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1998

Rubrik
Theorie & Debatte
Material zur Schulpolitischen Konferenz 98

Mehr Infos bei: http://www.germany.net/teilnehmer/100,23748/sk98.htm

Klaus Rödler
Emanzipative Pädagogik
Auf der Suche nach einem richtigen Umgang
mit der Realität des Lebens im falschen

Emanzipativ nenne ich Bildungsprozesse, welche auf die Stärkung des
Individuums und der Verbesserung seiner Lebenschancen zielen.

Zwei Formulierungen fassen diese Orientierung am Lernenden gut zusammen.
Die Hamburger Reformbewegung stellte ihre schulpädagogische Arbeit unter
das Motto William Lottigs Kräfte lösen, und von Hentig formulierte als
Aufgabe der Schule Die Sachen klären - die Menschen stärken.

Dass jede individuelle Stärkung, jede auf Emanzipation gerichtete Arbeit
ihre Grenzen in den gesellschaftlichen Lebensbedingungen findet, die
sich am unmittelbarsten in den unmittelbar familiären Rahmenbedingungen
niederschlagen, ist selbstverständlich. Die Reflexion der eigenen
Lebensbedingungen ist daher ein wichtiger Teil eines emanzipatorischen
Ansatzes, und es gibt gerade heute - ganz im Unterschied zu Huiskens
Thesen - eine Fülle von Formulierungen aus Rahmenplänen, staatlichen
Kommissionsberichten und ministeriellen Veröffentlichungen, die das
ausdrücklich anmahnen.
Die interessante Frage an dieser Stelle ist eher, warum diese
pädagogischen Räume nicht (oder so wenig) genutzt werden, was dieses
Schulsystem in seiner Realität so strukturkonservativ macht, dass
Modernisierungsimpulse weitgehend daran abperlen.

Meine Arbeitsgruppe wird daher auf drei Ebenen arbeiten:

1. Begriffsklärung: Was ist eine emanzipative Pädagogik? Was kann
Schule für die Emanzipation des Einzelnen leisten?

2. Welche methodischen Ansätze gibt es? (Insbesondere im
Grundschulwesen)

3. Was verhindert, dass bestehende Reformkonzepte zu einer umfassenden
Neuorientierung des staatlichen Bildungssystems führen?

Zu 1. Was ist emanzipative Pädagogik?

Emanzipative Pädagogik verstehe ich als eine, die sich der Stärkung des
Individuums verschrieben hat. Sie hat das Bestreben, den Einzelnen zu
begleiten und produktiv anzuregen. Sie schreibt ihm seine Entwicklung
nicht vor, sondern sieht ihn in einem vielfältigen Aufgabenfeld stehend,
das er zu bewältigen sucht.

Alles Verhalten wird vor diesem Hintergrund als Bewältigungsversuch
interpretiert. Es ist daher immer sinnvoll, wenn auch nicht immer
zweckdienlich. Emanzipative Pädagogik hat daher die Aufgabe, die Motive
zu klären, gebundene Kräfte zu lösen und den individuellen
Entwicklungsbedürfnissen Raum zur Entfaltung zu verschaffen.

"Alle Kräfte des Kindes werden gelöst, gepflegt und entwickelt" stand
als Orientierung über dem Lehrplanentwurf der Hamburger Schulsynode für
das erste Schuljahr. Ich finde das eine sehr schöne
Aufgabenbeschreibung, weil sie erstens von Potentialen ausgeht, das
heißt, die Fähigkeit zur Entwicklung beim Kind sieht und nicht als
heilbringende Botschaft außen festmacht. Zweitens, weil sie zur Kenntnis
nimmt, das Kräfte gebunden sein können, unfrei, behindert. Und dass es
auf dieser ersten Stufe darum geht, vor allem durch Ermutigung und
Selbstbezug diesen eigenen Potentialen auf die Spur zu kommen.

Wenn es darum geht, das Individuum zu stärken, so spielen automatisch
anthropologische Vorstellungen in das pädagogische Konzept hinein. Es
liegt ein bestimmtes Menschenbild zugrunde. Dies würde ich im Kern auf
folgende beiden Säulen stellen:

1. Der Mensch ist zur Freiheit fähig. Was Freiheit für ihn heißt,
muss er jedoch selbst bestimmen. Das hat zur Konsequenz, dass er seine
Freiheit nur auf seinem eigenen Weg finden.

2. Der Mensch ist ein Wesen, das kognitiv, affektiv, emotional,
ästhetisch und sozial in seiner Lebenswelt verwurzelt ist. Nur in der
Verbindung dieser unterschiedlichen Kanäle kann er sich die Welt
erschließen, sie mitformen und dadurch sich verwirklichen.

Konkret auf die Schule bezogen ergeben sich unter anderem folgende
Folgerungen:

- Lernprozesse sind immer selbstgesteuerte Prozesse, und dies sollte
dem Lernenden deutlich gemacht werden. Einerseits, indem man ihm die
Kompetenz belässt, Lerntempo und Lernweg mitzuentscheiden, andererseits
indem man ihn nicht aus der Verantwortung für seinen Lernweg entlässt.

- Lernen darf sich nicht auf Stofflernen reduzieren, sondern muss den
Inhalt als Mittel der Bildung begreifen. Im Stoff liegen keine Fragen.
"Fragen stellt nur der Mensch an ihn, und es wäre Aufgabe der Schule,
ihn daran zu gewöhnen, nur dann und dann aber auch wirklich zu fragen,
wenn ein inneres Bedürfnis dazu in ihm besteht, und ihn negativ und
positiv zu der Verantwortlichkeit des Fragens zu erziehen."(Karsen 1923)

- Dazu ist notwendig, dass Inhalte nicht isoliert, sondern in
Lebensbezügen behandelt werden, oder um eine aktuellere Quelle zu
zitieren und damit gleichzeitig der These eines monolithischen
bildungspolitischen Gegenübers zu widerlegen, hier einige Zeilen aus dem
Bericht der Bildungskommission NRW zu diesem Thema:
"Der traditionelle Lernbegriff ... ist auf Lernergebnisse im Sinne von
Reproduktion überprüfbaren Wissens orientiert und vernachlässigt den
Lernprozess selbst, die Entwicklung von Interessen, den Hinzugewinn von
anwendungsbezogenem Wissen, die Zunahme von Handlungskompetenz und die
Möglichkeit sozialer Erfahrungen.
Das von der Kommission vertretene Verständnis von Lernen und Lernkultur
... zielt darauf, in den Lernzusammenhängen Identitätsfindung und
soziale Erfahrung zu ermöglichen.
"Vor allem Erkenntnisse über die Struktur von Lernprozessen führen zu
der Auffassung, dass menschliche Erkenntnis konstruierend und
handelnd-deutend sowie gekoppelt an Emotionen und Kommunikationsprozesse
erfolgt, nicht durch Übermittlung von systematisierten Inhaltselementen
und Ergebnissen fachwissenschaftlicher Strukturierung." (S.103) "Es ist
notwendig, dass die Fächer ihre spezifische Lernleistung entwickeln und
ihr eigenes Profil weiterentwickeln, sich aber über die fächerbezogenen
Zielsetzungen hinaus auf komplexere Fragestellungen und Zusammenhänge
hin neu verstehen und ausgestalten." (S. 106)

- Petersen nennt vier als die Grundformen der Bildung 'Gespräch,
Spiel, Arbeit Feier' und weist dadurch darauf hin, dass es beim Lernen
nicht nur um Belehrung und das kognitive Wissen gehen darf. Eine
modernere Formulierung spricht vom Lernen mit allen Sinnen, mit Kopf,
Herz und Hand. Die Freie Schule Frankfurt betont die Gleichwertigkeit
der kognitiven, emotionalen und sozialen Lernziele.
Ohne hier diesen einzelnen Ansätzen auf den Grund zu gehen, so wird
gerade in dem Nebeneinander sehr unterschiedlicher pädagogischer
Entwürfe deutlich, dass sie alle die Vielschichtigkeit des Menschen im
Auge haben und Wert schätzen.

- Insbesondere die Fähigkeit zum sensiblen Eindruck und zum
persönlichen Ausdruck scheint für eine stärkende Pädagogik von Bedeutung
zu sein. Die Kunsterziehungsbewegung ging gar so weit, die Möglichkeiten
des Lehrers auf Förderung dieser beiden Bereiche
(Eindrucksfähigkeit/Ausdrucksfähigkeit) zu beschränken. Cogitare, das
heißt, das Denken des Individuums sei dessen innere Leistung und
unbeeinflussbar. Hier geschehe das co-agitare, das Zusammenwirken oder
Verarbeiten, von Eindruck und Ausdruck.
Über die freie Kinderzeichnung und den Freien Aufsatz fanden diese
Forderungen Eingang in die Reformschulen zu Anfang des Jahrhunderts.
Auch die Freinetbewegung sieht den hohen Stellenwert des Freien Ausdruck
im emanzipatorischen Bildungsprozess.

- Zu einer auf Emanzipation zielenden Bildung gehört die Stärkung des
Selbstbewusstseins im Sinne eines klaren Bewusstseins des Selbst. Dies
geschieht durch eigenverantwortliches Lernen und ausdrucksorientiertes
Arbeiten ebenso wie durch das gezielte Bewusstmachen der eigenen Person
und der eigenen Lebensbedingungen. Diese Reflexivität ist vor allem dann
nötig, wenn soziale Krisen oder Lernkrisen die das Selbst kränken.
Für den Bereich der Erwachsenenpädagogik ist Paolo Freires 'Pädagogik
der Unterdrückten' ein Beispiel für einen emanzipativen pädagogischen
Ansatz, der durch Unterstützung hilft, die eigene Begrenztheit des
Lebens zu erkennen, indem er Reflexivität und freien Ausdruck
nondirektiv verbindet. (Vergl. S. 71-105)

- Zu einer emanzipatorischen Arbeit mit Kindern gehört schließlich die
Arbeit mit deren Eltern, da die Kinder aufgrund ihrer materiellen und
vor allem emotionalen Abhängigkeit nur beschränkt über die Grenzen
hinauswachsen können, die ihnen die Lebensform und die Einstellung der
Eltern stecken.

Zu 2. Versuche emanzipatorischer Pädagogik

An Hand der folgenden Stichworte werden wir in der Arbeitsgruppe anhand
von Vortrag, Diskussion, Schülerarbeiten, Videos und eigenen Aktivitäten
versuchen ein Gefühl dafür zu entwickeln, wie emanzipatorische
Bildungsprozesse gestaltet werden können und worin ihre spezifischen
Wirkungen liegen.

Dabei wird der Schriftspracherwerb als wesentlicher Inhalt der
Grundschule einen zentralen Rang einnehmen.

- Schriftspracherwerb durch 'Lesen durch Schreiben' (Freier Ausdruck,
generative Themen, Lernen als Eigenleistung/lehren als Begleitung,
Reflexivität, Werkstattunterricht)

- Kreis und ergebnisoffene Phasen im Klassenleben (Schule als Ort der
Kommunikation, 'Darsteller und Publikum', voneinander lernen,
Klassenrat)

- Themenorientiertes und projektorientiertes Arbeiten (Themenhefte,
Verschränkung von Fächern und Arbeitsformen, sozialkundliche Mathematik,
Spiel als altersgemäße Projektform)

- Rückkopplung und Bewertungen (Heftkommentare, Fehlerkorrektur bei
Texten, Zeugnisbriefe, Ziffern- und Berichtzeugnisse,
Übergangsproblematik)

- Feiern (Geburtstage, Klassenfeiern, Elternfeiern, Schulfeiern)

- Kunst und Musik (Malen, singen, tanzen und Traumreisen als
Selbsterfahrung, als Ausdrucksmittel, als Mittel zur Förderung der
Klassenidentität wie auch der individuellen Entwicklung)

- Integration von Behinderten multikulturelle Klasse (individuelle
Lernwege, lernzieldifferente Arbeit, Selbsterfahrung, soziales Lernen,
Umgang mit Fremdem, altersgemischte Gruppen)


Zu 3. Strukturelle Hindernisse

Auch dazu zunächst nur einige Stichworte. Wir werden diese im Rahmen der
Arbeitsgruppe genauer präzisieren und im Gespräch ergänzen.

- Lehrer sind Beamte, Schulleiter sind Schulleiter auf Lebenszeit.
Beides hat zur Folge, dass Kriterien wie Erfolg oder Misserfolg keine
Konsequenz für die berufliche Karriere haben.

- Die Lehrerausbildung baut auch heute noch inhaltlich auf einem
primär fachwissenschaftlichen Konzept auf, das Kompetenz in der
Vernetzung von Lernkomplexen nicht unterstützt. Sie ist inhaltlich
behavouristisch orientiert, das heißt, Lernen wird vor allem in der
Folge von Konditionierung und positiver, bzw. negativer Verstärkung
begriffen.
Individualpädagogische oder gar gruppenprozessorientierte Konzepte
kommen praktisch nicht vor.

- Diese berufliche Inkompetenz wird gestärkt durch eine Schulstruktur,
die den Lernprozess in Fächer und kurze Zeiteinheiten zergliedert, wobei
der inhaltliche Erfolg durch die Erfüllung klarer Rahmenvorgaben
(Schulbuch, Hausaufgaben, Test, Bewertung) als gegeben gilt.
Jedes Abweichen von dieser üblichen Norm und Einlassen auf offene
Prozesse bedeutet für den Einzelnen, deutlich die Verantwortung zu
übernehmen. Das überfordert offensichtlich viele.

- Es gibt kein verbindliches Fortbildungssystem. Weder schulintern
noch auf ebene des einzelnen Lehrers wird Sorge getragen, dass neue
pädagogische oder methodische Erkenntnisse und Erfahrungen multipliziert
werden. Dadurch gestalten viele Lehrer ihren Unterricht auf immer
eingeschliffeneren Bahnen, was nicht nur die Unterrichtskompetenz
beeinträchtigt, sondern vor allem auch die Ängstlichkeit steigert.

- Schule ist ein selektives System und Schulabschlüsse garantieren zwar
keine Berufsperspektiven, aber sie stehen doch in einem gewissen
Zusammenhang. Damit lastet auch auf den Eltern ein enormer Druck, dass
ihr Kind in der Schule erfolgreich ist, und diesen Druck geben sie an
die Lehrer weiter. Dies gilt um so mehr in dieser Zeit der dauerhaften
Massenarbeitslosigkeit.
Emanzipatorische Ansätze, die vom Tempo des Kindes und seinen
wirklichen Fähigkeiten ausgehen wollen, geraten daher schnell unter
Druck, da bei den Beteiligten die innere Freiheit fehlt, diesen Wegen
auch im Blick auf die zukünftigen Lebensperspektiven zu vertrauen.

- Architektonisch sind die wenigsten Schulen auf differenziertes
selbständiges Arbeiten im größeren Gruppenzusammenhang eingerichtet. Die
Räume lassen kaum mehr zu als ein gleichgerichteten Unterricht.
Oft gibt es weder die individuellen Arbeitsplätze, noch die den
Schülern zugänglichen Werkstätten, themenorientierten Sammlungen und
Büchereien, noch gibt es die Flächen, an denen eine Schülergruppe zum
gemeinsamen Gespräch oder gar zu einer gruppenübergreifenden Feier
zusammenkommen könnte.
Von einer anregungsreichen Gestaltung des Schulgeländes ganz zu
schweigen.

- Schule ist eine Vormittagseinrichtung. Sozialpädagogik ist über Hort
und soziale Dienste von der Institution Schule abgespalten. Dadurch
fehlt der Schule Zeit ebenso wie die materiellen und personellen
Ressourcen, um einen entwicklungsorientierten Ansatz wirklich umsetzen
zu können.


Literatur:


Bildungskommission NRW 'Zukunft der Bildung/Schule der Zukunft', Berlin
1995
Hans Brügelmann 'Kinder auf dem Weg zur Schrift', Faude 1983
Hans Brügelmann (Hrsg.) 'Jahrbuch Grundschule', Seelze 1998
Paolo Freire 'Pädagogik der Unterdrückten', Reinbek 1980
Theodor Gläss 'Pädagogik vom Kinde aus', Weinheim 1961
Darin insbesondere die Aufsätze von William Lottig und Johannes Gläser
Hartmut von Hentig 'Die Schule neu denken', München 1993
Hessischer Kultusminister 'Rahmenplan Grundschule', Wiesbaden 1995
Hartmut Holzapfel 'Schule 2000', Frankfurt 1996
Klaus Rödler 'Vergessene Alternativschulen', Weinheim 1987