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1998

Rubrik
Theorie & Debatte
 

Den Nationalismus mit dem Imperialismus austreiben ?

Wodurch ueberwindet die Bourgeousie die Krisen ? Einerseits durch die erzwungene Vernichtung einer Masse von Produktivkraeften; anderseits durch die Eroberung neuer Maerkte und die gruendlichere Ausbeutung alter Maerkte. Wodurch also ? Dadurch, dass sie allseitigere und gewaltigere Krisen vorbereitet und die Mittel, den Krisen vorzubeugen, vermindert.
Karl Marx / Friedrich Engels
Manifest der Kommunistischen Partei

Vor etlichen tausend Jahren erfanden die Urmenschen eine neue Methode, um
die lebensnotwendige Jagd zu effektivieren. Sie beobachteten die Gewohnheiten
der sie umgebenden Tierwelt und studierten vor allen Dingen deren Flucht-
verhalten. Hieraus zogen sie ihre Schluesse: An die Stelle der muehsamen und
gefahrvollen Jagd einer kleinen Horde auf die schnelle oder wehrhafte Beute
trat die Strategie, durch entsprechendes Verhalten eines Teiles der Jagd-
gemeinschaft Verwirrung und Panik unter den Tieren zu stiften, um diese zu
kopfloser Flucht zu veranlassen. Der andere Teil der Jaeger lauerte auf dem
vorher erkundeten Fluchtweg. Hier konnte die Beute bequem erlegt werden,
wenn sie sich nicht schon in zuvor ausgehobenen Gruben selber zu Tode
gestuerzt hatte.

Das Verhalten vieler Linker im gesellschaftlichen Spannungsfeld zwischen
deutschem Nationalismus und Europaeischer Integration aehnelt der instink-
tiven Flucht der praehistorischen Tierwelt vor den schreienden und gesti-
kulierenden Jaegern. Im Glauben, die Fratze des aus der geschichtlichen
Gruft wiederkehrenden Deutschlands bannen zu koennen, wird besinnungslos
die angeblich zivilisierende Kraft Europas beschworen. Der Umstand, dass
die Drohung der BRD-Eliten mit einem neuen 'Deutschen Sonderweg' takti-
sches Kalkuel ist, um so die Europaeische Union auf ihre Interessen auszu-
richten, verschwindet bei diesem kurzschluessigen Reflex natuerlich aus dem
Horizont - genauso wie der Fakt, dass ein Europa der Herrschenden den impe-
rialistischen Terror nach innen wie nach aussen zwangslaeufig verschaerfen wird.

Alle Welt schliesst sich zusammen - warum eigentlich ?

Es gibt kaum einen Winkel der Erde, der nicht direkt oder indirekt in die
Errichtung politischer und oekonomischer Zusammenschluesse einbezogen waere.
Wenn sich auch die bedeutendsten dieser Buendnisse - das nord- und mittel-
amerikanische NAFTA-Abkommen zwischen den USA, Kanada und Mexiko einerseits
sowie der suedostasiatische ASEAN-Pakt und die Europaeische Union anderer-
seits - in ihren Strukturen und Funktionsweisen teilweise unterscheiden,
so sind doch ihre hauptsaechlichen Zielsetzungen identisch.

Ein wesentlicher Zweck dieser Buendnisse ist, ueber den nationalen Rahmen
hinausgehende zentrale Macht- und Herrschaftsraeume zu schaffen. Diese
sind eine wichtige Voraussetzung, um grosse und homogene Binnenmaerkte etab-
lieren zu koennen. Wir werden weiter unten noch sehen, dass dies in erster
Linie den maechtigsten Konzernen zugute kommt.

Die entstehenden Bloecke bieten den Multis neben internen Vorteilen - zu
denen nicht zuletzt die Vereinheitlichung und Weiterentwicklung von Teilen
der Infrastruktur (Verkehr, Telekommunikation) gehoert - auch verbesserte
Bedingungen fuer den globalen Konkurrenzkampf, weil die stattfindenden
Integrationsprozesse die strategische Zusammenfassung von staatlichen For-
schungsressourcen im Bereich der profittraechtigen Schluesseltechnologien
gestatten. Am deutlichsten wird dies im Bereich der Luftfahrtindustrie:
Der europaeische Airbus war nur durch massive Subventionierung soweit hoch-
zupaeppeln, dass er sich der amerikanischen Konkurrenz von Boeing stellen
konnte.

Eine vergleichbare Politik wird von der Europaeischen Union auch in anderen
Sektoren wie der Raumfahrt oder der Kernfusionsforschung betrieben.
Der Grund fuer diese im gesellschaftlichen Kontext destruktive Schwerpunkt-
setzung staatlicher Forschungspolitik ist, dass kein Konzern mehr die gewal-
tigen Kosten fuer die Entwicklung jener Technologien alleine aufbringen kann,
und wo die Mittel des einzelnen Staates nicht hinreichen, muss eben die Fi-
nanzkraft mehrerer Staaten gebuendelt werden, um nicht im allgemeinen oeko-
nomischen Wettlauf zurueckzufallen.

Damit aber nicht genug.
Sperrt sich ein imperialistischer Konkurrent oder gar ein Land des ausge-
beuteten Trikont den Segnungen des freien Welthandels, so bieten fuer diesen
Fall zentralisierte Herrschaftsstrukturen die Moeglichkeit der Entwicklung
ausseroekonomischer Staerke, um die Interessen des schnoede abgewiesenen Kapitals
in letzter Konsequenz auch militaerisch durchzusetzen.

Die Herrschenden profitieren auch innenpolitisch von der transnationalen
Integration: Repression, Ueberwachung und die Abschottung gegenueber den Opfern
imperialistischer Politik sind in dem Masse effektivierbar, das fuer noetig
erachtet wird, um die Position der Eliten abzusichern.

Die ablaufenden Prozesse muessen theoretisch durchdrungen werden, um sie ein-
schaetzen zu koennen. Die treibende Kraft hinter den geschilderten politischen
Entwicklungen und Erscheinungsformen liegt in den Gesetzmaessigkeiten der kapi-
talistischen Oekonomie. Im Kampf um Marktanteile und Profite muss jedes Unter-
nehmen die Produktivitaet staendig steigern, um preiswerter produzieren und
die Kontrahenten niederkonkurrieren zu koennen. Die Ergebnisse dieses dem
Kapitalismus ureigenen Prinzips sind offensichtlich; mit der Konzentration
der wirtschaftlichen Macht steigt auch die politische Macht der auf dem oeko-
nomischen Schlachtfeld siegreichen Konzerne. Was aber in diesem geschicht-
lichen Prozess ebenso steigt, ist die Kapitalintensitaet der industriellen
Produktion. Die ueberlegene Produktivitaet der Grosskonzerne resultiert aus
ihrer Faehigkeit, immense Summen in fertigungsspezifische Hochtechnologien
und durchgreifende Rationalisierungsmassahmen investieren zu koennen.

Die so fortschreitend wachsende organische Zusammensetzung des Kapitals
macht die konkrete Warenproduktion jedoch tendenziell immer unrentabler,
weil trotz gesteigerter Ausbeutung der Anteil der lebendigen Arbeit am
gesamten Warenwert immer marginaler wird, genau diese vernutzte Arbeits-
kraft aber die einzige Quelle von Mehrwert und realisierbarem Profit ist.
Mit anderen Worten: Die Profitrate faellt, und die Einfuehrung des in aller
Munde befindlichen Wundermittels lean production drueckt sie zwangslaeufig
noch mehr herab.

Die globalen Produktivitaetsschuebe, die aus der mit dem Begriff lean produc-
tion verknuepften umfassenden Integration mikroelektronischer Innovationen
in Fertigung, Organisation und Management resultieren, sind nicht Resultat
einer lediglich linearen Weiterentwicklung der Produktivkraefte. Wir haben
es vielmehr mit einem neuen Produktivkrafttyp zu tun, der hochflexible und
betriebswirtschaftlich effiziente Strukturen hervorbringt. Dies ist jedoch
unloesbar an die massenhafte Verdraengung von Lohnarbeit aus dem Produktions-
prozess gekoppelt.

Das den Fordismus praegende labile Gleichgewicht zwischen Produktivitaets-
fortschritt und Massenkaufkraft ist endgueltig aus dem Lot geraten. Hier-
durch wachsen die Anforderungen an den Staat, im Interesse der Funktions-
faehigkeit des Systems steuernd in die Rahmensetzung dieses oekonomischen
Prozesses einzugreifen.

Bei diesen Interventionen sind die Interessen verschiedener Kapitalfraktionen
zu beruecksichtigen. Der Grad der aktiven Unterstuetzung der Integrationspro-
zesse ist dabei an die internationale Konkurrenzfaehigkeit der strukturprae-
genden Wirtschaftszweige und Grosskonzerne gekoppelt. Hier schliesst sich
der Kreis: Um die Profitraten durch Eingriffe aus der politischen Sphaere
zu stuetzen, wird der technologische Quantensprung der oekonomisch staerksten
Unternehmen durch die Schaffung oder - wie im Falle Europas - die qualitative
Vertiefung von supranationalen Allianzen flankiert.

Was bedeutet dies im europaeischen Kontext ?
Ein vergroesserter, nach aussen abgeschotteter und nach innen deregulierter
Marktraum ist fuer die grossen Konzerne der EU wie massgeschneidert. Der
Kapital- und Warenverkehr wird nicht mehr durch Zoll- oder sonstige admini-
strative Schranken behindert, und so koennen die Unternehmen mit hoeherer
Produktivitaet den Binnenmarkt unter sich aufteilen.

Das von den Rationalisierungswellen europaweit angeheizte Wachstum der
Massenarbeitslosigkeit ermoeglicht es darueberhinaus dem Kapital, Reallohn-
abbau durchzusetzen. Beguenstigt wird dies durch die Krise der traditionellen
Gewerkschaftsbewegung, die dazu fuehrt, dass der Taktik des europäischen Kapi-
tals, verschiedene Produktionsstandorte gegeneinander auszuspielen, kein re-
levanter Widerstand entgegengesetzt werden kann.

Die durch den technologischen Umbruch gesteigerte Flexibilitaet der trans-
nationalen Konzerne ist im uebrigen auch der Schluessel zum Verstaendnis die-
ser neuerdings in Mode gekommenen Standortdebatte. Konzerne und Finanz-
kapital sind im Zeitalter von Toyotismus, Datenautobahnen und prozessor-
gesteuerter Produktionstechnologie laengst global player geworden, und sie
sind sowohl gezwungen als auch dazu faehig, zur Realisierung der knappen
Gewinnspannen weltweit taetig zu sein. Weil dem aber so ist, wollen die
Multis von den Regierenden schon etwas geboten bekommen, damit sie nicht in
profittraechtigere Gefilde oder, da diese immer rarer werden, in die Sphaere
des spekulativen Casinokapitalismus abwandern.

Gottlob existiert ja inzwischen das neoliberale Theoriegebaeude. Diese Theo-
rie - nichts als ein Versuch, die Krisen des Postfordismus im Sinne des Gross-
kapitals zu loesen - stellt den Regierenden ein breites Spektrum an sozial-
politischen Folterwerkzeugen zur Verfuegung, um die Produktionskosten des
jeweiligen Wirtschaftsraums so niedrig wie moeglich zu druecken.

Fuer das materielle Lebensniveau der lohnabhaengigen Bevoelkerung bedeutet dies
konkret, dass die erreichten sozialen Standards dereguliert, die Abgaben-
und Steuerlast erhoeht und die staatlichen Ausgaben fuer soziale Belange ge-
kuerzt werden. Nur so sind unter den erreichten oekonomischen Rahmenbedingungen
die staatlichen Ziele einer Entlastung des Kapitals und einer notwendigen
Haushaltskonsolidierung noch gleichzeitig zu verfolgen. Diese Palette von Mass-
nahmen bewirkt, dass sich fuer den Augenblick die Verwertungsbedingungen des
Kapitals verbessern. Mittelfristig verschaerft sich aber das sozialoekonomische
Konfliktpotential, weil die Schere zwischen schrumpfender Massenkaufkraft
und Produktionskapazitaet und -volumen immer weiter auseinanderklafft.

Die Daten des Jahres 1994 belegen nachdruecklich diese Entwicklung. So wird
allenthalben festgestellt, dass in der BRD die tiefste Nachkriegsrezession
des Vorjahres endlich ueberwunden sei und die wirtschaftliche Erholung wieder
Tritt gefasst habe - mit Ausnahme des konsumnahen Kapitals, das als einziger
relevanter Sektor auch 1994 reale Umsatzeinbussen hinnehmen musste. Alle Hoff-
nungen ruhen auf dem Export, und das muessen sie auch, weil sich zuhause nie-
mand mehr die glitzernde Warenwelt leisten kann.

Als Konsequenz des technologischen Umbruchs wird diese Strategie notgedrungen
sowohl in den imperialistischen Metropolen als auch in den so bewunderten
suedostasiatischen Staaten gefahren. Angesichts der gesaettigten Weltmaerkte
sind die Profite aber nur noch in oekonomischen Verdraengungsschlachten groessten
Ausmasses realisierbar. Die Konflikttraechtigkeit dieser entfesselten Konkur-
renzkaempfe muss wohl kaum naeher erlaeutert werden.

Sackhuepfen im Sumpf

Der von den Herrschenden Europas vorangetriebene Prozess einer vertieften
europaeischen Integration steckt unuebersehbar in einer Krise. Dabei schienen
die Pfloecke mit der Unterzeichnung des Maastrichter Vertrages im Februar 1992
laengst eingeschlagen. Der Binnenmarkt ist Realitaet geworden, der Zeitplan fuer
die Einfuehrung einer einheitlichen Waehrung steht, und die halbe europaeische
Ministerialbuerokratie verbringt ihre Zeit damit, Denkschriften und Studien
zu noch effizienteren Herrschaftsstrukturen und Militaerdoktrinen zu erar-
beiten.

Trotzdem stockt der Prozess, und statt des Grossen Gesamteuropaeischen Geistes
schleichen viele einzelne Nationalismen wie eine Rotte geschichtlicher Un-
toter durch den Kontinent.

Dieser Rekurs auf das ideologische Konstrukt namens Nation ist nicht etwa ein
unerklaerliches Phaenomen, sondern die logische Konsequenz des Integrationspro-
zesses. Es gehoert zum Wesen dieses Prozesses, dass er neben den gewinnenden
transnationalen Konzernen eine ungleich hoehere Zahl an Verlierern produziert,
weil die Herrschenden ihre Versuche des Krisenmanagements auf dem Ruecken des
Trikonts und der europaeischen Bevoelkerung austragen.

Zu den objektiven Verlierern der forcierten Integration gehoeren aber auch
weniger produktive Kapitalfraktionen und Unternehmen in den insgesamt noch
leistungsfaehigen Staaten genauso wie von vorne herein wirtschaftlich schwae-
chere europaeische Staaten. Da es fuer die genannten politoekonomischen Struk-
turen aber keine realistische Alternative zur Integration gibt, weil sie an-
sonsten voellig vom Marktgeschehen ausgeschlossen waeren, beschraenkt sich der
Protest auf hinhaltenden Widerstand gegen ein zu hohes Integrationstempo.
Dadurch wird ihr Problem natuerlich nicht geloest, sondern ihr Siechtum allen-
falls verlaengert.

Die brisante Mixtur aus weltweit zugespitztem Konkurrenzkampf und schmaler
werdender produktiver Basis fuehrt dazu, dass einzelne Nationalstaaten, aber
auch die Bruesseler EU-Kommission immer weniger Mittel aufwenden koennen, um
unproduktives Kapital und strukturschwache Regionen weiterhin durch massive
Subventionierung am Leben zu erhalten. Die europaeischen Regierungen versuchen
dieses Dilemma zu loesen, indem sie - wie oben aufgezeigt - das materielle
Lebensniveau und die relative soziale Sicherheit eines Grossteils der europae-
ischen Bevoelkerung auf den Altaeren von Standortsicherung und internationaler
Wettbewerbsfaehigkeit opfern.

Dieser 'Sachzwang', der tatsaechlich nur die extrem entfremdeten Produktions-
verhaeltnisse im Spaetkapitalismus widerspiegelt, existiert unabhaengig von dem
politischen Willen buergerlicher Regierungen. Das bedeutet, dass jede Politik,
die nicht grundsaetzlich theoretisch und praktisch mit der Logik der kapita-
listischen Produktionsweise bricht, von dessen Gesetzmaessigkeiten eingeholt
und dazu gezwungen wird, im internationalen Deregulierungswettlauf mitzutun,
um nicht das gesellschaftliche Erdbeben einer flaechendeckenden Deindustriali-
sierung durch Kapitalflucht und/oder den Zusammenbruch des nationalen
Wirtschaftsgefueges zu riskieren.

Die allenthalben exekutierte Deregulierungsoffensive laesst natuerlich das
Massenbewusstsein der Bevoelkerung nicht unbeeinflusst. Das Gefuehl, von den
Entwicklungen ueberrollt zu werden und im materiellen Besitzstand bedroht zu
sein, waechst, und das nicht ohne Grund. Weil dieses Gefuehl aber seinen Klas-
senfeind nicht mehr kennt, ist der Manipulation des Bewusstseins Tuer und Tor
geoeffnet. Als psychologisches Krisenmanagement bietet sich den Herrschenden
in dieser Situation der ideologische Rueckgriff auf die Nation an, weil die
Bedrohung nie von oben, sondern immer von aussen kommen muss und ein sozialer
Kahlschlag sich leichter legitimieren laesst, wenn er mit der vermeintlichen
Sicherung des nationalen Wirtschaftsstandorts verknuepft wird.

Das einzige durch die Herrschenden gefoerderte europaeische Gemeinschaftsgefuehl
von unten ist dasjenige, welches sich gegen ImmigrantInnen aus dem Trikont
richtet. Hier treffen sich fatalerweise die Interessen von Herrschenden und
Beherrschten in Europa, weil auch letztere mittelbar von Auspluenderung und
Elend in den Laendern des Suedens profititieren. Kampagnen ueber 'die Bevoelke-
rungsexplosion in der Dritten Welt', 'Organisierte Kriminalitaet von Auslaen-
dern' und den 'islamischen Fundamentalismus' fallen deshalb quer durch alle
gesellschaftlichen Schichten auf offenen Boden - als waere der Ausspruch eines
gewissen Herrn Liebknecht, wonach sich der Hauptfeind immer im eigenen Land
befindet, nur eine seltsame Verirrung der Geistesgeschichte.

"Die Drohung ist staerker als die Ausfuehrung !"

Dieses Bonmot des lettischen Schachgrossmeisters Aaron Nimzowitsch (1886-1935)
gilt nicht nur auf den 64 Feldern, sondern koennte ebenso als Leitmotto fuer
die gegenwaertige deutsche Europa-Politik formuliert sein.

Schon im Zuge der Verhandlungen um den Maastrichter Vertrag ist es der BRD
gelungen, den uebrigen europaeischen Staaten die wirtschaftlichen Konvergenz-
kriterien - Verschuldung des Staates und jaehrliche Neuverschuldung, Infla-
tionsrate sowie Zinsniveau - als Bedingungen fuer die Teilnahme an der europae-
ischen Waehrungsunion zu diktieren.

Nachdem die erste Huerde auf dem Weg zur deutschen Hegemonie in Europa auf
diese Weise genommen wurde, wirft die fuer 1996 vorgesehene und als 'Maas-
tricht 2' bezeichnete europaeische Regierungskonferenz, auf der konkrete
Schritte zur weiteren Gestaltung des Kontinents vereinbart werden sollen,
schon ihre Schatten voraus.

Diese Konferenz nimmt einen hohen Stellenwert in den strategischen Ueberle-
gungen der BRD-Regierung ein, und so entwickelte sie im Papier der CDU-Bundes-
tagsfraktion von Schaeuble und Lamers aus dem September 1994 in kalkuliert
provokativer Offenheit ihre europaeischen Zielsetzungen.

Da sich abzeichnet, dass nur wenige europaeische Staaten die auf die Weltmarkt-
tauglichkeit des deutschen Grosskapitals zugeschnittenen Konvergenzkriterien
erfuellen koennen, gleichzeitig aber besonders die osteuropaeischen Staaten be-
mueht sind, in die EU aufgenommen zu werden, forcieren die Eliten der BRD das
alte Mitteleuropakonzept des deutschen Imperialismus in modernisierter Form:
das sogenannte 'Kern-Europa'.

Hinter diesem Begriff verbirgt sich das Konzept eines durch Deutschland do-
minierten europaeischen Blocks, der sich den direkten Zugriff auf die osteuro-
paeischen, besonders aber die russischen Maerkte und Ressourcen sichern will.
Schaeuble und Lamers schreiben dazu: "( ... ) Nach der Wiedervereinigung
Deutschlands und - was in diesem Zusammenhang noch wichtiger ist - nachdem
der Osten als Aktionsraum fuer die deutsche Aussenpolitik zurueckgekehrt ist
( ... ) stellt sich die alte Frage nach der Eingliederung der Staerke Deutsch-
lands in die europaeische Struktur ( ... ) in neuer, ja in ihrer eigentlichen
Bedeutung. ( ... )"

Hier, aber auch an anderer Stelle des Papiers finden sich dezente Hinweise,
dass die der geopolitischen Lage nach dem zweiten Weltkrieg geschuldete West-
bindung Deutschlands nichts Absolutes sei und sich das Neue Deutschland auch
durchaus wieder auf seine klassische Rolle als alleinige osteuropaeische
Ordnungsmacht besinnen koenne.

Tatsaechlich ist das BRD-Kapital aber inzwischen viel zu sehr auf den europae-
ischen Integrationsprozess angewiesen, als dass es die damit verbundenen Pro-
fitmoeglichkeiten zugunsten einer isolationistischen und konfliktorientierten
Grossmachtpolitik aufs Spiel setzen wuerde. Trotzdem heizen die Eliten Deutsch-
lands den gesellschaftlichen Diskurs um die Frage 'Westbindung oder Mittel-
lage ?' an. Sie spekulieren zu recht darauf, dass diese Debatte im restlichen
Europa mit misstrauischer Aufmerksamkeit verfolgt wird. Das 'Kern-Europa-
Konzept' der Regierung Deutschlands, in dem einigen als nuetzlich angesehenen
europaeischen Staaten, vor allem aber Frankreich grossmuetig ein strategisches
Buendnis innerhalb der bestehenden EU zu deutschen Bedingungen angeboten wird,
zieht diese Befuerchtungen vor einem potentiellen neuen 'Sonderweg' bewusst ins
Kalkuel.

Der Deal ist geschickt: Den restlichen Staaten 'Kern-Europas' wird suggeriert,
die BRD in gewissen Grenzen immer noch eingebunden zu haben, was diese sich
durch weitreichende oekonomische und politische Zugestaendnisse honorieren laesst.
Gleichzeitig lockt die Aussicht, als Junior-Partner Deutschlands an der infor-
mellen Kolonisierung Osteuropas teilhaben zu koennen.

Fuer die BRD werden, falls diese Konzeption aufgeht, mehrere Fliegen mit einer
Klappe geschlagen. Durch die neue Qualitaet einer europaeischen Integration
unter deutscher Fuehrung blieben die Marktchancen im EU-Raum gewahrt, ohne
dass auf die traditionell angestrebte Vorherrschaft in Osteuropa verzichtet
werden muesste.

Gleichzeitig stuende aber auch das Europa ausserhalb des Kernes wegen der zen-
tralisierteren Herrschaftstrukturen der EU unter der Dominanz dieses Kernes -
also Deutschlands.

Da Frankreich von dieser neuen Struktur letztlich profitieren wuerde, freun-
den sich dessen Eliten mit dem Gedanken einer deutsch-franzoesischen Achse als
Machtpol Europas an, auch wenn eine Unterordnung unter eine deutsche Hege-
monie schwerfallen duerfte. Der fruehere franzoesische Aussenminister Poncet
fuehrt dazu in positiver Reaktion zu dem Schaeuble-Lamers-Papier aus: "( ... )
Wirtschaftsraum oder Weltmacht: das ist die zentrale Frage, von deren Beant-
wortung der Rest abhaengt. Wenn sich Europa damit zufriedengibt, nur eine
Freihandelszone zu sein, dann braucht man die Institutionen nicht zu staerken,
dann braucht Europa keine gemeinsame Waehrung, keine gemeinsame Diplomatie und
keine gemeinsame Verteidigung. Wenn Europa dagegen ein vollwertiger Akteur
auf der internationalen Buehne werden will, muss es sich dazu die noetigen
Mittel geben: politische, institutonelle und Waehrungsmittel. ( ... )" und
schliesst "( ... ) Die Union wird erst dann wirklich geboren werden, wenn wir
ihr wahres Ziel immer im Auge behalten: Sie muss zu einem Stabilitaetspol wer-
den, der die notwendige Macht hat, um sowohl die Vielfalt in Europa zu ent-
wickeln als auch ( ... ) an der Verwaltung des Planeten mitzuwirken. ( ... )"
(FAZ, 17.9.94). Also mit anderen Worten: eine Buendelung der europaeischen
Kraefte notfalls auch unter der Fuehrung der BRD, um die neue Etappe des glo-
balen Imperialismus an vorderster Front mitpraegen zu koennen.

Wir haben jedenfalls gesehen, dass die Eliten der BRD die Drohung des 'Neuen
Deutschen Sonderwegs' lediglich wie einen Popanz vor sich hertragen, um die
Durchsetzung ihrer eigentlichen Ziele um so leichter zu erreichen. Diese
Ziele und die Strategien der Herrschenden, mit denen sie diese durchsetzen
wollen, muessen ebenso kalt analysiert werden wie die hinter dem Imperialismus
stehenden Triebkraefte, um den Kampf gegen weltweite Ausbeutung und Unter-
drueckung erfolgreich fuehren zu koennen.

Sind wir dazu nicht in der Lage, so werden wir immer in die Fallen der Herr-
schenden tappen.

Steffen Naumann

aus: DIE ROTE LUZI Nr. 21 c/o P S G, Rankestr. 31, 10789 Berlin