5. Perspektiven der Kurdenverfolgung 1998 am Scheideweg

Der Prozeßausgang im Verfahren gegen Kani Yilmaz: Wende nach 10 Jahren grenzüberschreitender Kurdenverfolgung?

Als Kani Yilmaz am Nachmittag des 11. Februar 1998 nach der Urteilsverkündung als freier Mann das Gerichtsgebäude des Oberlandesgerichts Celle verließ und die Stufen vom Neben ausgang des ehemaligen Schloßgebäudes herunterschritt und von einer Gruppe kurdischer Landsleute begrüßt wurde, waren 1206 Tage vergangen, seit er vor den Stufen des britischen Westminster-Parlamentes in London verhaftet worden war. Dieses Ende des letzten großen PKK-Prozesses nach nur fünf Wochen Hauptverhandlung ist zugleich der vorläufige Schlußstrich unter zehn Jahren Kurdenverfolgung unter dem Vorwand der „Terroristenverfolgung“. Es zeigt exemplarisch den Fortschritt und gleichzeitig das Dilemma, in dem sich kurdische PKK-Anhänger in Westeuropa nach wie vor befinden.

Am Vormittag hatte der Vorsitzende Richter des Staatsschutzsenats beim Oberlandesgericht Celle das Urteil verkündet: Siebeneinhalb Jahre Freiheitsstrafe wegen diverser Sachbeschädigungen und Brandstiftungen unter Anrechnung der Auslieferungs- und Unter su - chungshaft, wobei die Auslieferungshaft im britischen Gefängnis im Maßstab 1:1,2 angerechnet wurde. Nachdem Verteidigung wie Bundesanwaltschaft auf Rechtsmittel verzichtet hatten, wurde das Urteil rechtskräftig. Anschließend hat die Verteidigung beantragt, die restliche Freiheitsstrafe nach §57 Abs. 2 StGB zur Bewährung auszusetzen. Die Vertreter des Generalbundesanwalts sind diesem Antrag nicht entgegengetreten. Daraufhin hat der Senat des Oberlandesgerichts beschlossen, die restliche Freiheitsstrafe zur Bewährung auszusetzen, die Bundesanwaltschaft die Freilassung des Mandanten sofort angewiesen.

Das Ergebnis der Hauptverhandlung in diesem letzten großen „Terrorismusverfahren“ gegen Kurden läßt sich stichwortartig so zusammenfassen:

1. Die Freilassung von Kani Yilmaz ist ein wichtiger Erfolg für ihn, seine Verteidigung, für PKK / ERNK und die Kurdistansolidarität in Westeuropa. Die Möglichkeit, seine politisch-diplomatische Tätigkeit für eine friedliche Lösung des Kurdistankonfliktes in Westeuropa fortzusetzen, macht die historische Dimension dieses Prozesses deutlich, der nicht zufällig als letzter einer großen Zahl von §129a-Verfahren vor den Staatsschutzsenaten verschiedener Oberlandesgerichte durchgeführt wurde.

2. Kani Yilmaz wurde nicht als Rädelsführer einer angeblichen „terroristischen Vereinigung“ innerhalb der PKK nach §129a StGB verurteilt; er hat kein Geständnis abgelegt. Dies ist einer umfassenden Verständigung zwischen der Verteidigung und der Bundesanwaltschaft unter Einschaltung des Staatsschutzsenats beim Oberlandesgericht zu verdanken, die nur möglich war auf der Grundlage von Gesprächen und Vermittlungsbemühungen auf politischer Ebene, verkörpert durch Ali Homan Ghazi, den Sohn des legendären Staatsgründers der kurdischen Republik Mahabat.

3. Im Zusammenhang mit dem Verfahren gegen Kani Yilmaz hat der Generalbundesanwalt offiziell verkündet, daß die angebliche terroristische Vereinigung innerhalb der PKK seit August 1995 nicht mehr nachweisbar sei. Es bestehe aber der Anfangsverdacht einer sogenannten kriminellen Vereinigung nach §129 StGB, der noch geprüft werde. Deswegen und wegen des fortbestehenden PKK-Verbots ist weiterhin mit einer flächendeckenden Überwachung aller kurdischen Aktivitäten zu rechnen, ebenso wie mit Verboten von Veranstaltungen und Demonstrationen.

Die Aufhebung des PKK-Verbots bleibt also die wichtigste politische Aufgabe. Hinzu kommt der Kampf für die Freilassung aller politischen kurdischen Gefangenen und gegen eine mögliche Strafverfolgung als Mitglieder bzw. Unterstützer einer angeblichen „kriminellen Vereinigung“.

4. Kani Yilmaz wurde auf der Grundlage von Kronzeugenaussagen als zentralem Beweismittel als „Täter hinter dem Täter“ (sogenannte mittelbarer Täter nach §25 StGB) und damit verantwortlich für die Serien von Anschlägen auf türkische Einrichtungen im Juni und Oktober 1993 zu einer siebeneinhalbjährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Dies ist Ausdruck der politischen Staatsschutz-Justiz der BRD.

Hierzu im einzelnen:

1. Die historische Dimension der Freilassung von Kani Yilmaz, der jahrelang als „Rädelsführer einer terroristischen Vereinigung“ inhaftiert war, wird aus den Reaktionen türkischer Politiker und Massenmedien besonders deutlich. Sie widmeten dem Prozeßergebnis und der Freilassung tagelang eine empörte Aufmerksamkeit, Hauptschlagzeilen auf der ersten Seite, seitenlange Artikel und Kommentare in den führenden Massenblättern („Hürriyet“, „Sabah“ und anderen) sowie Meldungen über offizielle Protestnoten des türkischen Außenministeriums.

Diese Reaktionen sind also mehr als Ausdruck ohnmächtiger Wut darüber, daß die Desinformationskampagnen, die das Verfahren von Anfang an begleitet haben, fehlgeschlagen sind. In der Türkei wird vor allem klar erkannt, wie wichtig die Fortsetzung der politisch-diplomatischen Tätigkeit eines so prominenten Vertreters der PKK/ERNK in Westeuropa für den Frieden in Kurdistan ist. Der Prozeß des „Dialogs und der Deeskalation“ kann zwar im eigenen Machtbereich durch die brutale Verfolgung und Inhaftierung selbst kurdischer Parlamentsabgeordneter, wie Leyla Zana, Hatip Dicle u.a., durch horrende Haftstrafen auf Jahre verhindert, in Westeuropa aber allenfalls unterbrochen und verzögert werden. Gegen diese Erkenntnis sperren sich die Machthaber der Türkei offenbar noch, ob sie dies auf Dauer können, hängt von der Entwicklung des politischen Prozesses auch und vor allem in Westeuropa ab. Ein weiterer wichtiger Schritt wird die Entscheidung des Straßburger Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sein, der demnächst über die skandalöse Verurteilung der kurdischen Parlamentarier zu fünfzehnjährigen Haftstrafen auf der Grundlage eines Strafverfahrens, das rechtsstaatliche Mindeststandards mit den Füßen tritt, zu entscheiden haben wird.

2. Eine Verurteilung wegen des Vorwurfs der Rädelsführerschaft in einer angeblichen terroristischen Vereinigung innerhalb der PKK/ ERNK konnte auch ohne jede Einlassung oder gar Geständnis zu den Vorwürfen verhindert werden.

Dieses Ergebnis ist nicht nur von symbolischem Wert, weil es mit der offiziellen Erklärung des Generalbundesanwalts zusammenfällt, seit August 1995 sei die frühere angebliche terroristische Vereinigung nicht mehr nachzuweisen. Damit ist der Versuch einer umfassenden Kriminalisierung der PKK/ERNK als „terroristische Vereinigung“ ein zweites Mal nach dem Düsseldorfer PKK-Prozeß aufgegeben worden und damit wohl als endgültig gescheitert anzusehen.

Über den Hintergrund dieser Entwicklung kann nur spekuliert werden:

Nach dem Höhepunkt der PKK-Terrorismus-Hysterie 1994 begann ein Umdenkungsprozeß offenbar gerade auch im Bereich der deutschen Sicherheitsinstitutionen wie Bundesverfassungsschutz, BND u.a. – möglicherweise beeinflußt durch historische Parallelen wie dem ANC unter Nelson Mandela und der PLO unter Arafat, die plötzlich von „schlimmsten Terroristen“ zu „ernstzunehmenden Staatsmännern“ mutiert sind und international anerkannt wurden; bestimmt auch von der Erkenntnis getragen, daß der Einfluß der PKK unter den Kurden in Deutschland durch das sogenannte PKK-Verbot nur größer geworden war, und durch die übereinstimmende Meinung aller Experten zur Situation in Kurdistan/Türkei: Auch nach 10 Jahren bewaffnetem Kampf ist die PKK dort stärker denn je, niemand glaubt ernsthaft daran, daß es dem türkischen Militär gelingen könnte, die PKK-Guerilla militärisch zu besiegen; und schließlich als Antwort auf die selbstkritische Klarstellung der PKK-Führung, daß in Europa Fehler gemacht worden seien, Deutschland und Westeuropa nicht als Kriegsgegner betrachtet würden, die KurdInnen dort von Gewalttaten abgehalten werden müßten, um die westeuropäischen Regierungen dazu zu bringen, Druck auf die Türkei auszuüben, um den kriegerischen Kurdistan-Konflikt zu beenden.

Auch bei der Bundesanwaltschaft hat man offenbar Konsequenzen aus den Erkenntnissen gezogen, die die PKK-Führung seit spätestens Ende 1993 vor dem Hintergrund der dramatischen Änderung nach dem Zusammenbruch des „realsozialistischen Lagers“ in die Tat umgesetzt hat und die offenbar viele Linke bei uns nicht begriffen haben oder nicht begreifen wollen:

Deutschland ist nicht Kriegsgegner des kurdischen Befreiungskampfes; politische Aktivitäten in der Bundesrepublik Deutschland fallen daher nicht unter das humanitäre Kriegsvölkerrecht, auch wenn die BRD das türkische Militärregime ökonomisch, militärisch und politisch-diplomatisch massiv unterstützt.

Für die erforderlichen diplomatischen Bemühungen um eine friedliche Lösung des Kurdistan-Konfliktes müssen insbesondere westeuropäische Politiker, aber möglichst auch Regierungen gewonnen werden, was nur möglich sein dürfte, wenn die PKK-Anhänger sich in Westeuropa gewaltsamer Aktivitäten enthalten.

Die Frage revolutionärer Gewalt oder grundsätzlicher Ablehnung von „Geheim-Diplomatie“, diplomatischen Kompromissen usw. stellt sich daher für die Kurden jedenfalls in Westeuropa nicht; Verhandlungen, Vereinbarungen und Verständigungen mit der hiesigen Staatsmacht und ihren Justizbehörden sind daher notwendig und sinnvoll, wenn sie die politische Betätigung für die Ziele des kurdischen Freiheitskampfes ermöglichen.

Daß damit der Versuch der politischen Justiz in der BRD, sich statt dessen mit juristischen Mitteln in die inneren Angelegenheiten einer legitimen nationalen Befreiungsbewegung einzumischen, keineswegs für alle Zeiten beendet ist, versteht sich von selbst. Wie sich die BRD verhält, hängt von zahlreichen Faktoren der inneren und äußeren politischen Entwicklung ab, auf die hier nicht im einzelnen eingegangen werden kann.

3. Der Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts Celle hat das Urteil mit der juristisch umstrittenen und politisch höchst brisanten Konstruktion des sogenannten mittelbaren Täters begründet.

Die Bundesanwaltschaft hat in ihrem Plädoyer ausdrücklich Vergleiche mit den Verurteilungen der Mitglieder des früheren „Nationalen Verteidigungsrats der DDR“ wegen des angeblichen „Schießbefehls“ an der Mauer gezogen, wenn sie diesen Vergleich auch auf die juristische Konstruktion beschränkt wissen wollte. Der Vergleich ist jedoch bereits Indiz dafür, daß hier wie dort die Siegerjustiz über den politischen Feind Pate stand.

Dieser Befund wird bei genauerer Betrachtung der juristischen Konstruktion bestätigt. In einer vorangegangenen Verurteilung eines kurdischen „Mitglieds der Europaführung“, auf die sich der Senat auch im Falle von Kani Yilmaz stützt, heißt es u.a.:

„Derartige Fälle mittelbarer Täterschaft kommen nach den Ausführungen des Bundesgerichtshofs, z.B. bei Mißbrauch staatlicher Machtbefugnisse und bei mafiaähnlich organisierten Strukturen in Betracht, bei denen der räumliche, zeitliche und hierarchische Abstand zwischen der die Befehle verantwortenden Organisationsspitze und den unmittelbar Handelnden gegen eine arbeitsteilige Mittäterschaft spricht ...

Nach diesen Grundsätzen, denen der Senat folgt, ist davon auszugehen, daß der Angeklagte die oben genannten Brandanschläge als mittelbarer Täter begangen hat.

Der Angeklagte stand als von dem Parteiführer Öcalan eingesetzter Verantwortlicher für die Finanzen der PKK in Europa und Angehöriger der ACM sowie als Mitglied der aus etwa drei Personen bestehenden sogenannten Zentrale der PKK/ERNK in Europa an der Spitze einer Befehlskette, die sich im Endergebnis in den Brandanschlägen ... niederschlug. Die ACM bzw. die ,Zentrale‘ setzte entsprechend der Struktur und den politischen Zielen der Partei die allgemeinen Rahmenbedingungen, in dem sie den untergeordneten Organisationsebenen Anlaß, Zielrichtung und zeitlichen Rahmen sowie die Mindestzahl der auszuführenden Brandanschläge in Form einer nicht zu diskutierenden Anweisung vorgab.“1 (Hervorhebungen d. Verf.)

Dies klingt auf den ersten Blick einfach, klar und folgerichtig. Bei genauerem Hinsehen und einer kritischen Überprüfung der Prämissen sind jedoch ganz erhebliche Zweifel angebracht.

Das beginnt schon bei der Einstufung der PKK/ERNK als „mafiaähnlicher“ Organisation im Sinne dieser Rechtsprechung. Nicht nur, weil es sich um eine legitime nationale Befreiungsbewegung im Sinne des humanitären Völkerrechts handelt, wie durch das Gutachten des Völkerrechtlers Prof. Dr. Paech bewiesen ist, sondern auch weil gerichtsbekannt ist, daß die PKK, die ERNK und ihre Anhänger sich zumindest weit überwiegend im legalen Rahmen betätigen, was nicht nur in den letzten Jahren durch wiederholte Großveranstaltungen mit Zigtausenden von Teilnehmern eindrucksvoll bewiesen ist. Gleiches gilt für den weit überwiegenden Teil der Betätigung kurdischer Vereine, die als „PKK-nah“ gelten, für die politisch-diplomatische und publizistische Tätigkeit führender PKKler.

Darüber hinaus: Spätestens scheitert die Annahme einer mittelbaren Täterschaft für die Anschlagsserien an einer zwingenden Voraussetzung: dem sogenannten Automatismus der Befehlshierarchie als Ausdruck der Tatherrschaft (wie der BGH sie bei den Mitgliedern des Nationalen Verteidigungsrates der ehemaligen DDR für den sogenannten Schießbefehl annimmt). An dem Automatismus fehlt es, wenn die Zwischenglieder der angeblichen Befehlshierarchie aufgrund tatsächlicher und/ oder rechtlicher Umstände (Stichwort Befehlsverweigerung) nicht gegeben sind. Dies ist in diesem Fall anzunehmen, da weder der Befehl als solcher noch die zwingende Hierarchie im Sinne des Automatismus nachgewiesen sind.

Selbst die Angaben der Kronzeugen, denen nach Ansicht der Verteidigung ohnehin nicht gefolgt werden durfte, ergeben keine verbindlichen Anweisungen im Sinne einer Befehlshierarchie auf der untersten Ebene gegenüber den unmittelbaren Tätern.

So sagte der Kronzeuge D. S. bezeichnenderweise, er habe solche Anweisungen nicht gegeben, „ich stelle mich gegen diese Praxis“ – also ein deutlicher Hinweis darauf, daß sogar nach den Angaben des Kronzeugen eine „Befehlsverweigerung“ möglich war

Der andere Kronzeuge gab an, er habe „versucht, die 20 bis 30 Personen für die Besetzungsaktion zu gewinnen“, was ihm aber nicht gelungen war.

Konnte es einen besseren Beweis dafür geben, daß die unmittelbaren Täter eben nicht im Sinne eines Automatismus, einer Befehlshierarchie von der Europaführung über Mittelsmänner verbindlich angewiesen worden sind?

Die Annahme der mittelbaren Täterschaft scheitert an der Feststellung eines konkreten Befehles, jedenfalls am fehlenden „Automatismus“ der Befehlshierarchie auf der untersten Ebene zwischen den angeblichen Gebietsleitern und den unmittelbar Tatausführenden. Es erstaunt, daß der Senat sich mit dieser für die Annahme der mittelbaren Täterschaft zentralen Frage in dem erwähnten Urteil gegen Murat E. mit keinem Wort auseinandersetzte.

In dem Zusammenhang muß auch berücksichtigt werden, daß die Kronzeugen für den Staatsschutzsenat zentrales Beweismittel waren und blieben, obwohl der spektakuläre Selbstmordversuch des Kronzeugen Eser A. am Vorabend des Beginns der Hauptverhandlung noch einmal eindringlich auf die Problematik dieser nach wie vor umstrittenen Zeugen deutlich gemacht hat.

Aufgrund der Verständigung wurde die Beweisaufnahme zur Anklage (die sich auf etwa 200 Zeugen und Sachverständige gestützt hatte) in nur acht Hauptverhandlungstagen durchgeführt, beschränkt auf die Verlesung von Zeugenaussagen und Dokumenten. Zu letzt wurden Teile der Aussagen der Kronzeugen durch Verlesung eingeführt. Auf Antrag der Verteidigung wurden die Abschiedsbriefe des Kronzeugen Eser A., die er vor seinem Selbstmordversuch am 5. Januar d.J. geschrieben hatte, beigezogen und in die Hauptverhandlung eingeführt. Der Kronzeuge selbst hatte starke Verbrennungen erlitten, an denen er während des Verlaufs der Hauptverhandlung gestorben ist. Seine letzten Worte waren: „Ich habe die PKK verraten!“ In seinen Abschiedsbriefen hat er deutlich zum Ausdruck gebracht, daß er es nicht länger ertragen konnte, Unschuldige hinter Gitter gebracht zu haben. So hieß es in dem Abschiedsbrief an seine Mutter, der auch in der pro-kurdischen Zeitung „Özgür Politika“ veröffentlicht wurde:

„Wirst Du jetzt wegen einer solchen Person wie mir weinen? Lohnt es sich, für mich Tränen zu vergießen? Ja, ich bin Dein Sohn, aber wie kannst Du einen Menschen lieben, der die Menschen, deren Tee er trank, deren Reis er aß, ins Gefängnis brachte? Fasse Dich. (...) Egal aus welchen Gründen diejenigen, die unschuldige Menschen an die Feinde ausliefern, den Feinden Informationen geben, sie sind keine Person, sondern eine Unperson. (...) Der Verrat ist ein Weg, von dem es kein Zurück gibt. Ich bin 23 Jahre alt. Wie soll ich heiraten und Kinder großziehen, wie soll ich meinen Kindern sagen, daß ich ein Kronzeuge, ein Auseinandergefallener und ein Defätist bin? Mit welchem Ansehen sollte ich das machen. (...) Wenn Du für mich weinst, wenn Ihr für mich weint, dann solltest Du für einen Menschen weinen, der ein Jahr in Österreich für sein Volk im Gefängnis verbracht hat. Damals war ich sauber. (...)

Was ich als letztes schreiben möchte, ist das: Ich weine nie. Um meine Fehler zu verbessern, muß ich Selbstmord verüben. Ihr sollt versuchen, den Schaden, den ich verursacht habe, wieder gutzumachen. (...) Nieder mit dem Verrat!

Es lebe der Widerstand!

Eser Altinok / 5.1.1998“

Diese Ausführungen belegen nachdrücklich, daß der Kronzeuge nicht mit der Tatsache fertig geworden war, daß er mit seinen Angaben die PKK verraten und Unschuldige hinter Gitter gebracht hat. Er wollte seinem Leben einen Tag vor Beginn der Hauptverhandlung gegen Kani Yilmaz ein Ende setzen.

Damit war die Einschätzung der Verteidigung, daß es sich bei Kronzeugen um dubiose Beweismittel handelt, zumal kurdische Kronzeugen wegen ihrer Probleme als Ausländer noch stärker vom Zeugenschutz des Bundeskriminalamts abhängig sind, wieder einmal bestätigt worden. Ihre Aussagen, die auch im Verfahren gegen Kani Yilmaz zentrale Beweismittel waren, hätten daher nicht verwertet werden dürfen.

Entgegen dem Eindruck, der nachträglich bisweilen erweckt werden sollte, hatte sich der Generalbundesanwalt in seiner Stellungnahme an den Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages im Rahmen der Debatte über die Verlängerung des Kronzeugengesetzes sehr deutlich geäußert:

„Bis in das Jahr 1994 hatten die Ermittlungsbehörden lediglich lückenhafte Erkenntnisse zur neuen Struktur und Arbeitsweise der PKK sowie zu den Mitgliedern der innerhalb der Partei bestehenden ,terroristischen Vereinigung’. Einzelheiten zur Vorbereitung und Planung der Anschlagswellen vom 24. Juni 1993 waren weitgehend unbekannt. Erst die Angaben des Beschuldigten D.S. ließen, zusammen mit anderen, die Aussagen des Beschuldigten vielfach bestätigenden – Erkenntnissen aus Asservaten, die Einleitung von Ermittlungsverfahren wegen Verdachts der Mitgliedschaft in einer ,terroristischen Vereinigung‘ ... gegen zahlreiche Funktionäre zu. (...) Darüber hinaus sind in den Ermittlungsverfahren des GBAs gegen ... Kani Yilmaz ... wegen des Verdachts der Rädelsführerschaft in einer terroristischen Vereinigung und anderen Straftaten die von D.S. zu den jeweiligen Personen gemachten Angaben von z.T. zentraler Beweisbedeutung.“2

Die Verteidigung hatte im Verfahren aufgrund der erwähnten Verständigung davon abgesehen, die Angaben dieses Kronzeugen auf ihre Glaubhaftigkeit durch Vernehmung vor dem Gericht zu überprüfen. Zweifel an der Glaubwürdigkeit auch dieses Kronzeugen waren jedoch angebracht, zumal im Rahmen eines Verfahrens vor dem Oberlandesgericht Frankfurt bekannt geworden war:

Er stellte sich der Polizei kurz vor Ablauf seines Aufenthaltsrechts in der BRD und erhielt, nachdem er monatelang beim Bundeskriminalamt Aussagen gemacht hatte, plötzlich überraschenderweise Asyl: Der Zeugenschutzbeamte des BKA hatte sich an die Asyl- und Ausländerbehörden gewandt, die BAW dem Verwaltungsgericht geschrieben, daß er als ,Kronzeuge auftreten soll‘ – ohne Durchführung einer gerichtlichen Verhandlung wurde er im Februar 1995 vom Bundesamt anerkannt.

Auch die rechtskräftigen Verurteilungen in den PKK-Prozessen auf der Grundlage von Aussagen dieser Kronzeugen dürfen also nicht darüber hinweg täuschen: Beweisaufnahme und ihre Bewertung durch Bundesanwaltschaft und Gericht stehen auf tönernen Füßen. Die Abschaffung des Institut des Kronzeugen bleibt eine vordringliche Aufgabe!

4. Prozeßende und PKK-Verbot: Die restliche Freiheitsstrafe von mehr als drei Jahren setzte das Gericht zur Bewährung gem. §57 Abs. 2 Strafgesetzbuch nach Verbüßung der Hälfte der gegen Kani Yilmaz verhängten Strafe für die Dauer von fünf Jahren zur Bewährung aus. Irgendwelche besonderen Auflagen wurden nicht gemacht. Als anerkannter Asylberechtigter wäre er also vollkommen frei in der Fortführung seiner politisch-diplomatischen Tätigkeit im Exil, wäre da nicht das sogenannte PKK-Verbot. Auf der Grundlage des Verbots der Betätigung für die PKK/ ERNK in der Bundesrepublik Deutschland besteht für Kani Yilmaz die Gefahr der Strafverfolgung nach §20 VereinsG. Danach wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr bzw. Geldstrafe bestraft, wer sich für die verbotenen Vereinigungen betätigt. Dies kann bekanntlich schon durch den Aufruf zu einer vorgeblich von der PKK/ERNK gesteuerten Veranstaltung, durch Redebeiträge, Verwendung von Symbolen der PKK/ERNK o.ä. geschehen. Vor allem würde Kani Yilmaz in dem Falle eventuell der Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung drohen. Deshalb hat die Bundesanwaltschaft im Rahmen der Verständigung zugesichert, eine (einmalige) rechtskräftige Verurteilung noch nicht zum Anlaß eines Antrages auf Bewährungswi derruf zu machen. Trotzdem schwebt das PKK-Verbot wie ein Damoklesschwert auch über der Tätigkeit von Kani Yilmaz.

Dies belegt noch einmal die Bedeutung des Kampfes für die Aufhebung dieses undemokratischen Verbotes.

Trotz der positiven Stellungnahme des Generalbundesanwalts im Hinblick auf die angebliche „terroristische Vereinigung“ hat sich Bundesinnenminister Kanther zur gleichen Zeit kategorisch geweigert, über die Aufhebung dieses Verbots auch nur nachzudenken. Hierzu eine Stellungnahme aus der Erklärung der Verteidigung im Celler PKK-Prozeß:

Zur jüngsten Erklärung des Generalbundesanwalts (GBA)

Die Verteidigung begrüßt die offizielle Erklärung des Generalbundesanwalts vom 13.1., wonach nicht mehr von einem Fortbestand der (angeblichen) terroristischen Vereinigung innerhalb der PKK in Westeuropa ausgegangen werde. Dies ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung und das Ergebnis ausführlicher Gespräche zwischen beiden Seiten. Allerdings gibt die Medienberichterstattung über die Pressekonferenz des Generalbundesanwalts Anlaß zu einigen Klarstellungen:

Meldungen, der GBA ,stuft die PKK nicht mehr als Terrorgruppe ein‘, sie sei ,keine terroristische Vereinigung mehr‘, sind irreführend und falsch: Auch der GBA hat immer nur von einer ,terroristischen Vereinigung‘ innerhalb der PKK gesprochen und wiederholt betont, die gesamte PKK sei keineswegs terroristisch.

Ebenso falsch und irreführend ist die Meldung, der GBA ,beurteilt die PKK als kriminelle Vereinigung, seine Behörde wird die Strafverfolgung der PKK weiter übernehmen‘. Tatsächlich sprach er lediglich von einem ,Anfangsverdacht‘, daß es sich um eine ,kriminelle Vereinigung als Fortsetzung der terroristischen Vereinigung bei unveränderten Strukturen‘ handele; das werde geprüft; aus dem Umfeld der PKK würden immer wieder Fälle von Spendenerpressung u.a. bekannt.

Wir halten eine Strafverfolgung der ,PKK-Führungsstruktur‘ als angebliche ,kriminelle Vereinigung‘ nach §129 StGB für ähnlich problematisch und kontraproduktiv wie die frühere ,Terroristenverfolgung‘ von PKK- Anhängern:

Die Bedenken gegen problematische Beweismittel wie Kronzeugen, Telefonüberwachung, interne fremdsprachige Dokumente usw. bleiben bestehen; vor allem würde es sich auch bei einer Verfolgung als ,kriminelle Vereinigung‘ um eine unzulässige Einmischung in die inneren Angelegenheiten einer legitimen nationalen Befreiungsbewegung gegen kolonialistische und rassistische Unterdrückung handeln. Diese grundsätzlichen Bedenken gegenüber einer Verfolgung mit Hilfe des Organisationsdeliks hindern natürlich nicht – dies sei zur Klarstellung betont – eine Strafverfolgung jedes einzelnen Falles wegen des Verdachts von Gewalttaten bei uns mit einwandfreien rechtsstaatlichen Mitteln vor den ordentlichen Gerichten.

Angesichts einiger Dutzend Fälle angeblicher Spendengelderpressungen, Körperverletzungen o.ä. bei mehreren hunderttausend Spenden erscheint eine Strafverfolgung mit den Mitteln des Organisationsdeliktes (§129 StGB) unverhältnismäßig und kontraproduktiv.

Dialog statt Verbot: Aufhebung des PKK-Verbots

Die in diesem Zusammenhang erneute kategorische Weigerung des Bundesinnenministers, das sogenannte PKK-Verbot zurückzunehmen, kann so nicht hingenommen werden.

Sowohl in der schriftlichen Verbotsverfügung als auch in der Öffentlichkeit hat Bundesinnenminister Kanther seinerzeit maßgeblich auf die Anschlagswellen vom Juni und November 1993 abgestellt, die er der PKK/ERNK zuschrieb.

Wenn nun der Generalbundesanwalt feststellt, auf der Grundlage der Erklärungen der PKK-Führung seien seit 1995 keine Brandanschläge mehr festzustellen, die der PKK zuzuschreiben sind, so fällt damit die tragende Begründung und öffentliche Rechtfertigung des Verbots der Tätigkeit für ERNK und PKK in der BRD weg.

Hieraus muß die einzig mögliche Konsequenz gezogen werden: Aufhebung des PKK-Verbots!

Wer dies zurückweist, lehnt nicht nur den Weg von ,Deeskalation und Dialog‘ ab, sondern muß sich vorwerfen lassen, das Geschäft des Militärregimes in Ankara zu betreiben, das in den letzten Tagen gegen den Generalbundesanwalt hetzt – während selbst Bundesaußenminister Kinkel öffentlich erklärt hat, das kurdische Flüchtlingsproblem in Italien müsse durch eine politische Lösung des zugrundeliegenden Konfliktes (in Kurdistan) gelöst werden.

Dialog für den Frieden in Kurdistan

John Austin, MP der regierenden Labourpartei, der Kani Yilmaz 1994 zu Gesprächen über eine politische Lösung ins britische Parlament eingeladen hatte (wo er dann unter spektakulären Umständen festgenommen worden war), übersandte zum Prozeßauftakt eine Erklärung in der es u.a. heißt:

,Ich hoffe, daß Kanis Prozeß auf die Notwendigkeit einer politischen und diplomatischen Lösung des Krieges im Südosten der Türkei und im Nord-Irak aufmerksam machen wird. Der Westen kann nicht länger argumentieren, das Leid der Kurden in der Türkei sei eine Angelegenheit allein der türkischen Regierung. (...) Die jüngste Ankunft von kurdischen Flüchtlingen in Italien hat erneut die Aufmerksamkeit auf einige Probleme gerichtet, und ich begrüße den kürzlichen Aufruf des italienischen Außenministers zu einer internationalen Aktion, um einen Waffenstillstand auszuhandeln, der den schmutzigen Krieg der Türkei gegen die Kurden beendet. Abdullah Öcalan hat wiederholt einen Waffenstillstand angeboten und sich bereit erklärt, in einen Dialog mit der türkischen Regierung zu treten, um eine friedliche Lösung des Konflikts sicherzustellen. Das einzige Hindernis ist die türkische Regierung, die sich weigert, eine politische Lösung zu suchen, die die Rechte und Identität des kurdischen Volkes anerkennt.

Ich hoffe, daß Kani Yilmaz bald wieder frei sein wird, um den Dialog für Frieden fortzusetzen, mit dem er bereits befaßt war, als er im Oktober 1994 nach London kam.

House of Commonds, London, 6.1.1998‘

Für eine freie und ungehinderte Fortsetzung dieser Tätigkeit ist die Aufhebung des PKK-Verbots unabdingbare Voraussetzung. Die Bedingungen hierfür sind nach dem Ende des Prozesses gegen den früheren ERNK-Europasprecher Kani Yilmaz besser denn je. War doch dieses Ende nur möglich, weil der Generalbundesanwalt die Front der Hardliner im Kampf gegen die PKK gewechselt hat und zu den Vertretern einer realistischen Linie gehört, die einen Dialog und die Deeskalation befürworten, auch wenn sie damit die PKK nicht etwa als Freund ansehen oder gar die PKK-Führung für den Friedensnobelpreis vorschlagen will: Noch existiert der Haftbefehl gegen den PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan aus dem Jahre 1990, wie der Generalbundesanwalt im Rahmen der Jahrespressekonferenz vom 13.1.1998 betonte.

Bis zur Einladung Öcalans als Politiker und Repräsentant der Kurden dürfte also noch einige Zeit ins Land gehen, dürften noch einige Veränderungen notwendig sein ...“

1 Urteil vom 12.11.1997, Seite 48f,

2 Schreiben vom 13.11.1995, Seite 9

 


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