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1998

Rubrik
Theorie & Debatte

aus: CL/GRUPPEN/KRISIS

Robert Kurz

DIE MASCHINE DER SELBSTVERANTWORTUNG
Zur Geschichte der liberalen Ideologie


Schon in seinem Namen nimmt der Liberalismus den Begriff der
"Freiheit" fuer sich in Anspruch. Das liberale Pathos beschwoert die
Eigeninitiative und die Selbstverantwortung des Individuums. Im ersten
Moment klingt das immer gut. Wer wollte diesen schoenen Begriffen
widersprechen? Aber natuerlich wissen wir als aufgeklaerte Geschoepfe
der Moderne, dass man den Worten nicht trauen darf. Als George Orwell
seine Negativ-Utopie "1984" schrieb, machte er keineswegs zufaellig
eine oeffentliche Sprache zum Thema, deren Begriffe grundsaetzlich das
Gegenteil von dem sagen, was sie offiziell bedeuten. Soweit es sich
dabei um eine rhetorische Form der Beschoenigung handelt, ist diese
Ausdrucksweise schon aus der Antike bekannt und wird "Euphemismus"
genannt. Die alten Griechen bezeichneten ihre daemonischen Goettinnen
der Rache, deren Haare zuengelnde Schlangen waren, aus purer Angst als
"die Wohlgesinnten". Vielleicht ist der Begriff des Liberalismus in
einem aehnlichen Zusammenhang entstanden.

Um die Wahrheit ueber eine Erscheinung des gesellschaftlichen
Lebens
herauszufinden, empfiehlt es sich immer, bis zu ihren Urspruengen
zurueckzugehen. Der Liberalismus entstand als Opposition gegen die
fruehmodernen Militaerstaaten der absolutistischen Monarchien und
Fuerstentuemer im 17. und 18. Jahrhundert. Aber in derselben Zeit gab
es auch noch eine andere, viel groessere Opposition der Volksmassen,
die mit dem Liberalismus gar nichts zu tun hatte. Und es ist sehr
aufschlussreich, diese beiden Formen der Opposition zu vergleichen.

Der Absolutismus hatte damals die erste Stufe der modernen
kapitalistischen Produktionsweise herausgebildet, indem er fuer die
Beduerfnisse seiner riesigen Militaerapparate und Buerokratien die
moderne Markt- und Geldwirtschaft entfesselte. Von der grossen
Mehrheit der Menschen wurde diese Entwicklung als ungeheuerliche und
obszoene Repression empfunden. Denn der alte "einfache" Feudalismus
hatte die baeuerlichen und handwerklichen Produzenten der agrarischen
Naturalwirtschaft nur aeusserlich angezapft: Sie mussten den
Feudalherren einen kleinen Teil ihrer Produkte abgeben oder bestimmte
Arbeiten fuer sie verrichten. Ansonsten aber wurden sie vom
Feudalismus weitgehend in Ruhe gelassen. Auf ihren Feldern und in
ihren Werkstaetten konnten sie sich nach eigenem Gutduenken
betaetigen, und sie hatten ihre eigenen Institutionen der lokalen
Selbstverwaltung.

Der Absolutismus aber zerstoerte diese begrenzte Autonomie und
wollte
die Menschen seiner zentralistischen Buerokratie unterwerfen, um sie
bis aufs Blut auszusaugen und sie zum "Menschenmaterial" einer total
fremdbestimmten abstrakten "Arbeit" unter dem Gesetz des Geldes zu
machen. Gegen diese Zumutung setzten sich die europaeischen Bauern und
Handwerker mehr als dreihundert Jahre lang bis zur Mitte des 19.
Jahrhunderts erbittert zur Wehr; und wenn sie in ihren zahllosen
Revolten der Fahne der "Freiheit" folgten, dann meinten sie damit
immer ihre soziale Autonomie sowohl gegen die Uebergriffe der
absolutistischen Buerokratie als auch gegen die Zwaenge der neuen
anonymen Maerkte. Sie wollten nicht bis auf die Haut von einem fremden
Prinzip bedraengt werden, sondern die Kontrolle ueber ihre
unmittelbaren Lebensbedingungen behalten.

Der Liberalismus dagegen war die Ideologie der oekonomischen
"Macher"
auf dem Boden der vom Absolutismus entfesselten anonymen Markt- und
Geldwirtschaft selbst. Es waren die neuen, unter dem Absolutismus
aufbluehenden Finanzkapitalisten, die grossen Uebersee-Haendler und
Kolonial-Spekulanten, die vom Staat beauftragten Betreiber der
Arbeits-Zuchthaeuser und Gefaengnis-Manufakturen sowie die Besitzer
oder Verwalter der Latifundien fuer den entstehenden agrarischen
Weltmarkt, die sich den ersten liberalen Ideen zuwandten. Mit dem
sozialen Freiheitsbegriff der revoltierenden Bauern und Handwerker
hatten sie keinerlei Beruehrung. Im Gegenteil stimmten sie mit dem
Absolutismus vollstaendig ueberein in dem Interesse, die Masse der
Produzenten zum "Menschenmaterial" der Weltmaerkte zu machen, sie von
der Kontrolle ueber die Produktionsmittel zu enteignen und zu blossen
"Arbeitnehmern" unter dem Diktat des Investitionskapitals zu
degradieren.

Deswegen waeren die fruehen Liberalen nicht einmal im Traum auf
die
Idee gekommen, dass das "Menschenmaterial" der Marktwirtschaft
irgendein eigenes Recht auf "Freiheit" haben koennte. Unter ihnen gab
es sogar Sklavenhalter und Grossgrundbesitzer, die gewaltsam Bauern
von ihrem Land verjagten, um es in Viehweide zu verwandeln. Wenn sie
von "Freiheit" sprachen, dann meinten sie damit immer nur ihre eigene
oekonomische Bewegungsfreiheit als Investoren und "Unternehmer", die
sie durch die staatsbuerokratische Bevormundung der absolutistischen
Apparate eingeengt fuehlten. Ihre Opposition gegen den Absolutismus
hatte also einen ganz anderen Charakter als der soziale Widerstand der
Produzenten. Deshalb machten sie auch immer gemeinsame Sache mit dem
Absolutismus gegen die sozialen Revolten "von unten". Der Konflikt der
urspruenglichen liberalen Ideologie und ihrer Klientel mit dem
"Gottesgnadentum" des absolutistischen fruehmodernen Staates war immer
nur ein relativer, innerkapitalistischer Familienstreit um die weitere
Entwicklung der gemeinsamen Geschaeftsgrundlagen.

Schon in dieser fruehen Kritik der auf ihre buergerliche
"Freiheit"
bedachten kapitalistischen Herren-Individuen an der gesellschaftlichen
Kontrolle durch den autoritaeren Herren-Staat ist allerdings eine
eigenartige logische Verkehrung der Standpunkte festzustellen, die auf
den irrationalen Charakter beider Seiten verweist. Nicht nur der
fruehmoderne und monarchische, sondern jeder Staatsabsolutismus (auch
der spaetere sozialistische und faschistische) will zwar einerseits
die oekonomische Betaetigung der Individuen einer umfassenden
staatlichen Kontrolle unterwerfen; andererseits erhebt er damit aber
auch den Anspruch, dass die menschliche Subjektivitaet, der
menschliche Wille (in Gestalt des Monarchen, der Regierung, des
"Fuehrers" oder des Zentralkomitees) gewissermassen "souveraen"
gegenueber dem System von Markt und Geld sein soll. Umgekehrt vertritt
der Liberalismus zwar einerseits die oekonomische "Eigeninitiative"
des kapitalistischen Individuums gegenueber dem Staat; gerade dadurch
aber wird andererseits der Anspruch einer Souveraenitaet des
menschlichen Willens gegenueber dem System von Markt und Geld restlos
aufgegeben. Dieses System verselbstaendigt sich also, es wird zum
blinden Gesetz des Handelns und der Mensch zum Spielball
"oekonomischer Strukturen" und ihrer ziellosen Dynamik.

Schon Adam Smith, der Begruender der modernen oekonomischen
Theorie
auf liberaler Grundlage, verherrlichte das System der totalen
Marktwirtschaft als eine Art "goettliche Maschine", gesteuert durch
den blinden "selbstregulativen" Mechanismus der Preise. Analog zum
mechanistischen physikalischen Weltbild von Isaac Newton, der die
Natur als eine einzige grosse Weltmaschine betrachtet hatte, verstand
Smith die Oekonomie als automatische Weltmaschine der Gesellschaft,
deren Raederwerk sich die Menschen unterwerfen muessten. In der Physik
ist das mechanistische Weltbild inzwischen schon lange ueberwunden, in
der Oekonomie aber steht die Menschheit immer noch (und heute mehr
denn je) auf dem mechanistischen Standpunkt des 18. Jahrhunderts, der
sich in den Formen der gesellschaftlichen Reproduktion "objektiviert"
hat. Der Liberalismus ist auf diese Weise durch einen ungeheuren
Widerspruch gekennzeichnet: Die gesellschaftliche "Freiheit" des
Individuums ist immer identisch mit der bedingungslosen gemeinsamen
Kapitulation aller Individuen vor einer blinden, nicht verhandelbaren
Gesellschafts-Maschine, dem saekularisierten Baal des Kapitals.

Man kann es auch so sagen: Durch seine masslosen Ansprueche an die

Gesellschaft hat der Absolutismus das subjektlose Monstrum eines
verselbstaendigten oekonomischen Automatismus hervorgebracht, das er
selbst nicht mehr beherrschen konnte und das sich schon bald seiner
"Souveraenitaet" entzog. Der Liberalismus, der vordergruendig die
"Freiheit" des Individuums einklagte, hat in Wirklichkeit nur die
Verselbstaendigung dieser "Maschine" exekutiert. Die Liberalen sind
nichts anderes als die Priester eines automatischen Goetzen, der dem
"Stoffwechselprozess des Menschen mit der Natur" (Marx) einen
irrationalen Ablauf nach mechanischen "Gesetzmaessigkeiten" diktiert.

Der Gegensatz von Liberalismus und Staatsabsolutismus ist auf
keiner
Seite emanzipatorisch besetzbar; er reflektiert immer nur die
gesellschaftlichen Paradoxien des modernen warenproduzierenden
Systems: Entweder muss sich die menschliche "Souveraenitaet"
gegenueber der Marktmaschine als autoritaere Kontrolle des Staates
ueber die Individuen maskieren, oder die "Freiheit" der Individuen
muss sich als totale Selbstauslieferung des menschlichen Willens an
den blinden Lauf der Marktmaschine maskieren. Fuer die Mehrheit der
Menschen ist der Gegensatz von Absolutismus und Liberalismus
irrelevant: Es laeuft fuer sie auf dasselbe hinaus, ob sie von einer
Staatsbuerokratie oder von den subjektlosen Mechanismen des Marktes
drangsaliert und gedemuetigt werden. Diese Erfahrung haben in den
letzten Jahren die Menschen in Osteuropa gemacht, die vom Regen der
staatssozialistischen Diktatur in die Traufe der sozialen Degradation
durch den "freien" Markt kamen.

Im 18. und fruehen 19. Jahrhundert hatte der Liberalismus das
Problem, dass er nicht nur den staatsbuerokratischen Anspruch des
Absolutismus beseitigen musste, sondern auch die Ansprueche der
Volksmassen auf soziale Autonomie. Es wurde bald klar, dass es
unmoeglich war, die Menschen allein durch Repression, Polizei,
Militaer, Galgen und Gefaengnisse zu zwingen, sich selber zum Material
der "Arbeitsmaerkte" zu machen und die eigene abstrakte Arbeitskraft
den Gesetzen von Angebot und Nachfrage zu unterwerfen. Deshalb begann
der Liberalismus, die Repression mit Volks- und Industrie-"Paedagogik"
zu verbinden. Hatten die ersten Liberalen den Begriff der
"Selbstverantwortung" nur auf sich selbst als "Macher" eines
individuellen Kapitalismus bezogen, so wurde dieser Begriff nun auch
auf das "Menschenmaterial" ausgedehnt. Darin liegt ein ungeheurer
Zynismus: Die von jeder Kontrolle ueber ihre eigenen materiellen und
sozialen Lebensbedingungen restlos enteigneten Menschen sollen
"selbstverantwortlich" gerade darin sein, dass sie sich freiwillig zum
"Arbeitsvieh" der Maerkte machen und wuerdelos nach "Arbeitsplaetzen"
gieren, selbst unter den miserabelsten Bedingungen.

Einer der grossen Ideengeber fuer diese liberale "Volkspaedagogik"

wurde Jeremy Bentham (1748-1832), der Begruender einer "Philosophie
der Nuetzlichkeit". Das "Streben der Menschen nach Glueck" sollte
uebersetzt werden in den Impuls, alle Aeusserungen des Lebens in den
Zweck der Kapitalverwertung zu integrieren. Um die Menschen dahin zu
bringen, ihr eigenes "Glueck" ausgerechnet darin zu sehen, sich in der
kapitalistischen Tretmuehle "nuetzlich" machen zu koennen, erfand
Bentham eine besondere Zuchtanstalt, das sogenannte Panoptikon.

Was ist das Panoptikon? Bentham sagt selber, dass es sich um ein
Prinzip handelt, das geeignet sei fuer Gefaengnisse ebenso wie fuer
Fabriken, Bueros, Krankenhaeuser, Schulen, Kasernen, Erziehungsheime
usw. Architektonisch besteht das Panoptikon aus einem kreisrunden
Gebaeudekomplex, in dessen Zentrum sich die (mit Vorhaengen versehene)
Loge des "Inspektors" und an dessen Peripherie sich die voneinander
abgetrennten Zellen der Gefangenen oder Zoeglinge befinden. Viele
Gefaengnisse und "Arbeitshaeuser" des 19. Jahrhunderts wurden nach
diesem Muster gebaut. Der raffinierte Zweck der Anordnung ist es, dass
die Gefangenen sich permanent beobachtet und kontrolliert fuehlen,
ohne zu wissen, ob die Loge des "Inspektors" wirklich besetzt ist. Die
Insassen sollen sich allmaehlich "von sich aus" und automatisch so
verhalten, als ob sie beobachtet wuerden, selbst wenn das gar nicht
der Fall ist.

Das Panoptikon, fuer Bentham ein Modell der "idealen"
marktwirtschaftlichen Gesellschaft, war nichts anderes als eine
liberale "Selbstverantwortungs-Maschine", um die Individuen fuer
marktkonformes Verhalten zu konditionieren. Die Mechanismen der
Unterwerfung und Selbstverleugnung sollten zur "inneren
Verhaltensspur" des Menschen werden. Diese liberale Erziehungsdiktatur
objektivierte sich in architektonischen und organisatorischen
Strukturen, in Zeichen und psychischen Mechanismen. Die
kapitalistischen Imperative, so schrieb der Philosoph Michel Foucault
in seinem Buch "ueberwachen und Strafen" (1976) ueber das Panopticon,
erscheinen "in einer konzertierten Anordnung von Koerpern,
Oberflaechen, Lichtern und Blicken,...in einer Apparatur, deren innere
Mechanismen das Verhaeltnis herstellen, in welchem die Individuen
gefangen sind". Bentham feilte ununterbrochen an der Vervollkommnung
seines sozialen Apparats der Dressur von Menschen. Er ist der Erfinder
der Isolationshaft, der Identitaetskarten, der Namensschilder und des
Grossraumbueros. 1804 schlug er vor, alle Englaender mit einer Nummer
zu taetowieren.

Gleichzeitig war Bentham gluehender Demokrat. Vom Dienstboten bis
zum
Minister sollten alle gleichermassen mitwirken an der "oeffentlichen
Selbstkontrolle", das heisst sich selbst und andere beobachten, um
gemeinsam tagtaeglich die Uhr der Selbstunterdrueckung aufzuziehen.
Kant, der groesste Philosoph der Aufklaerung, hatte gefordert, der
Mensch solle "herausgehen aus der selbstverschuldeten Unmuendigkeit
und sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen bedienen". In
der Konsequenz von Bentham wird der geheime Sinn dieses liberalen
Imperativs deutlich: jeder sein eigener Polizist, Erzieher,
Gefaengniswaerter und Antreiber! Die selbstregulative Weltmaschine des
Marktes braucht selbstregulative, "automatisch" sich anpassende
Individuen.

Bentham hat Orwells Alptraum von "1984" um fast 200 Jahre
vorweggenommen, aber als reales Projekt. Ironischerweise versteht die
liberal-demokratische Welt heute "1984" als Warnung vor dem
(staatlichen) Totalitarismus, ohne zu erkennen, dass sie selber
laengst das Produkt einer totalitaeren liberalen Gehirnwaesche ist.
Heute verhalten wir uns alle "selbstregulativ" als Roboter der
marktwirtschaftlichen Selbstverantwortung. Jener aeltere Begriff von
"Freiheit" dagegen, der auf soziale Autonomie zielte, gilt als
vorindustriell und primitiv. Natuerlich koennen und wollen wir nicht
zurueck zu einer beschraenkten agrarischen Lebensweise von Bauern und
Handwerkern. Aber musste der Preis des Fortschritts die soziale
Entwuerdigung des Menschen zu einem "Pawlowschen Hund" der
Marktmaschine sein? Ist die Menschheit wirklich unfaehig, die modernen
Produktivkraefte durch soziale Selbstbestimmung und bewusste
Verstaendigung zu regulieren, statt sich einem blinden oekonomischen
Automaten auszuliefern? Der Absolutismus des Marktes ist keine
Alternative zum Absolutismus des Staates. Wir haben die Aufgabe, fuer
das 21. Jahrhundert den alten Begriff der "sozialen Freiheit" gegen
die "Orwellsche Freiheit" des Liberalismus neu zu erfinden.