kollegen direkt zur SEK-Dienststelle gebracht worden ist – statt, wie in Todesschußfällen üblich, zu der für Tötungsdelikte zuständigen Kripostelle. Erst auf der Dienststelle wurde seine Waffe sichergestellt; das Holster erst Stunden, der Gürtel, an dem das Holster befestigt war, sogar eine Woche später.

Außerdem konnte Klaus T. – auf Anraten seines Kollegen, mit dem er sich in jener Nacht auf Streife befand – seine Hände waschen und auf diese Weise wichtige Spuren im wahrsten Sinne verwischen, bevor diese von der Spurensicherung auf Schmauch u.ä. untersucht werden konnten. Es gehört zum Allgemeinwissen, daß Spuren nicht beseitigt werden dürfen, jeder Krimi-Leser weiß das. Der fachgerechte Umgang mit Tatspuren gehört zum Einmaleins eines jeden Polizeibeamten – schon gar von Spezialpolizisten. Daß sein Kollege dem Beschuldigten geraten hat, doch die Hände zu waschen, weil diese so blutig sind, ließe sich als Aufforderung zur Spurenunterdrückung – und zwar der Schmauch- wie der Blutspuren – interpretieren – zumal der Kollege zum einen am engsten mit dem Beschuldigten und seiner Tat verbunden ist, zum anderen, weil er als Nichtbeschuldigter sich nicht auf „Verwirrung“ herausreden kann.

Es ist jedenfalls immer wieder erstaunlich, daß sich gerade im Zusammenhang mit tödlichen polizeilichen Fehlleistungen Ermittlungs„pannen“ und Dilettantismus häufen – wie etwa im Fall Bad Kleinen, als – neben etlichen weiteren „Pannen“ – aussagekräftige Schmauch- und Blutspuren an den Händen der Leiche des getöteten Wolfgang Grams bei der Obduktion – ausgerechnet von BKA-Beamten – „irrtümlich“ beseitigt worden sind, obwohl diese Spuren hätten entscheidend sein können zur Klärung der Frage, ob Grams sich selbst getötet hat oder von Polizeibeamten erschossen wurde.

Auf der SEK-Dienststelle konnte Klaus T. auch mit Kollegen und Vorgesetzten über den Vorfall ausführlich reden. Erst vier Stunden nach dem Todesschuß, nachdem bereits Tatort-Spurensicherung und erste Zeugenaussagen aufgenommen worden sind, wurde der Beschuldigte erstmals von der Kripo zu dem Vorfall vernommen. Es ist denkbar, daß der Beschuldigte noch vor seiner verantwortlichen Vernehmung entlastend instruiert worden ist. Üblicherweise werden die an Todesschüssen beteiligten Polizeibeamten besonders betreut. Solche Sonderrechte werden als „fürsorgerische Maßnahmen“ deklariert, dem Beamten soll in seinem Schock, seiner Streßsituation Gelegenheit gegeben werden, sein Verhalten und den Geschehensablauf in Ruhe zu überdenken, ehe er sich strafprozessual verantwortlich äußert (so der ehemalige Münchener Polizeipräsident Wolf).

Auch Klaus T. ist nach den Gesprächen mit seinen Vorgesetzten „als fürsorgerische und flankierende Maßnahme“ ein sogenannter Betreuungsbeamter zugeteilt worden. Das ruhige Überdenken der Tat und möglicherweise die Rekonstruktion des Einsatzes unter „Betreuung“ durch Vorgesetzte und Kollegen dienen mit Sicherheit nicht dem rechtsstaatlichen Anspruch der Öffentlichkeit auf rückhaltlose Aufklärung. Wie das Innenministerium später mitgeteilt hat, gab es im vorliegenden Fall Betreuungsgespräche auch unter seelsorgerischen Aspekten, „um den Sachverhalt gemeinsam mit dem betreffenden Beamten aufzuarbeiten“.

Ein solches Schonverfahren muß als Sonderbehandlung bezeichnet werden, die den Beschuldigten begünstigt. Jeder „normale Todesschütze“ wäre von der Mordkommission am Tatort vorläufig festgenommen und ohne Möglichkeit der Kontaktaufnahme wenig später vernommen worden.

Nach dem freisprechenden Urteil ist festzustellen, daß offenbar selbst hochtrainierte und spezialisierte SEK-Polizeibeamte nicht zur Verantwortung gezogen werden können, wenn sie Bürger mit ihrer Waffe erschießen und es nicht zu widerlegen ist, daß sich der Schuß angeblich unbeabsichtigt und unter Streß gelöst habe. Dies veranlaßte die „Hannoversche Allgemeine Zeitung“ zu dem Kommentar: „Die Urteilsbegründung läßt die Polizei... in einem merkwürdigen Licht erscheinen. Wenn SEK-Beamte mit der Verfolgung eines unbewaffneten 16jährigen hoffnungslos überfordert sind, wenn es nach Zeugenaussagen vorkommen kann, beim Laufen den Revolver zu verlieren, dann sollte der Bürger künftig in Deckung gehen, wenn die angeblich so hochqualifizierten Spezialeinsatzkommandos unterwegs sind“ (HAZ vom 28.6.1997).

Aus diesem tödlichen Ereignis, so haben Polizeizeugen vor Gericht auf Nachfrage der Nebenklage-Vertreter versichert, seien polizeilicherseits keinerlei Konsequenzen gezogen worden – weder was die Schieß- und Streß-Ausbildung noch was die Bewaffnung und die sonstige Ausrüstung (z.B. Holster) betrifft. Diese Tatsache könnte den Schluß zulassen, daß die Verantwortlichen im Polizeiapparat der vorgebrachten Unglücksversion des Angeklagten selbst keinen Glauben schenken – andernfalls würden sie sich schlicht verantwortungslos verhalten.

Dieses Verfahren unter absurden Sicherheitsbedingungen hat deutlich gemacht, wie notwendig eine kritische Öffentlichkeit ist, um zu verhindern, daß Strafermittlungsverfahren gegen beschuldigte Polizeibeamte sang- und klanglos bereits im Vorfeld eingestellt werden, und um wenigstens zu erreichen, daß die Polizeiversion kritisch hinterfragt wird und die strukturellen bzw. apparativen Hintergründe der Tat thematisiert werden. Doch letztlich blieben mit diesem Verfahren unter den genannten Bedingungen die kritischen Fragen der Öffentlichkeit weitgehend unbeantwortet, und die Erwartungen der Familie des erschossenen Halim Dener wurden enttäuscht. Sie können nicht begreifen, daß ihr Sohn von einem Polizeibeamten getötet worden ist und dieser sich dafür nicht verantworten muß. So hätte er sich die „Gerechtigkeit“ in Deutschland nicht vorgestellt, meinte der Vater in seinem Schlußwort; offenbar hatte er sich Illusionen gemacht.

Rechtsanwalt Dr. Rolf Gössner, Publizist und parlamentarischer Berater, vertrat als Nebenklage-Vertreter zusammen mit RA Hans-Eberhard Schultz (Bremen) die kurdischen Eltern und Geschwister des erschossenen Jugendlichen Halim Dener. Letzte Buchpublikationen: Polizei im Zwielicht – Gerät der Apparat außer Kontrolle (zus. mit Oliver Neß), Campus-Verlag Frankfurt/M. – New York 1996; Die vergessenen Ju stiz opfer des Kalten Kriegs. Verdrängung im Westen – Abrechnung mit dem Osten? Aufbau-Verlag Berlin (Neuauflage 1998); Erste Rechtshilfe – Rechts- und Verhaltenstips im Umgang mit Polizei, Geheimdiensten und Justiz, Verlag Die Werkstatt Göttingen (erscheint im Herbst 1998).

 


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