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1998

Rubrik
Theorie & Debatte
"Als ich dem arbeitswuetigen G. gegenueber beilaeufig erwaehnte, dass es Arbeit, gemessen am Alter der Menschheit, erst seit einer relativ kurzen Zeit gebe, da schnappte er nach Luft."
(Guenther Anders, Ketzereien)


FEIERABEND DER ARBEIT
Der langwierige Abschied von ora et labora


von Franz Schandl

Eines der gaengigsten Vorurteile ist: Arbeit hat es immer gegeben,
Arbeit wird es immer geben, Arbeit zeichnet den Menschen aus. Diese
Liebe zur Arbeit nannte schon Paul Lafargue eine "seltsame Sucht".
Heute nun gibt es nicht mehr genuegend Drogen, um diese Sucht auch zu
stillen. In Zeiten der Ernuechterung, verhalten sich die Suechtigen
aber wie Abhaengige auf Entzug. Ueberall trachten sie daher, Arbeit
aufzustellen. Schliesslich will man die "Schlacht fuer die Arbeit"
(Lionell Jospin) gewinnen.

Die Slogans weisen alle in die selbe Richtung: "Arbeit durch Umwelt"
(Gruene), "Arbeit durch Wirtschaft" (Wirtschaft) "Arbeit fuer alle"
(eigentlich alle). "Arbeit, Arbeit, Arbeit" plakatierte erst unlaengst
die SPD. Trotz aller politischen Differenzen gab und gibt es einen
starken und breiten Konsens, ein unhinterfragtes Bekenntnis zur
Arbeit. Tritt die CDU fuer ein "Buendnis fuer Arbeit" ein, so die SPD
fuer ein echtes Buendnis fuer Arbeit. Gruene und PDS wiederum werfen
den grossen Schwestern vor, es damit nicht so ernst zu nehmen, wie sie
es taeten, wenn sie koennten, wie sie wollten, wuerde man sie lassen.

Gerburg Treusch-Dieter schreibt, "dass die strukturelle
Arbeitslosigkeit heute irreversibel" ist, - das wuerde ich teilen,
meint aber auch, dass diese Sicht bereits Allgemeinsicht sei - das
wuerde ich gerne teilen, halte es aber fuer falsch. Im Gegenteil,
diese Erkenntnis ist, vor allem wenn man sich die Tagespolitik
anschaut, ueberhaupt nicht praesent. Arbeitsplatzmangel wird dort, und
nicht nur dort, stets auf irgendeine falsche Politik zurueckgefuehrt
oder gar auf boeswilliges neoliberales Agieren: Die Politik koennte es
schon richten, waere sie nur die richtige.

Dass die Arbeit ausgeht, liegt darin, dass sich die organische
Zusammensetzung des Kapitals seit jeher sich zugunsten des konstanten
Kapitals entwickelt. Die lebendige Arbeit, das variable Kapital, nimmt
in jeder einzelnen Ware im Durchschnitt tendenziell ab. Heute kommt
diese Entwicklung durch die mikroelektronische Revolution mit aller
Kenntlichkeit zu sich. Das Neuartige ist, dass die freigesetzten
Arbeiter nicht mehr ausreichend anderweitig kompensiert werden
koennen, wie das in der fordistischen Aera in den zentralen
kapitalistischen Laendern noch funktionierte. Konventionelle Loesungen
dieses Problems sind nicht in Sicht.

Die Minimierung der Arbeit in einem Produkt resp. auch in einer
Dienstleistung ist an sich positiv. Negativ wird sie erst, so schreibt
Marx im ersten Band des "Kapitals" durch ihre typisch kapitalistischen
Folgewirkungen. Es ist demnach so, dass "die Maschinerie an sich
betrachtet die Arbeitszeit verkuerzt, waehrend sie kapitalistisch
angewandt den Arbeitstag verlaengert, an sich die Arbeit erleichtert,
kapitalistisch angewandt ihre Intensitaet steigert, an sich ein Sieg
der Menschen ueber die Naturkraft ist, kapitalistisch angewandt den
Menschen durch die Naturkraft unterjocht, an sich den Reichtum des
Produzenten vermehrt, kapitalistisch angewandt, ihn verpaupert usw."

Arbeit - verstanden als abstraktifizierbare Arbeit, als Lohnarbeit -
ist keine ontologische Groesse, sondern eine historische
Notwendigkeit, begrenzt auf bestimmte Epochen. Wenn hier also von
Arbeit gesprochen wird, dann ist darunter Erwerbsarbeit zu verstehen.
Im Deutschen ist die aeusserst sinnvolle Differenzierung zwischen
Arbeit(en) und Werk(en) im Laufe der letzten Jahrhunderte weitgehend
verloren gegangen. Der Umgang mit der Kategorie "Arbeit" ist daher
nicht unproblematisch, da es anders als z.B. im Englischen keine
Unterscheidung zwischen "work" und "labour" gibt. So reden viele
aneinander vorbei.

Zu tun gibt es wahrlich genug. Was ausgeht, ist die Lohnarbeit. Warum
glauben wir nun akkurat, dass sie uns erhalten bleiben soll? Die
einfache Antwort darauf ist, dass unser Auskommen am Einkommen haengt.
Dass somit Arbeit als existentielle Notwendigkeit auftritt. Wir uns
ein Leben ohne sie gar nicht vorstellen koennen, nein: duerfen. Alles,
was heute ueber die Marktwirtschaft hinausdenkt, wird als
Halluzination diskreditiert, da mag es den buergerlichen Individuen
noch so dreckig gehen. Ein positiv gewendeter Abschied von Arbeit,
Geld und Wert erscheint als ein voellig utopisches Hirngespinst. Doch
in negativer Form veranstaltet er sich mit all seinen zerstoererischen
Auswirkungen gerade eben jetzt an den Betroffenen.

Der Arbeitskritiker Andre Gorz schreibt in seinem allerneuesten Buch:
"Das unbedingte Beduerfnis eines ausreichenden Einkommens dient als
Vehikel, um im Gegenzug das "unbedingte Beduerfnis nach Arbeit"
einzuschmuggeln." Aber auch dieses "unbedingte Beduerfnis nach
Einkommen" ist problematisch, es ist selbst bloss ein durch die
Warengesellschaft bedingtes. Gorz bleibt in seiner Kritik auf halbem
Wege stehen. Auch er versteht Einkommen primaer als monetaere Groesse.
Indes ist gerade dies zu hinterfragen. Nicht Arbeit und Einkommen
waeren zu entkoppeln, sondern das individuelle Auskommen ist vom Zwang
zum individuellen Einkommen - sei es direkt oder indirekt - zu
befreien.

Zu essen ist ein unbedingtes Beduerfnis, Geld zu haben lediglich ein
sozial bestimmtes. Nichtsdestoweniger ist fuer die modernen Subjekte
Arbeit oder Geld das, was fuer den mittelalterlichen Menschen Gott
gewesen ist: der Ueberfetisch. "Geld existiert notwendig" koennte man
gegenwaertig frei nach Spinoza sagen. Doch dieses abendlaendische
Prinzip von ora et labora ist schwer erschuettert, und zwar in all
seinen Varianten, vom Protestantismus bis zum Sozialismus. Bekreuzigen
wir uns nicht, sondern trachten wir vielmehr danach, dass diese Beben
auch zu einer progressiven Chance genutzt werden koennen.

Arbeit ist ein Uebel. Arbeit ist Leid. Arbeit richtet die Menschen
psychisch und physisch zugrunde. Einst unabdingbar fuer das
Fortkommen, wird sie heute immer unnotwendiger und unmoeglicher.
Arbeit meint Selbstentwirklichung. Sie ist einem fremd, wird getan,
weil sie Lohn bringt. Nach dem Sinn der Beschaeftigung soll erst gar
nicht mehr gefragt werden. Wichtig ist, ob sie sich rentiert, ob
Profite, Loehne, Arbeitsplaetze realisiert werden koennen. Die Leute
haben gefaelligst zu arbeiten. Nichts anderes sollen sie auch wollen.
Bis zum letzten Schweisstropfen gilt es daran festzuhalten. Arbeit
macht nicht frei, sie ist die Unfreiheit par excellence, der
aufgeherrschte Zwang zur Entmenschlichung, was heisst sich zu
verdingen, zu verkaufen, zu verwerten.

Auch die verbloedende Massenkulturindustrie hat ihre Bedingung nicht
in ihr selbst, sondern in den demotivierenden Alltagsprozessen der
Menschen, vor allem in der Lohnarbeit. In deren Wesen haben geistige
Beschraenktheit und praktische Angepasstheit ihre Wurzeln. Sie ist der
Grund von Abgestumpftheit und Abgeklaertheit der buergerlichen
Individuen. "Der Betrieb ist der Ort, an dem der Typ des medial
gewissenlosen Menschen hergestellt wird, der Geburtsort des
Konformisten", sagt Guenther Anders. Arbeit macht dumm.

Der Philosoph Anders betrachtet Arbeit als Zeitverlust. Das ist sie
auch. Sie meint nicht Erfuellung des Lebens, sondern Muehsal der
Existenz. Arbeitszeit ist gestohlene Lebenszeit. Dass Arbeitsplaetze
in einer Situation, wo sie sich als ueberfluessig erweisen, geradezu
angebetet und erfleht werden, dass man sich nicht freuen kann, wo
Freude angesagt waere, ist eine perverse Groteske sondergleichen. Eine
marktwirtschaftliche, wohlgemerkt.

Das Heldenlied der Arbeit steht vor seinem Abgesang. Ungeachtet dessen
intoniert sich jenes noch einmal als politischer Leitkanon aller
Glaeubigen. Die rituellen Sprechchoere, die da nach Arbeit schreien,
sind ja nicht zu ueberhoeren. Auch wenn ihnen zusehends etwas
Gespenstisches anhaftet. Damit sollen nicht die aktuellen Bewegungen
diskreditiert werden, Kritik allerdings ist unverzichtbar: Der Protest
ist berechtigt, sein Ziel hingegen antiquiert.

Was ansteht, ist das Gegenteil des Aufgefuehrten: Nicht eine Kampagne
fuer die Arbeit, sondern eine Kampagne gegen die Arbeit. Eine, die die
geistigen Beschraenkungen der alten Arbeiterbewegung, aber auch der
neuen Arbeitsloseninitiativen zu ueberwinden versteht. Soziale
Perspektive und sozialer Kampf sind nicht mehr prinzipiell an einer
affirmativen Bezugnahme auf Arbeit und Geld auszurichten. Auch wenn es
das unmittelbar nicht spielen sollte, muss dieser Tabubruch passieren,
um den Paradigmenwechsel zu ermoeglichen. Was jetzt noch unmoeglich
erscheint, kann aber morgen schon selbstverstaendlich sein.

Der Feierabend der Arbeit ist potentiell vielversprechend, in seinen
konkreten Verwirklichungen aber barbarischer Natur, weil die
Fortschritte als Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit oder
Perspektivlosigkeit ueber die Leute hereinbrechen. Neue Formen der
Solidaritaet, und zwar abseits der obligaten Forderungen nach (mehr)
Arbeit und Geld, sind deswegen hier vonnoeten. Nicht das einmal
Erreichte ist zu sichern oder gar zurueckzuholen, sondern es geht
darum, Zukunft zu entwerfen. Die Arbeitslosenproteste, wenngleich noch
befangen in den alten Mythen bewegen, koennten auch zu einem Treibsatz
neuer sozialer Bewegungen werden.

Notwendig ist die direkte Anerkennung des Gegenueber in der
Kommunikation. Das Wer bist du? hat ueber die Frage des Was bist du?
zu obsiegen, sodass die Menschen sich als sie selbst, nicht als und
ueber ihre buergerliche Rolle definieren muessen. Somit sich der
Charaktermaske entledigen. Arbeit ist bloss Anerkennung der Menschen
auf einem Umweg gewesen.

Der rechts-linke Konsens von "Arbeit schaffen" muss negiert werden.
Ganz basphemisch ist zu fragen: Wer soll eigentlich wozu
vollbeschaeftigt werden? - Nicht um das "Recht auf Arbeit" ist zu
kaempfen, sondern um einen selbstverstaendlichen "Anspruch auf Leben".
Und das meint nicht die blosse Existenz, sondern ganz profan die
Teilhabe an der erzeugten Gueter- und Leistungsfuelle, die heute
global hervorgebracht werden kann. Der Vorsatz "Wir wollen fleissig
arbeiten" ist durch den Ansatz "Wir wollen gut leben" zu ersetzen.
Selbstbewusstsein ist angesagt, nicht Bittstellerei. Mut statt Demut.

Dem Recht auf Arbeit ist aber kein Recht auf Faulheit
entgegenzusetzen. Es gilt vielmehr, einen kreativen Muessiggang ins
Auge zu fassen, ein produktives Taetigsein, das frei ist vom Zwang zur
Verwertung. Langsamigkeit und Effektivitaet schliessen sich da nicht
aus. Musse ist anstatt von Muessen zu etablieren. Das Bewusste hat das
Bewusstslose abzuloesen. Kreativitaet und Produktivitaet, Aktivitaet
und Solidaritaet stehen im Mittelpunkt zukuenftiger Praxis, ja selbst
das scheinbar abgeschmackte Wort der Werktaetigkeit koennte
unversehens wieder zu Ehren kommen. Zweifellos: Getan werden wird.
Gearbeitet werden muss deswegen noch lange nicht.

Ziel ist die Abnahme der gesellschaftlich gebundenen Zeit.
Emanzipation heisst Kampf gegen den existentiellen Kampf und
schliesslich dessen Ueberwindung, zumindest was die materielle Seite
anbetrifft. Es geht um den Schritt vom Ueberleben zum Leben. Um nichts
weniger als um den Austritt aus der menschlichen Vorgeschichte: "Das
Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das
durch Not und aeussere Zweckmaessigkeit bestimmt ist, aufhoert; es
liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphaere der
eigentlichen materiellen Produktion."(Marx) Auf der Tagesordnung steht
eine emanzipatorische Aneignung der Zeit. Damit die Zeitgenossen auch
Zeitgeniesser werden. Weil koennen.

(1998, CL/GRUPPEN/KRISIS)