3. Versuch einer Bilanz der Kurdenverfolgung in der BRD Mitte der neunziger Jahre

Fortsetzung der Diffamierungskampagne

Die massive öffentliche Vorverurteilung der PKK und ihrer Anhänger auf der Basis unbewiesener Tatsachenbehauptungen setzte sich im Jahre 1995 anläßlich zahlreicher Anschläge auf türkische Geschäfte und andere türkische Einrichtungen fort.

In einer Antwort des Bundesministeriums des Innern auf eine Anfrage von Abgeordneten der PDS zum Abschiebeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Türkei vom Mai 1995 ist die Rede von „der PKK und anderen Terrororganisationen“.1

Die Beispiele derartiger Äußerungen ließen sich beliebig fortsetzen. So antwortete die Bundesregierung selbst auf eine Anfrage von Abgeordneten der PDS nach dem Beitrag der Bundesregierung für eine Verhandlungslösung im Kurdistan-Krieg und ihrer Haltung zum kurdischen Exilparlament im Juni 1995:

„Die Bundesregierung nimmt keine Stellung zu Erklärungen der terroristischen PKK.“2

Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, daß zahlreiche Massenmedien, allen vor an die sich als Spitze der PKK-Verfolgung und -Diffamierung verstehende, in München erscheinende Postille „Focus“, die PKK so qualifizieren:

„Terroristische PKK“ („Focus“ 28/1995),

„Ferngesteuerter Terror der PKK“ („Focus“ 31/1995),

„Kommunistische Terrororganisation“ („Focus“ 13/1995),

„Politkriminelle“ („Der Spiegel“ 13/1994),

„Terroristisch versierte Kader der kommunistischen PKK“ („Der Spiegel“ 13/1994),

„Terroristische Arbeiterpartei Kurdistans“ („FAZ“, 16.9.1995).

Studiert man aus diesen Jahren die Presseartikel zur PKK, findet man immer wieder die diffamierende Behauptung, die PKK finanziere sich zu nicht unerheblichen Teilen durch Drogenhandel. Die Behauptung wurde auf der Grundlage von Politikeräußerungen und Erklärungen von Vertretern einiger örtlicher Ermittlungsbehörden verbreitet, obwohl noch nie gerichtsverwertbare Tatsachen nachgewiesen wurden und von kompetenter polizeilicher Seite immer wieder betont wurde, für die Behauptung, die PKK sei in den Drogenhandel involviert, gebe es nach wie vor keinerlei Belege, so z.B. ein Sprecher des Bundeskriminalamtes und der Leiter des Drogenkommissariats am Polizeipräsidium Frankfurt Norbert Ditt3.

Der zuständige Abteilungspräsident im Bundeskriminalamt (BKA) hatte im Juli 1993 hierzu geschrieben:

„Die bisher bekanntgewordenen Spenden- und Schutzgelderpressungen sowie die Überfälle auf illegale türkische Spielcasinos müssen nicht unbedingt Aktivitäten zur Finanzierung der PKK-Aktionen sein. Beweise dafür jedenfalls sind nicht vorhanden. Es gibt sogar Hinweise, daß türkische Täter aus dem allgemeinen kriminellen Milieu so tun, als ob sie sich am ,kurdischen Freiheitskampf‘ beteiligen, aber ihr eigenes Süppchen kochen. Es ist eher davon auszugehen, daß die PKK ihren Finanzbedarf aus offiziellen Spenden deckt, aus dem Erlös von Literatur und von politischen und kulturellen Veranstaltungen.“4

Auch von den in den Massenmedien groß angekündigten Spendengelderpressungen ha ben sich die meisten Gerichtsverfahren durch einen Freispruch, eine Einstellung oder allenfalls geringe Strafen erledigt, obwohl Polizei, Politiker und Massenmedien hier mit „anonymen Sorgentelefonen“ in den meisten Städten einen in der Geschichte der Bundesrepublik beispiellosen Aufwand getrieben haben.

Ein vorläufiger Höhepunkt dieser Hetze war eine in den Massenmedien in großer Aufmachung als Topmeldung verbreitete Erklärung des niedersächsischen Verfassungsschutzes im August 1995, wonach alle deutschen Sicherheitsbehörden gewarnt worden seien, weil es Informationen gäbe, daß Mitglieder der PKK nun erstmals Schußwaffen gegen deutsche Polizisten einsetzen wollten5 – eine Meldung, von der sich wenig später verschiedene Polizei- und Verfassungsschutzsprecher distanzierten, weil es hierfür keinerlei Anhaltspunkte gäbe.

Schließlich ließ Generalbundesanwalt Nehm es sich nicht nehmen, seinem Vorgänger Rebmann nachzueifern, der im Sommer 1989, wenige Monate vor Beginn des ersten großen §129a-Verfahrens gegen PKK-Anhänger vor dem Staatsschutzsenat des Düsseldorfer Oberlandesgerichts, die PKK zum „Hauptfeind der inneren Sicherheit“ ausgerufen hatte.

Nach dem gleichen Strickmuster fanden am 14. Februar 1996 in Bonn und Karlsruhe zeitgleich Pressekonferenzen seines Nachfolgers Nehm und des „Geheimdienstkoordinators“ im Bundesamt, Staatsminister Bernd Schmidbauer, statt anläßlich der Vorlage eines gemeinsamen Berichtes des Bundesamtes für Verfassungsschutz und des Bundesnachrichtendienstes. Über diese Konferenz berichteten alle Medien in großer Aufmachung. So überschrieb etwa der „Weser-Kurier“ (Bremen) den Hauptartikel am darauffolgenden Tage mit: „Wachsende Gefahr durch die PKK“. Die „Frankfurter Rundschau“ meldete auf Seite 1: „Schmidbauer und Nehm sehen in der PKK die größte Gefahr“. In der Berichterstattung wurde auch auf die anhängigen Ermittlungs- und Strafverfahren nach §129a eingegangen. So hieß es: „Inzwischen wurde auf Antrag des Generalbundesanwalts das 20. mutmaßliche PKK-Mitglied in Untersuchungshaft genommen. (... ) Insgesamt führt die Bundesanwaltschaft zur Zeit gegen 54 Beschuldigte Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Mitgliedschaft und Unterstützung einer terroristischen Vereinigung. Das Bundeskriminalamt (BKA) hatte bereits am Sonntag eine Warnung veröffentlicht, derzufolge ab Montag Gewalttaten zu erwarten gewesen wären.“6

Parallel dazu wurde bundesweit in den Medien ein Horrorszenario entwickelt, wonach der PKK-Vorsitzende Öcalan angeblich mit neuen Anschlägen in Europa, insbesondere in Deutschland, gedroht habe, bei denen „Hunderte von Menschen sterben“ könnten.7 So wurde insbesondere der ganze Stuttgarter Raum in diesen Tagen in eine Polizeifestung verwandelt.

Exkurs

Die Strafverfolgung aufgrund §20 Vereinsgesetz

Tausende von Ermittlungsverfahren gegen KurdInnen wurden wegen Unterstützung der PKK und ERNK (Nationale Befreiungsfront Kurdistans) nach §20 Vereinsgesetz eingeleitet, die ganze Staatsschutzkammern bei den Landgerichten verschiedener Bundesländer über Jahre lahmlegten. Ähnlich wie in den fünfziger und sechziger Jahren zur Hochzeit der Kommunistenverfolgung das Tragen einer roten Nelke in der Öffentlichkeit die Strafverfolgung nach sich ziehen konnte, reichte jetzt ein T-Shirt mit einem PKK-Aufdruck, ja die auf das Zifferblatt einer Armbanduhr eingeprägte kurdische Fahne mit einem roten Stern für die Einleitung von Ermittlungsverfahren, Hausdurchsuchung und Beschlagnahme kurdischer Publikationen, die Aufnahme in den Polizeicomputer, das Ausländer-Zentralregister und (über NATO-Geheimdienstkanäle) in die Dateien der türkischen Sicherheitsbehörden.

Inzwischen sind sich Historiker, Politiker und Juristen weitgehend einig, daß die extensive Kommunistenverfolgung durch die politische Justiz und ihre Feinderklärung Ausfluß des Kalten Krieges war und demokratischen Maßstäben nicht standhält. Wie lange es bei der flächendeckenden Kurdenverfolgung dauern wird, hängt von verschiedenen Faktoren ab, die VerteidigerInnen und PublizistInnen alleine wohl schwer beeinflussen können ...

Hier soll näher ausgeführt werden, warum die uferlose Strafverfolgung nach §20 Vereinsgesetz in eklatanter Weise gegen Grundrechte unserer Verfassung und die Menschenrechte der Europäischen Menschenrechtskonvention verstößt.

Nach §20 Abs. 1 Nr. 4 wird bestraft, „wer im räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes durch eine darin ausgeübte Tätigkeit ... einem vollziehbaren Verbot nach §18 Abs. 2 zuwiderhandelt ...“ §20 Abs. 1 Nr. 4 bezeichnet also das konkrete Verhalten, das mit Strafe bedroht sein soll, selbst nicht, sondern verweist auf eine andere Vorschrift des Vereinsgesetzes. §18 Satz 2 VereinsG lautet:

„Hat der Verein im räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes keine Organisation, so richtet sich das Verbot (§3 Abs. 1) gegen seine Tätigkeit in diesem Bereich.“

Auch diese Vorschrift bestimmt also lediglich, wogegen sich das Verbot eines ausländischen Vereines ohne eigene Organisation im räumlichen Geltungsbereich des Gesetzes richtet, ohne zu bestimmen, welches Verhalten verboten und welches nicht verboten sein soll.

Der in §18 Satz 2 zitierte §3 Abs. 1 bestimmt als Voraussetzung eines Vereinsverbots die Verfügung der Verbotsbehörde, mit der festgestellt ist, „daß seine Tätigkeit oder seine Zwecke den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder daß er sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder den Gedanken der Völkerverständigung richtet; in der Verfügung ist die Auflösung des Vereins anzuordnen (Verbot)!“

Auch mit dieser Verweisung ist selbstverständlich das verbotene Verhalten nicht konkretisiert, vielmehr schafft der Verweis auf diese Vorschrift weitere Unklarheiten, da ausländische Vereine im Gegensatz zu §3 Abs. 1 gerade nicht aufgelöst werden, wenn sie im Inland keine (Teil-) Organisation unterhalten.

Damit ist in §20 Abs. 1 Ziffer 4 das verbotene Verhalten im Gegensatz zu den anderen Ziffern nicht konkret beschrieben. Allenfalls durch Interpretation des §20 Abs. 1 Nr. 4 i.V.m. §18 Satz 2 VereinsG wird behauptet, verboten sei jede Tätigkeit für die ausländische Vereinigung.

Es bedarf keiner näheren Darlegung, daß ein derartiger, mit zahlreichen unbestimmten Rechtsbegriffen gefüllter Verbotsbestand dem Bestimmtheitsgebot des Grundgesetzes nicht entspricht.

Es ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts anerkannt, daß Artikel 103 Abs. 2 GG den Gesetzgeber verpflichtet, die Voraussetzungen der Strafbarkeit so konkret zu umschreiben, daß Tragweite und Anwendungsbereich der Straftatbestände zu erkennen sind und sich durch Auslegung ermitteln lassen. Jedermann soll vorhersehen können, welches Verhalten verboten und damit mit Strafe bedroht ist. Dies verbietet zwar wegen der Vielgestaltigkeit des Lebens und wegen der Unvermeidlichkeit, allgemeine Begriffe in Strafnormen zu verwenden, nicht, das strafbare Verhalten abstrakt zu umschreiben, im Regelfall muß aber der Normadressat anhand der gesetzlichen Regelung voraussehen können, ob ein Verhalten strafbar ist.8

In Literatur und Rechtsprechung besteht Einigkeit darüber, daß das Eintreten für die auch von einer kriminellen oder terroristischen Vereinigung verfolgten, für sich genommen aber nicht kriminellen politischen Ziele nicht allein dadurch strafrechtlich beachtlich wird, daß diese Ziele auch von einer solchen Vereinigung verfolgt werden.9

Schließlich stellt der bloße Besitz von Propagandamaterial einer verbotenen Vereinigung, ja selbst einer „terroristischen Vereinigung“ nach §129a noch keine Unterstützung oder Werbung dar.10 Das gleiche gilt für den Schriftverkehr und den Besitz von Schriften, die inhaltlich dem Bereich des §129a Abs. 3 StGB unterfallen.11

Die vorgeworfene Tätigkeit muß darüber hinaus nach herrschender Meinung ursächlich für die weitere Betätigung des verbotenen bzw. mit Betätigungsverbot belegten Vereins sein. Ursächlichkeit bedeutet nach herrschender Meinung „conditio sine qua non“, das heißt, die vorgeworfene Tätigkeit darf nicht hinweggedacht werden, ohne daß der Erfolg (Weiterbetätigung der Vereinigung) entfällt. Konkret: Wenn man die vorgeworfene Betätigung (z.B. Plakatekleben, Skandieren von APO-Rufen o.ä.) hinwegdenkt, müßte auch die weitere Tätigkeit der verbotenen bzw. mit Betätigungsverbot belegten PKK/ERNK entfallen. Dies dürfte normalerweise nicht der Fall sein!

Leider hat der BGH die in der Literatur herrschende Meinung abgelehnt und dazu allgemein ausgeführt:

„Notwendiger Bestandteil des Betätigungsverbots ist das Verbot, eine derartige Tätigkeit des Vereins im Inland zu unterstützen. (...) Soweit ein solches unterstützendes Handeln Dritter in Frage steht, genügt zur Erfüllung des äußeren Straftatbestandes nach §20 Abs. 1 Nr. 4 VereinsG jedes Verhalten, das auf die verbotene inländische Tätigkeit des betroffenen Vereins bezogen und dafür förderlich ist. Ursächlich im Sinne der Bedingungstheorie braucht es für die verbotene Vereinstätigkeit im Inland dagegen nicht zu sein. (...) Es reicht aus, daß die Handlungsweise des Täters konkret geeignet ist, eine für die verbotene Vereinstätigkeit vorteilhafte Wirkung hervorzurufen. Auf die Feststellung eines tatsächlich eingetretenen meßbaren Nutzens kommt es nicht an. Dafür fehlt es ohnehin an einem handhabbaren Maßstab. Insoweit können, unbeschadet der Tatsache, daß Bezugspunkte des Täterhandelns die inländische Tätigkeit und nicht die Organisation der vom Betätigungsverbot betroffenen ausländischen Vereinigungen ist, der Sache nach und im Grundsatz jedenfalls keine strengeren Regeln gelten, als sie für den Begriff der Unterstützung einer verbotenen (kriminellen oder terroristischen) Vereinigung im Rahmen der Organisationsdelikte entwickelt worden sind. Auch dafür reicht ein der Vereinigung vorteilhaftes Tun ohne Feststellung eines meßbaren Nutzens aus ...“12

Verfassungsrechtliche Zweifel an der Geltung des §20 Abs. 1 Nr. 4 VereinsG seien nicht begründet, was allerdings im Hinblick auf das Bestimmtheitsgebot aus Artikel 103 Abs. 2 GG und die Meinungsfreiheit nach Artikel 5 Abs. 1 GG lediglich lapidar mit der Behauptung begründet wird, Strafgrund sei nicht die im Täterhandeln u.U. zu sehende Meinungsäußerung als solche, sondern der Bezug auf die verbotene Tätigkeit des Vereins und die sich daraus ergebende Forderung des verbotenen Wirkens (darüber hinaus unter dem Gesichtspunkt eines noch nicht anfechtbaren aber vollziehbaren Betätigungsverbots).

Zur Frage des Bestimmtheitsgebots führt der Bundesgerichtshof lediglich die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 14.1.1969 an, wonach die Strafbarkeit des Verstoßes gegen das Vereinsverbot (nach §42, 47 BVerfGG) mit der Verfassung vereinbar sei. Zum Bestimmtheitgebot führt das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung aber zur Begründung der Verfassungskonformität lediglich aus, diese sei gegeben, weil nur organisationsbezogene Handlungen unter Strafe gestellt seien und der Täter deshalb die ganze Strafbarkeit seines Verhaltens vorhersehen könne (BVerfGE 25, 44ff, 55).

Der einzelne sei nicht betroffen, soweit er selbst bestimmte politische Ziele anstrebe und vertrete, die Abwehr richte sich nicht gegen die Handlungen des einzelnen als solche, sondern gegen die mit ihr verbundene Stärkung der Organisation. Hierfür reiche es nicht, wenn der Außenstehende gleiche Ansichten wie die verbotene Partei vertrete (Seite 57). Entscheidend hierfür sei nicht die Willensrichtung des Betreffenden, sondern ein objektiver Maßstab, das heißt

„der Eindruck, es handele sich um eine Aktion unmittelbar zu Gunsten der verbotenen Partei selbst“. (Seite 58)

Im weiteren Zusammenhang mit der Prüfung der eventuellen Verfassungswidrigkeit im Hinblick auf die Meinungsfreiheit des Artikel 5 GG stellt das Bundesverfassungsgericht eindeutig klar:

„Der Kernsatz (d.i. BGH-Urteils – d.Verf.), strafbar sei jeder, der ,auf irgendeine Weise‘ die gesetzwidrige Wirksamkeit der verbotenen Partei fördere, im Hinblick auf Artikel 5 GG ... (daher – d.Verf.) in dieser Allgemeinheit nicht haltbar, weil damit auch eine nicht organisationsbezogene Förderung erfaßt werden könnte.“ (Seite 61)

Deshalb kann diese Bundesverfassungsgerichtsentscheidung gerade nicht für die Ansicht des BGH herangezogen werden, §20 VereinsG in der Auslegung des Bundesgerichtshofs – jede unterstützende Tätigkeit sei strafbar – sei verfassungskonform.

Vorliegend kommen noch zwei weitere we sentliche Umstände hinzu:

Bei der PKK/ERNK handelt es sich um Auslandsorganisationen, die im übrigen westeuropäischen Ausland nicht verboten sind, deren Unterstützung dort also im Gegensatz zu der BRD und der Türkei – nicht strafbar ist; das strafbewehrte Verbot richtet sich in erster Linie an Kurden, die nach den Feststellungen der deutschen Sicherheitsorgane der deutschen Sprache nicht mächtig sind, dem kurdischen Kulturkreis entstammen und in der Regel noch so verwurzelt sind, daß ihnen ein geordnetes Rechtswesen wie das unserige vollkommen fremd ist.

Insofern stellt sich die Frage der Verfassungskonformität im Hinblick auf das Bestimmtheitsgebot hier in besonderer Schärfe: Wie soll ein Kurde wissen, was strafbar ist, wenn selbst deutsche Politiker wie ein früherer Innensenator (Heinrich Lummer, CDU), ein Abteilungsleiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz (Grünwald), zahlreiche Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens (der Leiter des Deutschen Orientinstitutes Hamburg, Prof. Dr. Udo Steinbach, das Vorstandsmitglied der Vereinigung Ärzte gegen den Atomtod IPPNW, Prof. Gottstein, und viele andere mehr) den PKK-Vorsitzenden Öcalan im Nahen Osten besuchen und positiv über ihn berichten, das heißt insbesondere deutlich machen, daß er ähnlich wie Arafat oder Nelson Mandela, die jahrzehntelang als „Terroristen“ behandelt wurden, in Kürze ein wichtiger Politiker sein kann?

Die strafrechtliche Verfolgung verstößt gegen zwingendes Völkerrecht, weil der nationale Befreiungskampf Kurdistans unter Führung der PKK den UNO-Resolutionen und Genfer Protokollen zum legitimen Kampf gegen koloniale und rassistische Unterdrückung entspricht.

Dies ergibt sich aus dem bereits auszugsweise zitierten Gutachten des Sachverständigen Paech. Dieses Gutachten wurde dem Bundesverwaltungsgericht im Rahmen der gerichtlichen Überprüfung der Verbotsverfügung vorgelegt. Klage und Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz wurden jedoch abgelehnt, weil das Kurdistan-Komitee bzw. Feyka- Kurdistan die im Namen der PKK/ERNK begangenen Gewaltakte von Kurden in Deutschland tatkräftig unterstützt und sich mit den ihnen zuzurechnenden Gewaltaktionen in Deutschland solidarisiert hätten. Sie gefährdeten dadurch die innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland, ohne daß es darauf ankomme, wie die mit der Gewaltanwendung oder –Propagierung verfolgten Ziele zu beurteilen seien und ob möglicherweise sogar berechtigte Anliegen vertreten würden.

Die Frage, ob kurdische Vereinigungen gegen Strafgesetze verstoßen, sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten, die öffentliche Ordnung und sonstige erhebliche Belange der Bundesrepublik Deutschland verletzen – wie in der Verbotsverfügung behauptet –, wurde also ausdrücklich offengelassen.

Daraus folgt die Verfassungs- und Völkerrechtswidrigkeit einer strafrechtlichen Verfolgung nach §20 Vereinsgesetz. Der internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966 sowie der internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom gleichen Tage, bestimmt in Artikel 1:

„(1) Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung. Kraft dieses Rechtes entscheiden sie frei über ihren politischen Status und gestalten in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung. (…)

(2) (…)

(3) Die Vertragsstaaten einschließlich der Staaten, die für die Verwaltung von Gebieten ohne Selbstregierung und von Treuhandsgebieten verantwortlich sind, haben entsprechend den Bestimmungen der Charta der Vereinten Nationen die Verwirklichung des Rechts auf Selbstbestimmung zu fördern und dieses Recht zu achten.“

Die Unterstützung eines legitimen Kampfes für nationale Befreiung darf also nicht strafrechtlich sanktioniert werden, dies wäre ein Verstoß gegen zwingendes Völkerrecht. Eine Ausnahme könnte in Übereinstimmung mit den Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts allenfalls dann gemacht werden, wenn die durch das Verbot des Bundesinnenministers vom November 1993 „inkriminierten Handlungen“, das heißt also die angeblich im Namen der PKK/ERNK begangenen Gewalttaten von Kurden in Deutschland, unterstützt bzw. gefördert würden.

Soweit die berechtigten Belange der nationalen Befreiungsbewegung Kurdistans unter der Führung der PKK unterstützt werden, verstößt eine strafrechtliche Verfolgung dieser Tätigkeit also gegen zwingendes Völkerrecht.

Diese hier nur skizzierten juristischen Zusammenhänge müssen dem Bundesverfassungsgericht und vor allem dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte In Straßburg zur Überprüfung der ausufernden strafrechtlichen Praxis vorgelegt werden. – Soweit der Exkurs – zu den weiteren Ereignissen in den Folgejahren sei hier auf die Aufstellung im Anhang verwiesen und nun noch ein besonders groteskes Beispiel herausgegriffen:

Die angeblichen Anschläge auf Bundeskanzler Kohl und Außenminister Kinkel – Gipfel eines Geheimdienst-Horrorszenarios

Absoluter Höhepunkt der Hetze gegen PKK-Anhänger war die Meldung Anfang April 1996, die PKK bereite Attentate auf Bundeskanzler Kohl und Außenminister Kinkel vor, in riesiger Aufmachung als Sensation zuerst von der Boulevardzeitung „Expreß“ am 2. April verbreitet, von da an tagelang Topmeldung in allen Medien, die Sicherheitsvorkehrungen zum Schutz der Politiker wurden verstärkt, die österreichische Gendarmerie orderte eigens zusätzliche Beamte an Kohls Kurort Bad Hofkastein. Aus den Ermittlungsakten ist bekanntgeworden, daß es sich um Angaben eines V-Mannes der Polizei handelte, der behauptete, die PKK habe für die palästinensischen Attentäter eine halbe Million Mark zur Verfügung gestellt, wie er durch ein mitgelauschtes Gespräch von vier PKKlern im Bremerhavener kurdischen Verein erfahren habe. Im November 1996 meldet der „Spiegel“ unter der Überschrift „Morddrohungen gegen Klaus Kinkel: Alles heiße Luft“ Einzelheiten:

„,Finden Sie es nicht ungewöhnlich‘, fragt ein argwöhnischer BKA-Beamter, daß ein solch brisantes Thema in einem Verein ,mit 100 Leuten‘ öffentlich besprochen wird?‘ Das BKA ermittelte und drehte jeden Stein um. Das Ergebnis war mager. (...) Auch die Durchsuchungen förderten keinerlei Asservate ... zutage. Und die von dem Spitzel geschilderten ,Verhaltensweisen höherer PKK-Führungs-Kader decken sich weitestgehend nicht mit den Erkenntnissen des Fachreferats ST 34‘ (BKA).“13

Das Ermittlungsverfahren wegen des angeblichen Attentats wurde längst eingestellt, ohne daß die ungeheuerliche Desinformationskampagne, die die Handschrift mehrerer Geheimdienste trägt, trotz ihres Riesenechos in allen Medien auch nur ein Dementi wert gewesen wäre.

Exkurs

Das Abschiebeabkommen von 1995 –

ein weiterer Markstein auf dem Weg zum Abbau der Menschenrechte

Seit der „neuen Dimension des Terrors“, den Kohl, Kanther und Beckstein in den kurdischen Autobahnblockaden entdeckt hatten, bemühte sich die Law-and-order-Fraktion, den internationalen Protest aus Anlaß der Verurteilung der kurdischen DEP-Parlamentarier und der Abschiebestopperlasse der Bundesländer zu unterlaufen. Nach einer sogenannten „Sachverständigenanhörung“ im Bundestag, die nur als Farce bezeichnet werden kann, weil das Ergebnis vorher feststand, präsentierte Kanther stolz den Briefwechsel mit seinem türkischen Kollegen.

Wie in den Medien gemeldet, sieht der „Briefwechsel“ u.a. vor, daß türkische Behörden auf Anforderung seitens der deutschen Behörden durch Noten offiziell mitteilen, ob nach den ihnen vorliegenden Erkenntnissen der betreffenden Person in der Türkei eine Strafverfolgung oder Strafvollstreckung droht, daß anwaltlicher Beistand und ärztliche Untersuchung jederzeit beantragt werden können usw.; die Möglichkeit, jederzeit mit einem Anwalt zu sprechen, soll auch im Falle der Strafverfolgung durch das Staatssicherheitsgericht bestehen, dies ist jedoch eingeschränkt von der Voraussetzung, „daß die zuständigen Justizorgane dies erlauben“.14

Einen Monat nach dem Briefwechsel – Mitte Juni 1995 – berichten die Medien unter der Überschrift „Gemeinsam gegen die PKK – Bonn und Ankara vereinbaren engeres Zusammenarbeiten“15 von einem Treffen des Staatssekretärs im Bundesinnenministerium Schelter mit Vertretern von Regierung und Sicherheitsbehörden in Ankara. Dabei habe Ankara seine Unterstützung zugesichert, „den Terrorismus der PKK auf deutschem Boden einzudämmen“. Weiter erklärte Schelter, beim Austausch von Straftäterdaten werde Ankara „ohne Verstöße gegen das Datenschutzgesetz“ unterstützt; Deutschland sei bereit, die Türkei bei der Modernisierung ihrer Polizei mit Aus- und Fortbildungsmaßnahmen zu unterstützen, Ziel sei die Vermittlungs moderner Polizeiarbeit; in dem Zusammenhang hätten die türkischen Behörden bekräftigt, aus Deutschland abgeschobene, straffällig gewordene Mitglieder und Sympathisanten der PKK „entsprechend den Vereinbarungen aufzunehmen“. Dazu gehörten die Einschaltung unabhängiger Anwälte und Mediziner nach Ankunft der Abgeschobenen und das „Nachschaurecht“ deutscher Behördenvertreter. Um möglichen Mißverständnissen vorzubeugen, eine Vorbemerkung:

Auch wenn dieser Briefwechsel sich ausdrücklich nur auf „PKK-Straftäter“ bezog, besteht die Gefahr einer viel weitergehenden Anwendung, für die gerade die SPD- bzw. rot-grün-regierten Länder Vorreiter waren, wie sich aus dem Beschluß der Innenminister auf ihrer Konferenz vom 19.5.1995 in Berlin ergibt. Darin hieß es:

„Kontaktangebote an abzuschiebende türkische Staatsangehörige zur zusätzlichen Sicherung bei der Rückkehr.

Die Innenministerkonferenz begrüßt den Briefwechsel zwischen Bundesinnenminister Kanther und dem türkischen Innenminister Mentese, der die Abschiebung von Personen mit PKK-Bezug erleichtert. Auch über diesen Personenkreis hinaus sollten in begründeten Einzelfällen Möglichkeiten zur Absprache mit der Türkei oder sonstigen ,flankierenden Maßnahmen‘ genutzt werden. Dazu kann in geeigneten Fällen z.B. gehören, daß die Kontaktaufnahme mit türkischen Anwälten bereits vor der Abschiebung angeboten und/oder die Rückkehr heimatlichen Organisationen angekündigt werden. (...)

Einsetzung einer Arbeitsgruppe zur Änderung des §54 AuslG.

Die IMK beschließt die Einrichtung einer länderoffenen Arbeitsgruppe unter Beteiligung des Bundes, die sich mit dem Ziel einheitlicher Rechtsauffassung und -Praxis mit der Kompetenz Zuordnung zwischen Bund und Ländern im Bereich des §54 AuslG und der Vollzugskonsequenzen befassen soll.“

Die Kritik an diesem historisch einmaligen Projekt setzte an der Menschenrechtssituation in der Türkei an. Die türkische Regierung ist von mehreren internationalen Organisationen zum Schutze der Menschenrechte (Europäische Antifolterkommission (CPT), UN-Menschenrechtsausschuß, Europäisches Parlament usw.) mehrfach öffentlich deswegen kritisiert worden, weil die systematische Folterpraxis und Unterdrückung von Kurden trotz entsprechender Zusicherungen nicht abgestellt worden ist. Wie konnte man ernsthaft annehmen, daß dies durch einen Briefwechsel anders werden soll, der nicht einmal die völkerrechtlich verbindliche Qualität der Menschenrechtskonventionen besaß?

Weitere Bedenken gegen das „Abschiebeabkommen“:

Es bestand Konsens sogar bis hin zum Auswärtigen Amt, daß Kurden menschenrechtswidrig behandelt werden und insbesondere die PKK nicht mit demokratisch-rechtsstaatlichen Mitteln bekämpft wird. Deshalb war es vollkommen absurd, aufgrund dieses Notenwechsels mit der bloßen Absichtserklärung davon auszugehen, daß dies sich plötzlich ändert.

Hier muß man insbesondere auf die Folter und Hinrichtung ohne Gerichtsurteil auf offener Straße durch Todesschwadronen von kurdischen Oppositionellen und PKKlern hinweisen: Selbst wenn kein offizielles Strafverfahren eröffnet wird, wird der türkische Geheimdienst den Betreffenden nach seiner Entlassung aus dem Polizeigewahrsam „zum Abschuß freigeben“.

Die Möglichkeit, einen Anwalt, Arzt bzw. Vertreter eines Menschenrechtsvereins hinzuzuziehen, schön und gut – angesichts der systematischen Verfolgung von Rechtsanwälten, Ärzten und Vertretern der Menschenrechtsvereine, die sich für Inhaftierte oder auch nur vermutete PKKler einsetzen (mehrere Dutzend Rechtsanwälte sind deswegen in Haft, mehr als sechs ermordet, zig Strafverfahren mit hohen Strafen usw.; ähnliches gilt für Ärzte und Vertreter von Menschenrechtsvereinen) – insofern ist auch dieser Punkt letzten Endes nur Augenwischerei.

Hinzu kommt die heutige Möglichkeit von Folterungen, die ärztlich kaum noch festgestellt werden können (psychische Folter, Scheinhinrichtungen u.a.), und die vielfach dokumentierte Tatsache, daß Ärzte unter Druck gesetzt wurden, falsche Bescheinigungen auszustellen.

Selbst wenn die türkischen Behörden zu nächst mitteilen, daß gegen den betreffenden Kurden nichts vorliegt, liegt es ja auf der Hand, daß die türkischen Behörden später über den Rechtshilfeweg, Geheimdienstkanäle o.ä. Informationen über die Tätigkeiten der Kurden in der BRD erhalten und hierauf basierend ein Ermittlungsverfahren vor dem Staatssicherheitsgericht wegen Separatismus eröffnen. In diesen Fällen können sie sich leicht darauf hinausreden, daß ihre damalige Auskunft vor der Abschiebung, es läge nichts gegen den Betreffenden vor, durchaus korrekt war, da sie ja erst später neue Erkenntnisse gewonnen hätten.

Hierzu liegt mir umfangreiches Dokumentationsmaterial von Schweizer Kollegen vor, mit dem nachgewiesen wird, daß eine ähnliche, seit Jahren von der Schweizer Regierung geübte Praxis keineswegs die Folter verhütet hat, im Gegenteil: Obwohl die Verbindungsbeamten der Schweizer Vertretung in der Türkei, zum Teil über Vertrauensanwälte, mitgeteilt hatten, der betreffende Kurde habe nichts zu befürchten, wurde er nach der Abschiebung schwer gefoltert. Werner Spierig faßt die Untersuchungen so zusammen:

„Diese Untersuchung ergibt, daß die Beweis erhebungen der Schweizerischen Botschaft in den Herkunftsländern der Asylbewerber rechtlich auf Sand gebaut sind, soweit das Funktionieren amtlicher Stellen bzw. das Verhalten von Amtspersonen (Polizei, Geheimdienste, Streitkräfte, Gendarmerie etc.) in der Türkei Gegenstand der Abklärungen sind und soweit die Informationen nicht allgemein zugänglich sind. (...)

In vielen Fällen muß bezweifelt werden, daß die erhobenen Beweise zuverlässig sind. Soweit Feststellungen wie jene, über einen Asylbewerber existiere kein ,politisches Datenblatt’, auf den Auskünften der türkischen zivilen Amtsstellen beruhen, welche ein nationales Fahndungsregister verwalten, ist ihnen die Zuverlässigkeit wohl in vielen Fällen abzusprechen. Ein derartiges Fahndungssystem ist vermutlich auch in der Türkei unvollständig, da es die Personendaten der Staatsschutzabteilungen der Polizei, Streitkräfte inklusive Gendarmerie und Geheimdienst nicht enthalten dürfte.

Diese Untersuchung stellt mithin die Frage, ob die schweizerische Botschaft in Ankara nicht einer grotesken Fehleinschätzung unterliegt, wenn sie allenfalls Auskünfte aus dem normalen türkischen Fahndungsregister be kommt und das Fehlen von Strafverfolgungsdaten in diesem Register als Beweis anführt, daß ein Asylbewerber auch nicht auf den verdächtigen Listen der Staatsschutzabteilung der Polizei, der Streitkräfte inklusive Gendarmerie und des MIT fungiert. (...)

Anhand einzelner Beispiele ist auch gezeigt worden, daß die Botschaftsrecherchen, die nicht den Datenbestand von Staatsschutzabteilungen und des nationalen zivilen Fahndungsregisters betreffen, nicht über alle Zweifel erhaben sind. Unsorgfältigkeit bei der Auskunftserteilung sowie Bequemlichkeit bei der Botschaft führen zu fehlerhaften Ergebnissen.

Schließlich weist die Untersuchung darauf hin, daß die Beweise nicht in der üblichen rechtsstaatlichen Weise erhoben werden, weshalb sich durch Fehlnotierungen und unbedachtes Vermischen von Tatsachen und ihrer beweisrechtlichen Würdigung Fehler einschleichen. Infolge der Erhebung von Beweisen durch telefonische Anfragen ergibt sich vielfach ein verfälschtes Bild, da angefragte Personen aus Angst vor Repressalien Selbstzensur üben oder mitunter auch über den Zweck der Anfrage nicht im Bilde sind oder falsch informiert werden.“16

Ein spektakulärer Fall möge als warnendes Beispiel dienen:

Wir vertreten einen kurdischen Flüchtling, der zusammen mit mehreren Dutzend Kurdinnen und Kurden nach einem monatelangen Kirchenasyl in der Schweiz, das landesweit Aufsehen erregt hatte, in Begleitung von Menschenrechtlern und Journalisten in die West-Türkei in ein hierfür eigens zur Verfügung gestelltes Haus abgeschoben wurde.

Das Ergebnis war eine „Abschiebung unter besonderen Bedingungen“: Der stellvertretende Leiter der schweizerischen Ausländerbehörde reiste neben Journalisten und Menschenrechtlern mit, wie vereinbart wurden die türkischen Staatsangehörigen bei der Ankunft entgegen der sonstigen Praxis nicht kontrolliert, Vertraute des Schweizer Konsulats kümmerten sich um die Abgeschobenen, zusätzlich waren Vertreter von Menschenrechtsorganisationen und Medien wochenlang vor Ort.

Selbst unter den Augen der internationalen Menschenrechtler, Journalisten und Anwälte war er jedoch vor Repressalien nicht sicher, so daß er erneut flüchten mußte, diesmal nach Deutschland, wo sein Asylantrag zwar abgelehnt wurde, das zuständige Verwaltungsgericht Bremen jedoch seiner Klage stattgeben mußte.

Eine Warnung an voreilige Abschiebe-Politiker ist auch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die sich mit der „Abschiebevereinbarung“ auseinandersetzt, wonach sich für rechtskräftig abgelehnte Asylbewerber aus der Türkei grundsätzlich die Möglichkeit ergibt, verwaltungsgerichtlich überprüfen zu lassen, ob das in dem Briefwechsel angesprochene Verfahren auf ihn Anwendung findet.17 Darin heißt es u.a.:

„Dem Beschwerdeführer ... eröffnet sich durch diesen Briefwechsel, wie immer seine Rechtsqualität zu bestimmen sein mag und ungeachtet seiner noch ausstehenden Umsetzung in nationales Recht, die Möglichkeit, im Rahmen eines weiteren Abänderungsverfahrens gemäß §123 i.V.m. §80 Abs. 7 VwGO ... einen Aufschub der ihm drohenden Abschiebung zu erreichen, bis geklärt ist, daß das in dem Schreiben des türkischen Innenministers unter Nr. 2 vorgeschlagene und vom Bundesminister des Innern in seinem Antwortschreiben akzeptierte Verfahren auch in seinem Falle Anwendung finden und wie es im einzelnen ins Werk gesetzt wird, insbesondere hinsichtlich der Sicherstellung der unter Nr. 2 e)-h) des Schreibens des türkischen Innenministers genannten Maßnahmen.“ (Seite 105)

Damit eröffnet sich für von drohender Abschiebung betroffene KurdInnen die Möglichkeit eines zusätzlichen gerichtlichen Verfahrens, dessen Ausgang allerdings offen ist. In der Praxis wird es wie so oft einen Wettlauf mit der Zeit darstellen. Geeignete Fälle sollten unbedingt vor das Bundesverfassungsgericht und im Hinblick auf Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention vor die Europäische Kommission bzw. den Europäischen Gerichtshof in Straßburg gebracht werden!

Wie die bisherige Zusammenarbeit – die aufgrund einer noch nicht „modernen Polizeiarbeit“ noch nicht so „enge“ (s.o.) – aussieht, sei an vier Beispielen verdeutlicht, wobei der erste Fall noch aus der Zeit der ersten Kurdenverfolgung unter dem Vorwand der „Terrorismusverfolgung“ im Zusammenhang mit dem Düsseldorfer PKK-Verfahren stattfand.

• Im Rahmen dieser ersten Phase der Verfolgung wurde im August 1987 die Wohnung des kurdischen Arbeiters Dervis Savgat in Celle von Beamten des BKA durchsucht, weil man im Rahmen des §129a-Ermittlungsverfahrens nach seiner Tochter suchte.

Während seines Heimaturlaubs wurde er am 25.8.1988 zusammen mit seinem Neffen, einem 13jährigen Kind, festgenommen. Nach acht Tagen wurde sein Leichnam seiner Familie übergeben. Die türkischen Sicherheitsbehörden erklärten hierzu, Dervis Savgat sei „bei einer Auseinandersetzung mit der PKK“ erschossen worden. Füße und Kopf waren grausam verstümmelt, die ganze Leiche war übersät von Folterspuren. Eine von der Familie und oppositionellen Politikern veranlaßte zweite Obduktion durch die Staatsanwaltschaft Viransehir ergab, „daß keine Schußspuren festgestellt wurden, sondern Brüche im Nacken und im Kiefer“.

Selbst ein SHP-Abgeordneter erklärte daraufhin, man versuche, „um einen staatlich begangenen Mord zu decken, einen zu Tode gefolterten Bürger als Opfer von PKK-Militanten hinzustellen.“18

Nachdem der Fall über BBC auch international in die Schlagzeilen geraten war, erklärte der Gouverneur auf kritische Fragen von Journalisten: „Was wollt Ihr, es war doch sowieso ein PKKler!“ – eine Information, die offensichtlich von der Hausdurchsuchung in Celle im Rahmen des 129a-Verfahrens stammte.

Auf weitere Früchte der Polizei- und Geheimdienstzusammenarbeit im Zusammenhang mit dem Düsseldorfer PKK-Prozeß habe ich bereits hingewiesen.

• Ein 35jähriger Kurde, Haci T. aus Vechta in Niedersachsen, wurde im Mai 1994 von der politischen Polizei (sechs Polizisten) aufgesucht und mit dem Vorwurf konfrontiert, er habe einen Bombenanschlag auf eine dortige Moschee geplant bzw. von der Planung gewußt und dies nicht angezeigt. Haci T. ist in Vechta als politisch aktiver Kurde bekannt. So hat er sich 1994 an einer Menschenkette gegen Krieg und Gewalt in der Vechtaer Innenstadt beteiligt, über die die Regionalpresse berichtete. Er selbst trug ein Plakat „Keine Waffen in die Türkei“, in der Presse erschien ein Foto, auf dem er deutlich erkennbar ist. Seitdem sind er und seine Familie Zielscheibe türkischer Sicherheitsbehörden und militanter Anhänger des türkischen Militärregimes und übereifriger bundesdeutscher Staatsschützer.

Am 20. Mai 1994 wurde das Asylbewerberheim, in dem er mit anderen Kurden untergebracht ist, von mehreren Zivilfahndern aus Oldenburg zusammen mit einer Dolmetscherin aufgesucht, während der Mandant sich in unserem Büro zu einer Besprechung befand. Hintergrund war, wie wir später erfuhren, ein vertraulicher („VS-NfD amtlich geheimgehaltener“) Bericht des MEK Oldenburg vom 20.5.1994, in dem es u.a. heißt:

„Im Rahmen anderweitiger verdeckter Ermittlungen … wurde zufällig ein Gespräch zweier Ausländer, kurdische Türken, mitgehört. In diesem Gespräch ging es um einen möglichen Bombenanschlag ... Ziel des möglichen Bombenanschlags soll eine türkische Moschee in Vechta sein, die zur Zeit zu einem ,Tagungsort für Türken‘ umgebaut wird.“

Unter dem 24.5.1994 erfolgte eine „Strafanzeige wegen Nichtanzeige geplanter Straftaten“ gegen Herrn T. Einige Zeit später war die Polizei bei ihm, wollte ihn sprechen und die in seinem Zimmer sichtbaren Bilder vom nationalen Befreiungskampf Kurdistans von der Wand entfernen, der Mandant ließ die Polizei jedoch nicht herein.

Seit den Vorfällen im Mai beschimpften ihn vor allem Türken als „Terroristen“ der PKK und bedrohten ihn, er dürfe nicht mehr in die Moschee. Anhänger der faschistischen „Grauen Wölfe“ haben versucht, ihn zu schlagen.

Im August 1994 legten zwei türkische Sicherheitsbeamtinnen in Zivil seinen Kindern (17 und 18 Jahre) den Zeitungsausschnitt mit dem Foto von der Protestdemonstration des Kurden vor und befragen sie, ob das ihr Vater sei. Als der Vater des Mandanten zum Beten in die Moschee gehen wollte, wurde ihm dies vom Vorbeter mit der Begründung verwehrt, sein Sohn habe versucht, in Deutschland eine Moschee zu bombardieren.

Seine Frau wurde am 27.8.1994 von türkischen Sicherheitskräften in das Gefängnis in Bingöl verschleppt, sie wurde verhört, u.a. wurde ihr der Zeitungsausschnitt wieder vorgehalten, und ihr wurde vorgehalten, ihr Mann schicke Geld aus Deutschland, mit dem sie die PKK unterstütze. Seitdem traut sich seine Familie aus Angst vor den Todesschwadronen nicht mehr auf die Straße.

Im März 1995 erschien erneut abends im Wohnheim des Klägers eine Horde maskierter und bewaffneter Männer, die gewaltsam und ohne jede Vorwarnung die Tür zerstörten und bei dem Kläger eindrangen, die Pistolen auf ihn richteten und ihm sofort ohne jede Erklärung Handschellen anlegten; er mußte sich ganz nackt ausziehen. Sie durchsuchten das ganze Zimmer, durchwühlten alles, zerstörten Sachen bzw. nahmen sie mit. Wie sich hinterher herausstellte, sollen es Einsatzkräfte des Sondereinsatzkommandos aus Oldenburg gewesen sein. Ein Dolmetscher war nicht zugegen, Erklärungen wurden dem Mandanten ebensowenig gegeben wie eine Bescheinigung über die Durchsuchung und Beschlagnahme.

Einige Zeit später wurden die mitgenommenen Unterlagen wieder bei der Heimleitung abgegeben, d.h. einfach auf den Tisch gelegt. Später wurde der Mandant von einem Beamten der Kripo Oldenburg, politische Polizei, aufgesucht, der ihm erklärte, die Auflistung seiner politischen Aktivitäten, die er zur Begründung seiner exilpolitischen Tätigkeiten seinem Anwalt vorgelegt habe, werde jetzt gegen ihn im Strafverfahren verwandt.

Das Verwaltungsgerichts Oldenburg hat diese Zusammenhänge im Urteil des Asylverfahrens vom 8.6.1995 nach Beweisaufnahme bestätigt und ausgeführt:

„Nach übereinstimmender Erkenntnislage ist davon auszugehen, daß die türkischen Sicherheitskräfte und der türkische Geheimdienst in der Bundesrepublik Deutschland über ein Netz von Mitarbeitern sowohl innerhalb als auch außerhalb ihrer diplomatischen Vertretungen verfügen, die oppositionelle Aktivitäten beobachten und überwachen.

Die türkischen Behörden verfolgen Aktivitäten kurdischer Organisationen im In- und Ausland aufmerksam und leiten die gesammelten Informationen weiter. (...) Zur Überzeugung des Gerichts steht auch fest, daß ein Foto, das den Kläger als Teilnehmer einer Menschenkette in Vechta zeigt, in der Türkei bekanntgeworden ist. (...) Die Behauptungen des Klägers und die Aussagen des Zeugen stimmen insoweit hinreichend überein, so daß der Schluß gerechtfertigt ist, daß türkische Sicherheitsorgane ein Interesse daran haben, des Klägers habhaft zu werden.“ (Az: 11 A 999/92)

• Die effektive Zusammenarbeit auf bisheriger Grundlage läßt sich auch im Zusammenhang mit einem 129a-Verfahren dokumentieren. Am 8. Mai 1995 stürmte ein Sondereinsatzkommando der Polizei in Berlin-Kreuzberg die Wohnung des Kurden Esref G., riß Schubladen aus den Schränken und stellte alles auf den Kopf. Seine Frau Türkan wurde von einem Beamten in den Nacken geschlagen, an schließend mußte sie im Krankenhaus behandelt werden.

Esref G., sein Sohn Özgür (18) und sein Bruder Orhan wurden festgenommen. Am gleichen Tage wurde Atila G. in seiner Wohnung in Rüsselsheim festgenommen; der Vorwurf: angebliche Tätigkeit für die PKK. Am 22. April hatte er zusammen mit anderen Kurden eine Kulturveranstaltung in Kassel organisiert, an der ca. 5000 KurdInnen teilgenommen haben. Deutsche Sicherheitskräfte hatten Tage vorher die Telefone der beiden Brüder abgehört, die sich u.a. darüber unterhalten haben, eine Fotoausrüstung zu besorgen, weil am Sonnabend, den 6. Mai, eine Verwandte heiraten werde. Zeitgleich in Kurdistan im Dorf Kasel, Kreis Varto: Romi G., der Bruder von Esref und Atila, und dessen Sohn Evrim (14) wurden von türkischen Sicherheitskräften verhaftet.

• Der Vater einer kurdischen 129a-Gefangenen aus Parzarcik, die seit Dezember 1994 unter weitgehenden Isolationsbedingungen inhaftiert war, wurde seitdem von türkischen Sicherheitskräften bedroht und mißhandelt. Im Juni 1995 gelang ihm die Flucht in die Bundesrepublik.

Wenn das Bundesinnenministerium also auf die Zusicherung Ankaras baut, den „Terrorismus der PKK“ auf deutschem Boden einzudämmen, so kann das nur heißen, daß auch in dieser Hinsicht türkische Zustände drohen – also Killerkommandos, Verschwindenlassen und Folter durch Counter-Guerillakräfte usw.!?

Die Zusammenhänge einer derartigen Zusammenarbeit aufgrund von „Abschiebevereinbarungen“ kommentierte der Jurist Dr. Heribert Prantl anläßlich der Bemühungen der deutschen Bundesregierung um entsprechende Zusicherungen der Türkei nach den Autobahnblockaden im April 1994 in der „Süddeutschen Zeitung“ zutreffend:

„Es wäre mehr als blauäugig zu glauben, ein Vertrag mit der Türkei könne die abgeschobenen Kurden vor Folterungen schützen.

Ein solcher Vertrag kann dem deutschen Staat nicht einmal als Feigenblatt dienen. Auch die Europäische Menschenrechtskonvention, die von der Türkei unterzeichnet worden ist, hat sie nicht vom Terror gegen Kurden abgehalten. (...)

Mit der zwangsweisen Abschiebung in den Verfolgerstaat wird das Fundament des Schutzsystems zerstampft, das in den Jahrzehnten nach dem Krieg aufgebaut worden ist. Die Genfer Flüchtlingskonvention wäre nichts mehr wert. Und wenn einmal, aufgrund einer bloßen Zusicherung des Verfolgerstaates, anerkannte Flüchtlinge dort zurückverfrachtet werden, dann gibt es kein Halten mehr: Dann werden mit allen Verfolgerstaaten der Erde gleichfalls solche Verträge abgeschlossen werden.“19

1 Antwort vom 17.5.1995, Geschäftszeichen A 2-125242-TUR/1, Seite 8

2 Bundestagdrucksache 13/1646 vom 7.6.1995 Seite 4

3 vgl. FR vom 3.8.1995 bzw. 21.1.1994

4 Kriminalistik Nr. 7/93, Seite 437ff, 440

5 Süddeutsche Zeitung,1.8.1995

6 FR ,15.2.1996

7 FR, 15.2.1996

8 Ständige Rechtsprechung, vgl. BVerfGE 71, 108 ff., 114; BVerfGE 73, 236 ff.; 76, 211 sowie die jüngste Entscheidung zu §240 StGB, Az.: 1 BvR 718/89 u.a.

9 Vgl. dazu §129a BGHSt 33, Seite 16ff, 18; Rudolphi, SK-StGB, §129 RdNr. 17 jeweils m.w.N.

10 Dreher-Tröndle, StGB, Anmerkung 4b zu §129 StGB).

11 So ausdrücklich Landgericht Frankfurt, Beschluß vom 25.8.1995 – 5/1 Qs 9/95 – in StV 1995, S. 645f.

12 BGH-Urteil vom 24.1.1996 3 StR 530/95, S. 9ff.

13 Der Spiegel, 46/96, Seite 110

14 vgl. Bundestagsdrucksache 13/1135, Seite 3, Ziffer 2h

15 Weser-Kurier vom 17.7. 95, Seite 1

16 Werner Spierig, Sachdienlich und diskret: „Über Sie existiert weder ein gemeinrechtliches noch ein politisches Datenblatt“ – Die asylrechtlichen Beweiserhebungen von BFFF-Verbindungsbeamten in schweiz. Botschaften im Ausland. Fakten und Probleme am Beispiel in der Türkei, Bern 1993, Seite 118ff.

17 Beschluß des 2.Senats vom 23.3.1995, AuAs 1995 S. 101 ff.

18 Milliyet, 9.9.1988

19 Süddeutsche Zeitung, 26.4.1994

 


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