trend PARTISAN.net
online
archiv

1998

Rubrik
Theorie & Debatte
 

Theorie oder Kritik?
Eine erkenntniskritische Anmerkung

von Manfred Dahlmann

aus: Kritik&Krise Nr.4/5 (Sommer 91)

Stellt man den Artikel von Postone den meisten anderen dieser
Zeitschrift gegenüber - oder solchen, wie sie von Pohrt oder
Geisel, Broder oder Brumlik verfaßt werden -, fällt dessen
'Ausgewogenheit' in der Form der Darstellung auf. Die
Wirkungsgeschichte dieses Textes belegt jedoch, daß die Vorwürfe
der Arroganz bis hin zum Zynismus - sei es auch nur der der
"überzogenen Kritik-" an die Adresse der oben genannten oder
anderer einschließlich der ISF -, nur entschuldigen sollen, was
mit dem Text von Postone, trotz seiner Verpflichtung auf den
'guten Ton' unter wissenschaftlich gebildeten Lesern, geschah:
daß auch ein moderater Stil mitnichten dazu führt, daß die
Kritisierten sich mit einer inhaltlich gerechtfertigten Kritik
auch auseinandersetzen.

Uns ist nicht bekannte wie Postone heute, wo die von ihm
angesprochenen Befürchtungen über einen latenten Antisemitismus
auch und gerade innerhalb der Linken längst manifest geworden
sind, über den linken Antisemitismus denkt.(1) Es ist kaum
anzunehmen, daß er sein Urteil mittlerweile nicht in einem
schärferen, dem Gegenstand angemesseneren Ton formulieren würde.
Zumal Postone in seiner ausgewogenen, um Vermittlung bemühten
Form die seit Adorno bzw. Löwenthal u.a. längst bekannte
Tatsache nicht deutlich genug werden lassen kann, daß
Antisemiten prinzipiell unbelehrbar sind. Was man auch sagt und
tut - alles paßt sich ihrem Weltbild von der jüdisch-
zionistischen oder sonstigen Weltverschwörung nahtlos ein. Das
"Lernen aus der Geschichte" gehört jedenfalls, und dies nicht
nur bei Antisemiten - das allein läßt sich aus der Geschichte
lernen - nicht zu den Fähigkeiten eines Bürgers.

Da Postone alles wesentliche gesamt hat, scheint einem Kritiker
eigentlich nur die Möglichkeit zu verbleiben, das von ihm bloß
implizierte auch ausdrücklich hervorzuheben. So die nicht
explizit vorgenommene Bestimmung des Finanzkapitals als eine
spezifische und für den Kapitalismus notwendige
Vermittlungsstation zwischen Produktion und Konsumtion, die als
Geld heckendes Geld, als - im Gegensatz zu seiner wirklichen,
lediglich vermittelnden Funktion - Spitze der Ausbeutung
erscheint.(2) Durch einen Verweis auf diese verkehrte
Erscheinungsweise der Ebenen von Produktion und Distribution
kann - dies aber ist schon oft genug, wenn auch politisch
konsequenzlos, geschehen - die von den Nazis getroffene
Unterscheidung zwischen Industriekapital und Leih- und
Börsenkapital (oder gängiger: die vom produzierenden gegen die
vom raffenden Kapital) unmittelbar anschaulich gemacht werden.

Obwohl er die Frage, worin die besondere Qualität der
Judenvernichtung unter den Nationalsozialisten besteht,
beantwortet, sei doch auf eine bei Postone am Schluß
auftauchende, zumindest unverständliche Interpretation
hingewiesen: Eine besondere Qualität besteht auf jeden Fall
nicht darin, daß, über die industriell betriebene Ermordung von
Menschen, auf totale Vernichtung einer - objektivistisch als
eine bestimmte 'Rasse' ausdifferenzierte Gruppe von Personen
zielende Politik noch hinaus, außerdem eine besondere kulturelle
Identität zerstört worden wäre. Die Zerstörung dieser
kulturellen, und insbesondere religiösen Identitäten ist ein
Charakterzug des Kapitalismus überhaupt - also nicht nur eine
seiner Eigenschaften, die nur in seiner Erscheinungsweise unter
den Nazis existiert hätte. Dies wäre sogar - horribili dictu -
nicht einmal eine seiner schlechtesten, wenn es dem Kapitalismus
bei dieser Zerstörung kultureller Identitäten um die Zerstörung
von Religiosität (oder Nationalität) im allgemeinen ginge - und
nicht um die Zerstörung bestimmter Religionen (oder Nationen),
die dann durch andere, und sei es die des Geldes, ersetzt wird.
Eine Kritik nur des Buddhismus ist nicht zugleich eine Kritik am
Christentum, eine christlich motivierte Kritik des Judaismus
bleibt Antisemitismus und der Vorwurf des Eurozentrismus hat
sich bisher noch bei jeder abendländischen Kritik am Islamismus
bestätigt. Solche Kritiken sind nur der Versuch, die eine
schlechte Identität gegen die andere, mindestens ebenso
fragwürdige auszutauschen. Die Kritik der Religion im
allgemeinen aber bleibt Voraussetzung jeder Kritik der
Gesellschaft: das ist ein Moment, das bei Postone zu kurz kommt.

Kommen wir nun zu dem einzig wirklich problematischen Punkt:
Postone löst ein Problem zwar richtig, die Mittel, mit denen er
das Problem löst, sind aber erkenntnistheoretisch fragwürdig.

Es geht um den Stellenwert, den die Marxsche Wertformanalyse
einnimmt. Dabei ist gegen die Interpretation dieser Analyse
durch Postone nichts einzuwenden - Marx ist in der Tat so zu
lesen, wie Postone das tut. Das Problem liegt darin, daß man die
Wertformanalyse überhaupt zum Zwecke einer Erklärung heranzieht.
Theorie einem vorgegebenen Zweck dienstbar zu machen, ist genau
das, was die Marxsche Wertformanalyse am wenigsten intendiert.
Oder anders: diese, vom Subjekt gesetzte Instrumentalisierung
des Denkens für seine Zwecke ist nicht abzulösender Bestandteil
der Maxschen Kritik der politischen Ökonomie.

Das Problem liegt im Begriff der Erklärung: dies ist ein
subjektiver Begriff, der sich seinen Objektivitätsanspruch
(unter Rückgriff auf die formale Logik etwa) nur anmaßt.
Postone muß, da er über den Kern diesen subjektivistischen
Erklärungrsbegriffes nicht hinausgehen kann, deshalb zugeben,
daß der Antisemitismus der Nazis dem Bürger bestimmte
Erscheinungen der kapitalistischen Welt hinreichend erklärt.
Postone ist es, der sagt, daß diese Erklärung ihm nicht
ausreicht. Er klopft deshalb die verschiedenen Erklärungsansätze
daraufhin ab, ob sie das, was er - vom Prinzip her völlig zu
Recht - erklärt haben möchte, wirklich leisten und findet im
Marxschen Fetischbegriff den Schlüssel, der ihn zufriedenstellt.
Dieses vom Subjekt bestimmte Verfahren der Theoriebildung aber
widerspricht dem Anspruch der Marxschen Wertformanalyase. Denn
die Kategorien der Wertformanalyse sollen es ermöglichen, aus
ihnen all die anderen Bestimmungen zu entfalten, die die
Reproduktionsweise der kapitaIistischen Welt bestimmen -
einschließlich der Kategorien, in denen das bürgerliche Subjekt
sich seine Welt erkärt. Die Wertformanalyse versteht sich somit
nicht als ein Erklärungsansatz unter anderen, sondern als der
Beginn einer Reproduktion der gesamten, kapitalistischen
Wirklichkeit im Wege des Denkens. Deshalb ist sie keine
Weltanschauung, sondern der Versuch einer Reproduktion von
Realität: Gelingt letzteres nicht, dann gibt es wesentliche
Phänomene bürgerlicher Gesellschaften, die außerhalb des
Geltungsbereichs der Wertformanalyse liegen, und es ist mit ihr
insgesamt rein gar nichts anzufangen.

Könnte die Wertformanalyse also die Fragen, die Postone an sie
stellt, nicht einlösen, dann wäre der Marxismus obsolet und
müßte, wie es sich für den Leninismus schon längst gehört hätte,
in den Archiven verschwinden.

Aber, wie Postone zeigt - und Sohn-Rethel tut es in einer ganz
anderen Hinsicht -: die Wertformanalyse versagt selbst vor dem
sich historisch aufdrängenden Problem nicht, den Antisemitismus
als eine logisch notwendige Erscheinungsweise der
kapitalistischen Form gesellschaftlicher Synthesis ausweisen zu
müssen. Das aber heißt, man kann nicht mit einem Theoriebegriff
arbeiten, der noch hinter die Erkenntnisse von Kant zurückfällt.
(Und der in Popper seinen autoritativen Fixpunkt hat.) Man kann
sich nicht im Angebot der verschiedensten Erklärungsansätze wie
in einem Warenhaus bedienen und sich dort die Ansätze
heraussuchen, die einem subjektiv passen - auch wenn getroffene
Auswahl, aus welchen Gründen immer, richtig gewesen sein mag.
Verlangt ist eine materialistische Darstellung der
Reproduktionsweise bürgerlicher Gesellschaften, die deren
charakteristische Erscheinungen als Ausdruck dieser
Reproduktionsweise ausweisen kann. Daß die Wertformanalyse von
Marx sich als diejenige erweist, die die allgemeinsten
Bestimmungen, wie unvollständig auch immer, in sich enthält,
sollte für die Form der eigenen Darstellung Konsequenzen haben -
und eine davon wäre die, nicht, wie Postone, nach "einer
Erklärung in Form einer materialistischen Erkenntnistheorie" zu
suchen, sondern diese Erklärung in eine Kritik der bürgerlichen
Gesellschaft, und das heißt gleichzeitig, in eine Kritik der
Verkürzung der theoretischen Vernunft auf ihre instrumentelle
Funktion aufgehen zu lassen.


1) Das betrifft vor allem die von Postone angesprochene
"Hypostasierung des Konkreten', die man mittlerweile allüberall
festzustellen gezwungen ist. Der Vorwurf der Arroganz etc.,
(nicht in der privaten Auseinandersetzung vorgebracht, sondern
im öffentlichen Streitgespräch) soll zwar eine Person treffen,
mit ihr aber auch deren Standpunkt, und einen so von der
Verpflichtung befreien, auf das Dargestellte näher einzugehen.
Deshalb stellt dies nur die schwächere Variante des
antisemitischen Vorwurf von der 'Bodenlosigkeit des
freischwebenden Intellektuellen' dar.

2) Die Verweise auf Proudhon zeigen, daß Postone dies impliziert.