trend PARTISAN.net
online
archiv

1998

Rubrik
Theorie & Debatte
 

"Der reissende Strom wird gewalttaetig genannt
Aber das Flussbett, das ihn einengt
Nennt keiner gewalttaetig."
(Bertolt Brecht, Ueber die Gewalt)

DIALEKTIK UND DIMENSION DER GEWALT
Ambivalente Ueberlegungen wider das herrschende Unverstaendnis

von Franz Schandl
 

Es mag sein, dass manches, was jetzt folgt, widerspruechlich und
absonderlich erscheint. Das hat zweifelsfrei mit der hier vorgebrachten,
heute ungewoehnlichen Sicht der Problematik zu tun. Wir gehen jedenfalls
davon aus, dass nur eine dialektische Bestimmung der Gewalt uns die
Moeglichkeit gibt, die Frage ohne aufgeregtes Gezeter, ohne affirmatives
Bejahen und Distanzieren zu fuehren. Mit solchen Gepflogenheiten soll
gebrochen werden. Der Beitrag nimmt differenziert, aber dezidiert
Stellung.

Das linke Panikorchester, das da nach den verschiedensten Uebergriffen
immer wieder in Erscheinung tritt, ist Ausdruck mangelnden kritischen
Bewusstseins und grenzenloser Unfaehigkeit zur Reflexion, letztendlich
auch Folge davon, dass den meisten Linken jede theoretische
Begrifflichkeit abhanden gekommen ist, sie ihrerseits nicht viel mehr zu
bieten haben als abschwoerende Formeln oder betretenes Schweigen. Eine
Aufarbeitung der Gewaltverhaeltnisse in der buergerlichen Gesellschaft
ist hingegen nicht einmal in Ansaetzen vorhanden.

1.

Gewalt ist die "Loesung" von Konflikten in ihrer reinsten, in ihrer
ersten und letzten Form: Konfrontation pur. Die ganze menschliche
Geschichte ist phaenomenologisch betrachtet ein Ein- und Aufloesen von
Gewalt. Alle wirklich einschneidenden Ereignisse beherbergen sie als
Treibsatz. Gewalt ist so zwar nicht der Motor der Geschichte, sehr wohl
aber ein hervorstechendes Moment der Verwirklichung sozialer Entwicklung.

"Jeder Staat wird auf Gewalt gegruendet."(Trotzki) Die gegenwaertige
Republik ist z.B. Ausdruck der oesterreichischen Revolution von 1918
sowie des Einmarsches der alliierten Truppen 1945. Beides gewaltige
Geschehnisse. Gewalt also, deren Bekenntnis diesem Staatswesen
vorausgesetzt ist. Progressive Gewalt zweifellos, vergleicht man sie mit
dem, was sie ueberwunden und zerstoert hat, naemlich die reaktionaere
Gewalt des Dritten Reiches oder der Habsburgermonarchie. Wer also zu
diesem Staat steht oder in ihm auch bloss einen historischen Fortschritt
sieht, bejaht unweigerlich auch jene Gewalt, die ihn hervorgebracht hat.
Kurzum: Ein Bekenntnis zu Republik und Demokratie ist ein Bekenntnis zu
bestimmten Akten der Gewalt.

Jede Staatsmacht hat unsanft ihre Vorgaengerin abgeloest. Wie sagte doch
der unverdaechtige Karl Renner: "Der heutige Staat ist eine
Uebergangserscheinung der sozialen Entwicklung." Das gilt
selbstverstaendlich aber auch fuer den jetzigen. Gewalt ist also der
staatlichen Existenz immer vorausgesetzt und eine ihrer Bedingungen. Auch
wenn jene nicht allzu auffaellig und ausfaellig ist, ist sie da. Dass die
Aufloesung des gegenwaertigen Zustandes anders ueber die historische
Buehne gehen soll, ist kaum wahrscheinlich. Solange wir in der
menschlichen Vorgeschichte leben, gilt: "Die Gewalt ist der Geburtshelfer
jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht."(Karl Marx)

Gewalt auszuschliessen, wo sie doch taeglich stattfindet, ist toericht.
Auf Gewalt zu verzichten, heisst heute nicht, dass auf Gewalt verzichtet
wird. Im Gegenteil, sie belaesst, ja begruesst die Gewalt, wo sie ist.
Wie will man sich ernsthaft von gesellschaftlicher Gewalt distanzieren,
wo sie einem doch regelmaessig entgegentritt, ja entgegentreten muss?
Gewalt ist da, laeuft man ihr davon, dann nimmt man sie bloss mit. Man
kann sich ihrer nicht entledigen, auch wenn man sich ihrer entschlaegt.
Gewalt kann jedenfalls nicht weggezaubert werden, auch wenn es gerade zur
"guten" demokratischen Weltanschauung gehoert, dies andauernd zu tun.

2.

Ueber das Gewaltmonopol schreibt Max Weber: "Staat ist diejenige
menschliche Gemeinschaft, welche innerhalb eines bestimmten Gebietes -
dies: das "Gebiet", gehoert zum Merkmal - das Monopol legitimer
physischer Gewaltsamkeit fuer sich (mit Erfolg) beansprucht. Denn das der
Gegenwart Spezifische ist, dass man allen anderen Verbaenden oder
Einzelpersonen das Recht zur physischen Gewaltsamkeit nur soweit
zuschreibt, als der Staat sie von ihrer Seite zulaesst: er gilt als
alleinige Quelle des "Rechts" auf Gewaltsamkeit."

In diesem Verstaendnis bedeutet Gewaltmonopol nicht, dass der Staat keine
Gewaltanwendung ausser der eigenen duldet. Es geht vielmehr darum, dass
Gewaltsamkeit nur insofern als legal gilt, als die staatliche Ordnung sie
toleriert, genehmigt oder vorschreibt. Behauptet wird also nicht
schlichtweg ein Gewaltmonopol des Staates - das wuerde auch nicht der
Realitaet entsprechen, geht doch weit mehr Gewalt von der zivilen
Gesellschaft aus als von seinem staatlichen Sektor -, sondern, dass
Gewalt nur dann im Recht ist, wenn sie staatlich getan, gefoerdert oder
erlaubt wird. Der Staat mit seinen Gewaltapparaten hat nicht die Gewalt
monopolisiert, er ist vielmehr dazu da, gesellschaftliche Macht und
Gewalt in letzter Instanz zu garantieren und abzusichern, d.h.
einzugreifen, wenn in der Gesellschaft die Selbstherrschaft aus
verschiedensten Gruenden versagt.

Strenggenommen kann es auch gar kein Gewaltmonopol geben. Waere es
Realzustand, waere es ueberfluessig. Denn waere es, wogegen koennte es
sein? - Eine Gewalt ist keine Gewalt. Das Monopol der Gewalt muss eben
auch deswegen behauptet werden, da es von den Normierungen abweichende
Gewalt und Gewaltbereitschaft in der Gesellschaft gibt und geben muss. Es
foerdert "legale" und richtet sich gegen "illegale" Gewalten in der
Gesellschaft. Wer "Gewaltmonopol" sagt, gibt zu, dass es verschiedene
Gewalten gibt, jenes letztendlich bloss eine notwendige Fiktion ist.

Diese Notwendigkeit des buergerlichen Gewaltmonopols ist die perfekte
Negation der Gewaltlosigkeit, sie verdeutlicht nichts anderes als die
gegenwaertige Unmoeglichkeit der Umsetzung wirklich gewaltfreier
Zustaende. Gewalt bleibt also auch in der buergerlichen Epoche immanenter
Funktionsbestandteil ihrer Realitaet. Darueber sollten gerade ihre
oeffentlichen und privaten Domestizierungen in der Kommunikation nicht
hinwegtaeuschen. Die Zivilisierung hat die Gewalt nur formal beschraenkt
und reguliert, inhaltlich waren die Moeglichkeiten der Gewalt noch nie so
gewaltig wie jetzt.

Das staatliche Gewaltmonopol ist die hoechste Stufe der Anerkennung, dass
Gewalt in der Gesellschaft existiert. Es ist das Regulierungsinstrument
der Gewalten, das bisher fortgeschrittenste und anmassendste zweifellos.
Aber wer sagt, dass die Menschheit auf dieser Stufe stehen bleiben wird,
ja soll? Oder glauben wir gleich Hegels kleinem Nachlaeufer Fukuyama gar
schon an das Ende der Geschichte?

3.

"Die Rechtmaessigkeit dieses Monopols kann natuerlich niemals bewiesen
werden, da jede Macht, die das Monopol der Gewaltausuebung in Anspruch
nimmt und sich auf dieses beruft, ihre Macht ausschliesslich deshalb
"besitzt", weil sie jederzeit in der Lage ist, diesem Monopolanspruch auf
Gewalt mit Hilfe von Gewalt Nachdruck zu verleihen, was sie - hoch der
circulus vitiosus! - als "beweisen" und "legitimieren" ausgibt. Auf
diesen circulus bzw. Schwindel fallen sogar die Schwindelnden selbst
herein, sie glauben - was ihnen natuerlich Selbstvertrauen einfloesst -
ihre eigene Luege. Kurz: Gewalt legitimiert Gewalt. Scheint diese zu
legitimieren. Wer aber, wie unsereins, zu stolz ist, um die Gueltigkeit
dieses circulus vitiosus anzuerkennen, der gilt als "Revolutionaer".-
Schlimmeres soll uns nicht zustossen!", schreibt Guenther Anders.

"Was Horkheimer und Adorno "gesellschaftlichen Verblendungszusammenhang"
nannten, laesst sich nirgends besser studieren als am kollektiven
Bekenntnis zur Gewaltlosigkeit, das in Wahrheit ein Bekenntnis zum
Gewaltmonopol des Staates ist und damit selbstverstaendlich gutheisst,
was es ablehnt: Gewalt." (Tuercke) - Auch rechtsstaatliche Gewalt ist
Gewalt. Das Bekenntnis zum Gewaltmonopol ist unfraglich ein Bekenntnis zu
einer bestimmten Gewalt bzw. Gewaltzulassung, es mit einem Bekenntnis zur
Gewaltlosigkeit gleichzusetzen, ist geistige Barbarei. Nur Dummkoepfe
oder Kretins vermoegen das auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Wenn
Aechtung der Gewalt und Achtung des Gewaltmonopols gemeinsam auftreten,
sollten die Alarmglocken laeuten. Wer das staatliche Gewaltmonopol
bekennt, ist fuer Gewalt. Es kann gar nicht anders sein.

Gewalt ist so nicht ein Gegensatz zum Recht, sondern sie sind sich
gegenseitig Mittel und Zweck. Will das Recht sich durchsetzen, benoetigt
es die Gewalt, will die Gewalt in hochentwickelten Gesellschaften Bestand
haben - und sie muss Bestand haben, sonst haben die Gesellschaften keinen
Bestand -, benoetigt es die zivilisierte Form des Rechts. Gewalt ist die
unabdingbare Voraussetzung des Rechts. Gewalt ist die purste oder
originaerste Form von Recht, Recht ist die hoechste Form der Gewalt.

Der Schluessel zur Ueberwindung des staatlichen Gewaltmonopols liegt aber
nicht in seiner Ruecknahme oder Zerschlagung, sondern in seiner
dialektischen, was meint positivierenden wie negatorischen
Weiterentwicklung. Nicht die Unterwerfung unter die Ausgangsthese ist
angesagt, sondern deren permanente Synthetisierung. Gewalt und Recht
muessen so lange synthetisiert werden, bis von ihnen nichts mehr
uebrigbleibt.

Dieser Prozess laeuft uebrigens mit allen seinen Widerspruechlichkeiten
bereits ab, ist also kein blosses Szenario, sondern Wirklichkeit, nach
der es sich und die es zu richten gilt. Im Prinzip koennen wir heute die
Entwicklung vom staatlichen zum ueberstaatlichen Gewaltmonopol
beobachten. Das sich ankuendigende Ende der nationalen Souveraenitaeten
weist den Weg. Grundsaetzlich ist dies konstruktiv und geht in die
richtige Richtung, wenngleich die aktuellen Ausformungen vom Konflikt am
Golf bis zum Integrationsprozess in Europa als wenig sympathisch
erscheinen.

4.

Gewalt haengt eng mit dem Wertgesetz zusammen. Ist sie gesellschaftlich
verwertbar, kompatibel hinsichtlich von Profiten und
Bruttonationalprodukten, wird sie toleriert, ja gefoerdert, wendet sie
sich dagegen, wird sie verfolgt.

Gewalt ist somit nicht, wenn Menschen ausgegrenzt, einkommens- oder
obdachlos werden, wenn sie verelenden oder gar verhungern; Gewalt
hingegen ist es, Haeuser und Betriebe zu besezten, illegal einzureisen
oder sich Lebensmittel ohne Bezahlung zu verschaffen. Gewalttaetig ist
auch nicht der Individualverkehr, dessen Lenkwaffen PKW und LKW jaehrlich
Tausende Menschen verletzen und toeten, die Umwelt verpesten, Plaetze
verstellen und Laerm erzeugen; eine Strassenblockade zweifellos schon.
Gewaltsam ist nicht die Herstellung oder der Verkauf von Waffen;
gewalttaetig hingegen die Sabotage ihrer Auslieferung. Gewalt ist
keineswegs, wenn tausende Kumpel freigesetzt werden, d.h. arbeitslos oder
gar obdachlos werden, Gewalt hingegen ist, wenn eine Fensterscheibe der
FDP-Zentrale in Bruch geht. Gewalt ist auch nicht, wenn Millionen
Afrikaner an harmlosen Seuchen sterben, weil sie die Impfstoffe nicht
bezahlen koennen. So ist nun mal die buergerliche Freiheit: Wer nicht
kaufen kann, hat kein Recht. Geld naemlich ist "eine vergeistigte Gewalt,
eine geschmeidige, hochentwickelte und schoepferische Spezialform der
Gewalt", sagt Robert Musil. Geld - aber das wuerde das Referat sprengen -
ist heute die gewaltigste Gewalt.

Man koennte die eben angefuehrten Aufzaehlungen ins Unendliche
fortsetzen, um die anmassende Absurditaet des herrschenden Gewaltbegriffs
sinnlich vorzufuehren. Das alles steht selbstverstaendlich mit der
buergerlichen Gesetzlichkeit in vollem Einklang, das ist alles gutes
Recht. Gewalt ist nicht, was der Verwertung von Kapital dient, Gewalt
hingegen ist, was die Verwertung stoert. Auch "die Demokratie kann in
ihrem Kern gar nichts anderes sein als ein Gewaltverhaeltnis zur Garantie
des Werts." (Robert Kurz)

5.

Ganz positivistisch ist Gewalt in der herrschenden Lehre also das, was
das Gesetz fuer Gewalt erklaert, voellig unabhaengig von seinen realen
Auswirkungen. So ist das Sprengen von Strommasten ein schweres
Verbrechen, der staatlich legitmierte Massenmord, der Krieg, hingegen
nationale Pflicht. Freilich wird dadurch auch klar, wie sehr Recht und
Gewalt miteinander verflochten sind, ja in ihrer Substanz das Gleiche
darstellen, naemlich Formprinzipien der Durchsetzung gesellschaftlicher
Gesetzlichkeit.

Halten wir nochmals fest: Gewalt ist immanenter Bestandteil der
Gesellschaft. Laut oeffentlicher Meinung erscheint das jedoch unter einem
anderen Blickwinkel. Ihr ist Gewalt immer bloss Gegengewalt, sie selbst
nimmt sich somit aus. "Gegen Gewalt als solche haben sie gar nichts.
Allein etwas gegen jede Stoerung ihres Gewaltmonopols, gegen jede (gegen
ihre Gewalt eingesetzte) Gegengewalt", schreibt Anders.

Wer definiert also Gewalt? Die Staatsgewalt? Die Mediengewalt? Jeder, wie
er will? - Klar sollte jedenfalls sein, dass die herrschende
Definitionsmacht, die der Opposition ihre Begrifflichkeit samt all ihren
Beschraenkungen aufoktroyiert, gebrochen werden muss. Was ansteht, ist
ein anderer Gewaltbegriff, ein dialektisch-historischer, kein
metaphysisch-mythologischer, der nachplappert, was vorgeschrieben wird.
Gewalt ist also nicht bloss, was in buergerlichen Gesetzbuechern als
solche ausgewiesen wird.

Dort erscheint die herrschende Gewalt als selbstverstaendlich, die ihr
sich widersetzende als verfolgbar. Diesen quasi-totalitaeren Konsens -
nennen wir ihn den abstrakten Staatsfetischismus -, der allem Denken
vorausgesetzt sein soll, was nichts anderes meint, als dass das Denken
ueberhaupt ausgesetzt sein soll, diesen positivistischen Nonsens gilt es
auf allen Ebenen zu ueberwinden, indem man seine Bedingtheit und seine
Bedingungen offenlegt. Der fundamentale Widerspruch in der
Begriffsbildung muss herausgearbeitet und vermittelt werden.

6.

Die Gretchenfrage: "Wie haeltst Du's mit der Gewalt?",wird meist gleich
einem Glaubensbekenntnis beantwortet. Eben das wird auch eingefordert. Im
Prinzip gilt es aber die Fragestellung zu destruieren, ihren Charakter
als Fangfrage zu demaskieren. Fangfrage deshalb, weil sie Gewalt aus
ihren gesellschaftlichen Zusammenhaengen und Absichten reisst, weiters
ein abstraktes Credo einfordert, das nichts anderes sein kann als eine
konkrete Zustimmung zum Bestehenden.

Der Kern des Staatsbekenntnisses kann laut Max Weber jedenfalls in nichts
anderem als im Gehorsam liegen. ""Gehorsam" soll bedeuten: dass das
Handeln des Gehorchenden im wesentlichen so ablaeuft, als ob er den
Inhalt des Befehls um dessen selbst willen zur Maxime seines Verhaltens
gemacht habe, und zwar lediglich um des formalen Gehorsamsverhaeltnisses
halber, ohne Ruecksicht auf die eigene Ansicht ueber den Wert und den
Unwert des Befehls als solchen."  Das gilt es jetzt nicht in
antiautoritaerer Manier zu beklagen, sondern bloss einmal festzuhalten.
Dem Staat vorzuwerfen, dass er den Gehorsam kategorisch einfordert, ist
aber genauso dumm, wie ihn prinzipiell einzuhalten.

Die Alternative zum Gehorsam ist aber nicht der Ungehorsam, auch nicht
der zivile. Ungehorsam ist ueberhaupt eine demuetigende Vokabel - so nach
dem Motto: Lasst uns doch auch ein bisschen ungehoerig sein! Ungehorsam
kommt ueber das prinzipielle Bekenntnis, d.h. eine grundsaetzliche
Akzeptanz vorgefundener gewalttaetiger Verhaeltnisse nicht hinaus. Ich
plaediere jedoch fuer eine ausgesprochen taktisch-pragmatische Aurichtung
emanzipatorischen Handelns. Einwirkungen und Anerkennung staatlicher und
ziviler Gewalt werden ihrem Inhalt nach beurteilt, nicht ihrer Form nach
affirmiert. Das mag nicht immer real auschlaggebend sein, es muss aber
doch als ideelle Richtschnur dienen.

Der ehemalige OeVP-Abgeordnete Felix Ermacora hat es an die Adresse der
Gruenen deutlich ausgesprochen: "Sie muessen einer dialektischen
Widerstandsauffassung abschwoeren, sich tatsaechlich offen zur
Gewaltlosigkeit in der Demokratie bekennen und nicht zugleich sagen, dass
Sie sich dennoch zum Recht auf Widerstand bekennen." Wo er recht hat, hat
er recht. Widerstand ist Gewalt, was sonst, er ist - kommt er zu sich -
stets aktive Resistenz, nicht passive Renitenz.

Genau vor dieser "dialektischen Widerstandsauffassung", die einerseits
das Gewaltmonopol als historischen Fortschritt benennt, andererseits aber
die Notwendigkeit betont, es in Streiks, Demonstrationen, Besetzungen -
im Kern allesamt letztlich Sabotagen oder Manifestationen gegen
Produktion, Zirkulation und auch Privateigentum - immer wieder in Frage
zu stellen, haben die Endzeitphantasten der Demokratie viel Furcht.

Die Fangfrage: "Wie haeltst Du es mit dem Gewaltmonopol des Staates?",
ist nicht eindeutig und endgueltig entscheidbar. Hier sind alle Parolen
wie das demokratische "Hoch das...." oder ein barrikadenverliebtes "Weg
mit...:" unangebracht.

Man muss auch nicht alle Fragen so beantworten, wie sie gestellt worden
sind. Das Gewaltmonopol ist vielmehr historisch einzuordnen, nicht als
Endpunkt der Entwicklung oeffentlicher Kommunikation anzusehen. Es ist
einerseits als ein positiver Schritt zur Ueberwindung vielfaeltigster
Gewaltpole zu begruessen, andererseits aber auch als Hemmschuh
emanzipatorischer Prozesse zu erkennen. Es ist das Korsett des
Rechtsstaates, ohne das er im Guten wie im Schlechten nicht bestehen
kann. Das Gewaltmonopol ist eine progressive wie regressive Groesse,
somit ein relativer Wert.

7.

Die Gewaltfrage konnte bisher nie eine vorrangige sein, sondern stets
eine sekundaere. Die Frage ist also gar nicht die, ob man fuer Gewalt ist
oder nicht, sondern welche man in bestimmten Situationen fuer zulaessig
und sinnvoll, notwendig und unumgaenglich erachtet. Das ist meist keine
Frage des Wollens, sondern eine des Muessens. Und eine, die sich allen
Gesellschaftsmitgliedern stellt.

Gewalt ist jedenfalls nicht bloss eine Frage der Notwehr, sondern
durchaus eine der Strategie. Sie ist eine optionale Groesse. Wer sie
ausklammert, beschneidet sich der Moeglichkeiten, die der Gegenseite zur
Verfuegung stehen. Keine wirklich ernsthafte Diskussion kann sich daran
vorbeischwindeln. Doch nicht debattiert wird heute, sondern das
Abweichende verfolgt. Im Trommelfeuer von Medien und Politik soll es dazu
gebracht werden, sich den Stossgebeten anzuschliessen, sich in
Glaubensbekenntnissen und Fuerbitten zu ergehen, selbst nur noch das
Erlaubte zu erlauben.

Die Nichthoerigen sollen abschwoeren. Gewalt wird sakralisiert. Genau
diese fetischisierte, ja schon religioese Tabuisierung gilt es zu
durchbrechen. Das Konzil der Demokraten verhaelt sich eben  nicht anders
als die Katholische Kirche gegenueber einem Jan Hus oder einem Giordiano
Bruno. Nur das Anzuenden erledigen die rechten Brandstifter, die in
Wahrheit nichts anderes sind als die letzte Zuspitzung der Demokratie
selbst. Sie wollen ausmerzen, was der demokratisch gesunde
Menschenverstand sowieso nicht leiden kann.

Gewarnt werden muss auch vor dem blindwuetigen Distanzierungseifer.
Distanzieren meint die offene Deklaration eines Wegbegebens. Die
Distanzierung gehoert zum Ritual der Herrschaft, sie gleicht dem
Stossgebet einer Abschwoerung. Sie setzt aber doch - und gerade darin
liegt ihre Tuecke -  voraus, dass man in der Naehe einer (inkriminierten)
Handlung und der Handelnden anzusiedeln gewesen war. Sie ist somit ein
Gestaendnis wider Willen, zeugt von schlechtem Gewissen, unterstellt
Verwerflichkeit und Verantwortlichkeit. Der Uebergang von der Beurteilung
zur Verurteilung ist ihr typisches Kennzeichen. Letztendlich meint
Distanzierung auch Selbstverurteilung. So  bleibt am Distanzierer etwas
vom Distanzierten haengen.

Die Konstruktion von Distanzierung und Verurteilung gibt bereits einen
Inhalt vor, sie ist nicht nur Form. Wer sich distanziert, hat schon
verloren. Distanzierung ist eine verraeterische Groesse, sie verraet
andere wie sich selbst. Von der Distanzierung profitieren weder die
Distanzierer noch die Distanzierten, sondern jene, die aus sicherer
Distanz diesem Schauspiel folgen. Der Aufruf, keine eilfertigen
Distanzierungen zu leisten, ist natuerlich ueberhaupt keine Absage an die
Kritik. Im Gegenteil, er ist Voraussetzung, will diese ankommen.

8.

Faktum bleibt, dass alle Bewegungen, wollten sie erfolgreich sein, das
Gewaltmonopol antasten mussten, von der Arbeiterbewegung, als sie das
Streikrecht, das Wahlrecht oder die Koalitionsfreiheit erkaempfte, bis
zur Oekologiebewegung, als es etwa an die Besetzung der Stopfenreuther Auf-
ging. Oder denken wir an Wackersdorf. Niemand wird heute ernsthaft
bezweifeln, dass nicht der militante Widerstand bei der Verhinderung der
Inbetriebnahme der WAA eine herausragende Rolle spielte. Die moegliche
Durchsetzung seitens des Staates und der Betreiber haette zuviel
gekostet, die Gewalt hatte ihren Zweck erreicht.

In bestimmten Kaempfen ist es angebracht, ueber rechtsstaatliche
Schranken hinwegzuschreiten, und das ist auch gaengige Praxis. Ob
Legalitaetsbrueche sinnvoll sind oder nicht, haengt von der jeweiligen
Situation ab. Das schliesst eine Menge von taktischer Ueberlegung mit
ein, wobei verschiedene Kriterien (Wirksamkeit, Mehrheitsfaehigkeit,
Buendnispartner, Gefaehrdungsausschluss, Mobilisierungsgrad,
Vermittlungsmoeglichkeit, Kampagnefaehigkeit etc.) beachtet werden muessen.

Der Zweck heiligt die Mittel, die den Zweck heiligen. Beide bilden eine
Einheit, sind jedoch nicht eins. Auch wenn Momente des Ziels im Weg
vorweggenommen sein muessen - nur so ist das Ziel spuerbar,
perspektivisch greifbar -, ist der Weg nicht das Ziel und das Mittel
nicht der Zweck. Was natuerlich auch heisst, dass dem Ziel wesensfremde
Elemente in den Weg einfliessen koennen, ja muessen.

Es ist so keineswegs auszuschliessen, dass etwa Hausbesetzungen -
zweifellos Akte der Gewalt - zu einem wichtigen Faktor im Wohnungskampf
werden, sie nicht durchaus auch breite Sympathien in der Bevoelkerung
erzielen koennten, wenn es gelingt, die Anliegen richtig zu vermitteln.
Denn was sind Hausbesetzungen objektiv anderes als die praktische
Verdeutlichung, dass Wohnen und Markt immer weniger zueinanderfinden
koennen, dass ein menschliches Grundbeduerfnis nicht mehr befriedigt
werden kann, Ausdruck des Widerspruchs, dass materiell vorhanden, was
monetaer nicht leistbar ist. Dieses Gefuehl ist durchaus merheitsfaehig,
es hat nur noch nicht den Charakter eines wissenden Bewusstseins. Daran
gilt es zu arbeiten. Aehnliches koennte uebrigens der massenhaften
Propagierung eines Mottos des jetzigen Literaturnobelpreistraegers, Dario
Fo, gelten: "Bezahlt wird nicht" heisst eines seiner bekanntesten Stuecke.

Legitimitaet und Legalitaet sind nicht eins. Auch der Rechtsstaat und das
Gewaltmonopol koennen nicht bloss positiviert werden. Es gilt das
Bewusstsein zu wecken bezueglich ihrer historischen Beschraenktheit und
ihrer antiemanzipatorischen Einschraenkungen. Gewaltmonopol und Recht
sind so Quellen wie Grenzen menschlicher Befreiungen.

9.

Jede emanzipatorische Praxis zielt auf die Ueberwindung von Herrschaft.
Gewaltfreiheit weist auf diesen Zweck, verabsolutiert ihn jedoch nicht
als Mittel. Freiheit ist keine Losigkeit, Gewaltfreiheit somit nicht mit
Gewaltlosigkeit zu verwechseln. Das Prinzip der Gewaltfreiheit ist nicht
mit dem Dogma der Gewaltlosigkeit gleichzusetzen.

Gedankenfreiheit und Gedankenlosigkeit sind ja nicht eins, auch wenn sie
oft so erscheinen. Wie Gedankenfreiheit letztendlich nur in der Befreiung
der Gedanken eminent sein kann, so die Gewaltfreiheit nur in der
Befreiung von Gewalt. Gewaltfreiheit, wie wir sie hier vertreten, ist
genau in diesem Sinne zu verstehen.

Gewaltfreiheit ist ein richtiger Inhalt, Gewaltlosigkeit eine unrichtige
Form. Der Schritt vom Prinzip der Gewaltfreiheit zum Dogma der
Gewaltlosigkeit ist daher kein logischer. Er ist die Verwechslung von
Form und Inhalt notwendiger Pazifizierung und konkreter Umsetzung.

Prinzipien sind daher - ungleich falsch verabsolutierten Dogmen - immer
dazu da, verletzt zu werden, um aufrechterhalten werden zu koennen. Jede
Regel kennt ihre Ausnahmen, ja keine Regel kann ohne Ausnahmen bestehen,
keine ist allgemeingueltig. Es fraegt sich also, wo die Bruchstellen
verlaufen bzw. wo diese gezogen werden muessen. Es ist bisher immer ein
Fehler gewesen, anzunehmen, dass das, was man kritisiert, nicht darf.
Diese masochistische Selbstfesselung ist unertraeglich in einer falschen
Gesellschaft, sie verabsolutiert Richtiges in un(auf)richtiger Weise. Was
in der Praxis selbstverstaendlich ist, muss auch in die Theorie
durchschlagen. Die "linke Moral" hat eine doppelte zu sein.

10.

Das Verhaeltnis zur Gewalt kann man sich nicht aussuchen. Da sie einem in
der einen oder anderen Form immer wieder einholt, sollte die Versuchung
irgendeines Bekenntnisses unterlassen werden. Gefordert ist ein
dialektisches Verstaendnis von Gewalt, keine metaphysische Affirmation,
kein demokratiebesoffenes "Nein zu!", aber auch kein autonomiebetroffenes
"Hoch die!".

Wer in solchen Gegensatzpaaren denkt, denkt wenig. Er begreift vor allem
Gewalt nicht als gesellschaftliche Variante, die gesamte menschliche
Vorgeschichte praegend, sondern primaer als individuellen oder
kollektiven Akt der Repression. Er hat keinen kritischen Bezug zur
Gewalt, sondern einen kategorischen, ja ignoranten, da hier Gewalt zu
einem positiven oder negativen Zweck wird, nicht auf ein Mittel
beschraenkt bleibt.

Die Gewaltfrage muss offengehalten werden, weil sie offen ist. Wer sie
zumacht, hat nicht sie zugemacht, sondern sich selbst. Ein absoluter
Gewaltverzicht ist heute nicht moeglich und sollte auch nicht propagiert
werden. Die Befuerworter des Gewaltmonopols haben das verstanden und sich
auf eine bestimmte Gewalt - die des Staates, bzw. jener, die er zulaesst
- verstaendigt, warum aber sollte eine radikale Opposition dasselbe tun?
Zu wessen Nutzen? Doch nicht zum eigenen?

Wer also meint, man koenne seine Stellung zur Gewalt restlos klaeren, hat
von ihr aber auch schon gar nichts verstanden. Abklaerung nuetzt nichts,
Aufklaerung tut not. Wer heute im liturgischen Kanon behauptet, Gewalt
koenne aus der politischen Kommunikation ausgeschlossen werden, irrt. Sie
keimt an allen Ecken und Enden. Und es ist zu befuerchten, dass sie in
Zeiten sozialer Verelendung zunehmen wird.Dass sie weg soll, ist freilich
keine Frage, die Pazifierung der gesellschaftlichen Entwicklung war und
ist eine stete Anforderung emanzipatorischer Praxis. Nur kann
Notwendigkeit oder Moeglichkeit nicht als permanente Aktualitaet
aufgefasst werden.

Mein Standpunkt ist einer, der Gewalt kritisiert, aber nicht
ausschliesst. Er beinhaltet ganz nuechtern folgende Kernsaetze:
Erstens: Gewalt ist Gewalt. Es gilt jene als solche zu bezeichnen, Gewalt
zu erkennen und richtig zu benennen, unabhaengig von ihren Traegern und
Absichten. Hier geht es um ihre Identifizierung.
Zweitens: Gewalt ist nicht Gewalt. Es gilt sich stets zu fragen, was ihr
Zweck ist, ob sie diesen erfuellt, wes gesellschaftlicher Charakter die
Handlung ist. Gewalt ist in ihrer Potenz vielfaeltig. Hier geht es um
ihre Differenzierung und Einordnung.
Drittens: Nichtgewalt ist Gewalt. Normalerweise gilt als Gewalt nur die
sinnlich wahrnehmbare und rechtlich nachweisbare Schaedigung von
Objekten. Man glaubt von Taetern und Opfern sprechen zu koennen. Doch mit
fortschreitender Zivilsation haben sich die Schaeden zusehends
vergesellschaftet, d.h. sie sind viel seltener mittelbar als unmittelbar,
koennen nicht dingfest und personalisiert werden. Auswirkungen und
Einwirkungen fallen nicht unmittelbar zusammen, sie sind zeitlich und
oertlich, kausal und formal voneinander getrennt. Nicht jede Gewalt zeigt
sich, vor allem die oekologische Krise verdeutlicht das. Gewalt ist also
immer weniger indiskret und direkt, sondern diskret und leise, mehr
radioaktiv als aktiv. Mehr als ihre akute Seite muss man heute ihre
chronische Dimension thematisieren. Gewalt ist jedenfalls primaer von der
vermittelten Auswirkung her zu diskutieren, nicht von der unmittelbaren
Einwirkung.

Gewalt als elementare Ereignis der gesamten menschlichen Vorgeschichte,
wird auch weiterhin in progressiven und regressiven Varianten auftreten,
ja diese werden nicht immer eindeutig bestimmten gesellschaftlichen
Traegern zuordbar sein. So kann selbstverstaendlich auch polizeiliche und
militaerische Gewalt zu verschiedensten Anlaessen fortschrittlich sein,
waehrend autonome Gewalt sich kontraproduktiv entlaedt.

Gewalt wird jedenfalls so lange sein, so lange Herrschaft ist. Wer heute
schon ihren Abgesang veranstaltet, verunstaltet die Moeglichkeiten der
Emanzipation, erniedrigt sie, belegt sich mit Denk- und
Handlungsverboten. Die Spirale der Gewalt kann in der buergerlichen
Epoche trotz aller zivilen Befriedungsversuche letztendlich nicht
durchbrochen werden. Nach wie vor gilt daher:

Emancipatio sine potestate non est!