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1998

Rubrik
Theorie & Debatte

Aus CL/GRUPPEN/KRISIS

Claus Peter Ortlieb

Die nichtempirische Basis der modernen Naturwissenschaft

Vorstudie zu einer Geld und Geist - Arbeitsgruppe

Als Galilei seine Kugeln die schiefe Fläche mit einer von ihm selbst gewählten Schwere herabrollen, oder Torricelli die Luft ein Gewicht, was er sich zum voraus dem einer ihm bekannten Wassersäule gleich gedacht hatte, tragen ließ, oder in noch späterer Zeit Stahl Metallein Kalk und diesen wiederum in Metall verwandelte, indem er ihnen etwas entzog und wiedergab; so ging allen Naturforschern ein Licht auf. Sie begriffen, daß die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt, daß sie mit Prinzipien ihrer Urteile nach beständigen Gesetzen vorangehen und die Natur nötigen müsse auf ihre Fragen zu antworten, nicht aber sich von ihr allein gleichsam am Leitbande gängeln lassen müsse; denn sonst hängen zufällige, nach keinem vorher entworfenen Plane gemachte Beobachtungen gar nicht in einem notwendigen Gesetze zusammen, welches doch die Vernunft sucht und bedarf. Die Vernunft muß mit ihren Prinzipien, nach denen allein übereinkommende Erscheinungen für Gesetze gelten können, in einer Hand, und mit dem Experiment, das sie nach jenen ausdachte, in der anderen, an die Natur gehen, zwar um von ihr belehrt zu werden, aber nicht in der Qualität eines Schülers, der sich alles vorsagen läßt, was der Lehrer will, sondern eines bestallten Richters, der die Zeugen nötigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt. Und so hat sogar Physik die so vorteilhafte Revolution ihrer Denkart lediglich dem Einfalle zu verdanken, demjenigen, was die Vernunft selbst in die Natur hineinlegt, gemäß, dasjenige in ihr zu suchen (nicht ihr anzudichten), was sie von dieser lernen muß, und wovon sie für sich selbst nichts wissen würde. Hierdurch ist die Naturwissenschaft allererst in den sicheren Gang einer Wissenschaft gebracht worden, das sie so viel Jahrhunderte durch nichts weiter als ein bloßes Herumtappen gewesen war. / Kant, Kritik der reinen Vernunft, Vorrede zur 2. Auflage, B XIII, 1787

Der große Philosoph der Aufklärung hat deren Denken bereits kontaminiert, aber nicht desto weniger hält es sich zäh am Leben: Wir sind immer noch geneigt, die Naturwissenschaften als empirische Wissenschaften zu verstehen in dem Sinne, daß ihre Erkenntnisse auf Beobachtungen beruhen, die jeder Mensch machen kann, der nur genau genug hinschaut. Diese Erkenntnisse wurden aber erst in den letzten 500 Jahren gewonnen. Offenbar müssen also die Menschen vorher irgendwie blind oder zumindest verblendet gewesen sein. In der Tat ist das Denken der Aufklärung von dieser Einschätzung anderer Kulturen geprägt, seien es nun die des Mittelalters oder die von kolonialisierten Völkern, während die eigene Kultur zumindest ihrer Form nach als endgültig, die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse als objektiv angesehen werden, als Wahrheiten, die unabhängig von der jeweiligen Gesellschaftsform, ja letztlich von den Menschen überhaupt ihre Gültigkeit besitzen.

In diesem Sinne kann etwa die Auseinandersetzung der Kirche mit Galilei, die ihn zum Widerruf zwang, nur als Reaktion zum Zwecke des Machterhalts verstanden werden, für den sie sogar ganz offensichtlich auf der Hand liegende Tatsachen leugnen mußte.

Wann immer wir von außen einen Blick auf eine fremde ("primitive")oder vergangene ("vormoderne") Kultur werfen, erkennen wir die Verstricktheit menschlichen Denkens in die Form der Gesellschaft, innerhalb derer es abläuft. Warum aber sollte das für das naturwissenschaftliche Denken in der modernen Gesellschaft nicht auch so sein? Für die Annahme, unsere Gesellschaft und unser Denken sei in dieser Hinsicht anders als alle anderen, gibt es keinen Grund. Die einzige Besonderheit besteht darin, daß uns der Blick von außen nicht möglich ist.

Versuchen wir es also mit einem Blick von innen. Der Beginn der Neuzeit, als die moderne Naturwissenschaft entstand, scheint mir für die hier behandelte Frage besonders interessant zu sein. Die ersten Naturwissenschaftler mußten sich gegen die peripatetische (d. i. die auf Aristoteles sich berufende) Wissenschaft durchsetzen. Dadurch waren sie gezwungen, die Gründe für ihr Vorgehen und die Ergebnisse, die es zeitigte, darzulegen und zu rechtfertigen, und zwar in Auseinandersetzung mit einer Kultur, die noch weitgehend von mittelalterlichen Vorstellungen geprägt war. Sie konnten also nicht, wie ihre Nachfolger, rein wissenschaftsimmanent argumentieren. Und deshalb wird aus ihren Texten deutlich, zumindest aus der rückblickenden Betrachtung, daß sie nicht eine allgemein menschliche, also qua Menschsein immer schon vorhandene Fähigkeit aus dem Schlummer erweckten, sondern vielmehr einer Revolution der Denkart (Kant) zum Durchbruch verhalfen.

Es geht mir im folgenden weder darum, das Erkenntnisproblem zu lösen(wie ist objektive Erkenntnis möglich?), mit dessen Behandlung die Philosophen die neuzeitliche Naturwissenschaft von Beginn an begleitet haben (vgl. Cassirer, Erkenntnisproblem), noch darum, es als Scheinproblem zu entlarven (vgl. Rorty, Spiegel der Natur). Mein Interesse gilt den Bedingungen der objektiven Form der Erkenntnis (Greiff, Gesellschaftsform und Erkenntnisform), also der Art der Erkenntnis, die durch die moderne Naturwissenschaft hervorgebracht wird. Dabei wird es sich zunächst einmal um die impliziten, unausgesprochenen (und in der Regel nicht wahrgenommenen) Annahmen handeln, die aller naturwissenschaftlichen Methode und Erkenntnis vorausgehen. Die Existenz solcher weder logisch noch empirisch zwingenden Voraussetzungen allein reicht bereits aus, den Anspruch der Aufklärung hinfällig zu machen, es handele sich bei der den Naturwissenschaften innewohnenden Rationalität um etwas für alle Zeiten und Gesellschaften gleichermaßen Gültiges.

Geozentrisches und heliozentrisches Weltbild

Die Aufstieg der bürgerlichen Epoche beginnt mit einem mathematisches Modell. Nikolaus Kopernikus (1473 - 1543) bricht in dem kurz vor seinem Tode gedruckten Buch De Revolutionibus Orbium Coelestium mit dem das Mittelalter bestimmenden ptolemäischen oder geozentrischen Weltbild: Die Erde bewege sich zusammen mit den anderen Planeten auf Kreisbahnen um die Sonne und drehe sich selber um ihre eigene Achse.

Dieses Weltbild gehört in modifizierter Form inzwischen zum gesicherten Bestand unseres Wissens. Kein aufgeklärter Mensch wird ihm zugunsten des ptolemäischen widersprechen wollen. Und in dieser Sicht war es nur die Autorität der Kirche, die die auf der Hand liegenden Tatsachen und Beobachtungen leugnend die Anerkennung dieser objektiven Wahrheit verzögert, wenn auch nicht verhindert hat.

Wir wissen, daß sich die Erde um die Sonne dreht, und nicht umgekehrt diese um jene, aber wieso eigentlich, mit welchen Gründen? Um unmittelbar empirische handelt es sich dabei nicht, denn jedes Kind kann sehen, daß die Sonne sich um die Erde dreht,auch hinsichtlich der Prognose der zu beobachtenden Planetenbewegungen war das ptolemäische System mit seinen über Jahrhunderte hinweg entwickelten Hilfskonstruktionen dem kopernikanischen, das Kreisbahnen zugrunde legte, zunächst überlegen.

Aus dem Blickwinkel der modernen Physik handelt es sich (solange jedenfalls von Kräften nicht die Rede ist) bei dem Übergang von einem Weltbild zum anderen nur um einen Wechsel des Bezugssystems, sind also beide Systeme hinsichtlich der Beschreibung der zu beobachtenden Bewegungen letztlich gleichwertig.

Was also sprach für das kopernikanische System, was verhalf ihm zum Durchbruch?

Kopernikus selbst gibt in der als Brief an Papst Paul III. abgefaßten Vorrede seines Werkes Argumente für die Erdbewegung, die nicht aufbessere Übereinstimmung mit den Beobachtungen abheben, sondern vielmehr auf die Kategorien Ordnung und Einheitlichkeit. Er konstatiert die methodischen Probleme der Mathematiker, die auf der Basis des ptolemäischen Systems Berechnungen anstellen:

Denn erstens sind sie über die Bewegung der Sonne und des Mondes so im ungewissen, daß sie die ewige Größe des vollen Jahres nicht abzuleiten und zu beobachten vermögen. Zweitens wenden sie bei Feststellung der Bewegungen sowohl jener als auch der übrigen fünf Planeten weder dieselben Grund- und Folgesätze noch dieselben Beweise für die zu beobachtenden Umkreisenden und Bewegungen an. Die einen bedienen sich nämlich nur der konzentrischen, die anderen der exzentrischen und epizyklischen Kreise, durch die sie jedoch das Erstrebte nicht völlig erreichen. Denn diejenigen, die sich zu den konzentrischen Kreisen bekennen, obgleich sie beweisen, daß einige ungleichmäßige Bewegungen aus ihnen zusammengesetzt werden können, haben dennoch daraus nichts Bestimmtes festzustellen vermocht, was unzweifelhaft den Beobachtungen entspräche. Diejenigen aber, welche die exzentrischen Kreise ersannen, haben, obgleich sie durch dieselben die zu beobachtenden Bewegungen zum großen Teil mit zutreffenden Zahlen gelöst zu haben scheinen, dennoch sehr vieles herbeigebracht, was den ersten Grundsätzen über die Gleichförmigkeit der Bewegung zu widersprechen scheint. Auch konnten sie die Hauptsache, nämlich die Gestalt der Welt und die tatsächliche Symmetrie ihrer Teile, weder finden noch aus jenen berechnen, sondern es erging ihnen so, als wenn jemand von verschiedenen Orten her Hände, Füße, Kopf und andere Körperteile, zwar sehr schön, aber nicht in der Proportion eines bestimmten Körpers gezeichnet, nähme und, ohne daß sie sich irgendwie entsprächen, mehr ein Monstrum als einen Menschen daraus zusammensetzte. Daher zeigt es sich, daß sie in der Beweisführung, die man Methode nennt, entweder etwas Notwendiges übergangen oder etwas Fremdartiges und zur Sache nicht Gehörendes hinzugesetzt haben, was ihnen gewiß nicht widerfahren wäre, wenn sie sichere Prinzipien befolgt hätten.

Unter Hinweis auf einige Autoritäten, die bereits vor ihm von der Beweglichkeit der Erde ausgegangen waren, rechtfertigt er dann sein weiteres Vorgehen:

Von hier also den Anlaß nehmend, fing auch ich an, über die Beweglichkeit der Erde nachzudenken. Und obgleich die Ansicht widersinnig schien, so tat ich es doch, weil ich wußte, daß schon anderen vor mir die Freiheit vergönnt gewesen war, beliebige Kreisbewegungen zur Erklärung der Erscheinungen der Gestirne anzunehmen. Ich war der Meinung, daß es auch mir wohl erlaubt wäre zu versuchen, ob unter Voraussetzung irgendeiner Bewegung der Erde zuverlässigere Deutungen für die Kreisbewegung der Weltkörper gefunden werden könnten als bisher.

Und so habe ich denn unter Annahme der Bewegungen, die ich im nachstehenden Werk der Erde zuschreibe, und durch viele und lange fortgesetzte Beobachtungen endlich gefunden, daß, wenn die Bewegungen der übrigen Planeten auf den Kreislauf der Erde bezogen und dieser dem Kreislauf jedes einzelnen Gestirnes zugrunde gelegt wird, nicht nur die Erscheinungen jener daraus folgen, sondern auch die Gesetze und Größen der Gestirne und all ihrer Bahnen und der Himmel selbst so zusammenhängen, daß in keinem seiner Teile ohne Verwirrung der übrigen Teile und des ganzen Universums irgend etwas verändert werden könnte.

Selbstverständlich hat eine Erklärung der Himmelsbewegungen mit den Beobachtungen übereinzustimmen. Aber von zwei verschiedenen solchen Erklärungen ist derjenigen der Vorzug zu geben, die einem sicheren Prinzip folgt und in der Lage ist, Ordnung in die Vielfalt der Erscheinungen zu bringen. Für Kopernikus wie für die peripatetische Wissenschaft gehörte zu dieser Ordnung noch die gleichförmige Kreisbewegung.

Mit Johannes Kepler (1571 - 1630) löst sich die Astronomie von dieser Vorstellung, an die Stelle der Kreisbahnen treten Ellipsen, ein einheitliches Prinzip vermag erstmals, eine Vielfalt astronomischer Beobachtungen zu erklären. Kepler nimmt es mit der Übereinstimmung von Voraussage und Beobachtung genau. So soll ihn einem eigenen Berichte zufolge eine Diskrepanz von gerade mal acht Minuten veranlaßt haben, seine bis dahin aufgestellte Hypothese zu verwerfen und die gesamte Astronomie zu reformieren. Nichtsdestoweniger hebt er die besondere Rolle der selbständigen Tätigkeit des Geistes für den Erkenntnisprozeß hervor, so etwa in Harmonices mundi:

Nicht der Einfluß des Himmels ist es, der jene Erkenntnisse in mir gewirkt hat, sondern sie ruhten gemäß der Platonischen Lehre in der verborgenen Tiefe meiner Seele und wurden nur geweckt durch den Anblick der Wirklichkeit. Das Feuer des eigenen Geistes und Urteils haben die Sterne geschürt und zu rastloser Arbeit und Wißbegier entfacht: nicht die Inspiration, sondern nur die erste Anregung der geistigen Kräfte stammt von ihnen.

Der zentrale Begriff in Keplers wissenschaftlichem System ist der der Harmonie im Sinne einer "Anschauung der Welt als eines geordneten, nach geometrischer Gesetzlichkeit gegliederten Kosmos" (Cassirer, Erkenntnisproblem I, S. 330). Das folgende Beispiel für die dadurch in Gang gesetzte Denkart stammt aus dem Mysterium Cosmographicum. Die Planetenbahnen werden mit den fünf platonischen Körpern in Verbindung gebracht:

Die Erde ist das Maß für alle anderen Bahnen. Ihr umschreibe ein Dodekaeder; die dieses umspannende Sphäre ist der Mars. Der Marsbahn umschreibe ein Tetraeder; die dieses umspannende Sphäre ist der Jupiter. Der Jupiterbahn umschreibe einen Würfel; die diesen umspannende Sphäre ist der Saturn. Nun lege in die Erdbahn ein Ikosaeder; die diesem einbeschriebene Sphäre ist die Venus. In die Venusbahn lege ein Oktaeder; die diesem einbeschriebene Sphäre ist der Merkur. Da hast du den Grund für die Anzahl von Planeten.

Man kann es offenbar auch übertreiben. Deutlich wird aber gerade an einem solchen, aus heutiger Sicht in die Irre gehenden Argument, welches Gewicht die selbständige, an rein mathematischen Vorstellungen orientierte Spekulation im Vergleich zur Empirie in Keplers System besitzt.

Begründung der Mechanik

Keplers Zeitgenosse Galileo Galilei (1564 - 1642) gilt als handfester. Sein Alterswerk, die Discorsi, wird von Max v. Laue im Vorwort zur Jubiläumsausgabe von 1938 als "erstes Lehrbuch der Physik" bezeichnet. Das typische Vorgehen wird etwa im Vierten Tag der Discorsi an der Behandlung der Wurfbewegung deutlich. Es beginnt nicht mit einer Beobachtung, sondern mit einem mathematischen Satz

Ein gleichförmig horizontaler und gleichförmig beschleunigter Bewegung unterworfener Körper beschreibt eine Halbparabel, der dann zunächst einmal mit geometrischen Mitteln bewiesen wird. Ob wirkliche Körper sich so verhalten, ist dann eine ganz andere Frage, da insbesondere der Luftwiderstand störende Effekte hervorrufen kann.

Über alle die unendlich verschiedenen Möglichkeiten hinsichtlich der Schwere, der Geschwindigkeit und der Gestalt kann keine Theorie gegeben werden. Übrigens muß selbst, um diesen Gegenstand wissenschaftlich zu handhaben, zuerst von Schwierigkeiten abstrahiert werden, es müssen, abgesehen von Hindernissen, die bewiesenen Theoreme praktisch geprüft werden, innerhalb der Grenzen, die die Versuche uns selbst vorschreiben. Der Nutzen wird nicht gering sein, denn Stoff und Gestalt werden so gewählt werden können, daß der Widerstand möglichst gering sei, d. h. wir werden recht schwere und runde Körper wählen: dabei sollen die Strecken sowohl, als auch die Geschwindigkeiten nicht so exorbitant groß sein, daß wir sie nicht mehr genau messen können.

An die Stelle der Beobachtung, auf die sich die Astronomie noch beziehen kann, tritt in der sublunaren Physik das Experiment, die bewußte Herstellung einer Situation, die den in der mathematischen Konstruktion unterstellten Idealbedingungen möglichst nahe kommt. Damit wird klar, daß ein Experiment nicht am Anfang einer Untersuchung stehen kann, sondern nur an deren Ende, denn die experimentellen Bedingungen müssen zielgerichtet hergestellt werden, und das kann nur in Kenntnis des Ziels, also Theorie geleitet geschehen.

Der Unterschied zwischen Beobachtung und Experiment kann gar nicht scharf genug hervorgehoben werden, seine Nichtbeachtung führt in die Irre: "die falsche, ja thörichte aristotelische Behauptung ..., daß die Fallgeschwindigkeit proportional zur Schwere und umgekehrt proportional der Dichtigkeit des Mediums sei" (so der brave Übersetzer Emil Strauss von Galileis Dialog ins Deutsche 1890 in seiner Einleitung) ist so falsch ja nicht, solange man sich auf alltägliche Beobachtungen bezieht. Das Galilei´sche Fallgesetz beruht ja gerade darauf, von der "Dichtigkeit des Mediums" zu abstrahieren, seine Überprüfung im Experiment setzt voraus, daß Versuchsbedingungen hergestellt werden, bei denen die Dichte vernachlässigt werden kann .Aristoteles aus seiner Behauptung einen Vorwurf zu machen, heißt daher, ihm vorzuwerfen, er habe die experimentelle Methode der neuzeitlichen Physik nicht gekannt.

Isaac Newton (1642 - 1727) setzt alledem die Krone auf. Seine 1687erschienenen Philosophiae Naturalis Principia Mathematica leiten die zu seiner Zeit bekannten Gesetze der Astronomie und der erdnahen Physik mathematisch-deduktiv aus einheitlichen, d. h. universelle Gültigkeit beanspruchenden Axiomen ab.

Jeder Körper verharrt in seinem Zustand der Ruhe oder der gleichförmig-geradlinigen Bewegung, sofern er nicht durch eingedrückte Kräfte zur Änderung seines Zustands gezwungen wird.

Es handelt sich gewissermaßen um ein Naturgesetz im Konjunktiv: Keine derartige gleichförmig-geradlinige Bewegung wurde je beobachtet, und Newton weiß, daß das auch gar nicht sein kann, da es einen kräftefreien Raum seinem eigenen Gravitationsgesetz nach nicht gibt. Das hindert ihn aber nicht, ein solches durch Empirie nicht unmittelbar belegbares Gesetz an den Anfang seiner Principia zustellen.

Die Bewegungsänderung ist der eingedrückten Bewegungskraft proportional und geschieht in der Richtung der geraden Linie, in der jene Kraft eindrückt.

Wiederum spricht alle unmittelbare Empirie gegen Newton und für Aristoteles, dem zufolge eine Kraft nötig ist, um einen Bewegungszustand aufrechtzuerhalten, wogegen seine Änderung (Abbremsung) von selbst geschieht.

Newton läßt sich freilich nicht so ohne weiteres als Kronzeuge für die hier vertretene Sichtweise bemühen, daß die gedankliche Konstruktion und nicht die Empirie der Ausgangspunkt aller exakten Naturwissenschaft sei. Denn Newtons Leistung besteht in der systematischen Vereinheitlichung (und darauf aufbauenden Weiterentwicklung) bereits bestehender Erkenntnisse, bei denen es sich aber nicht, wie deutlich geworden sein sollte, um eine Ansammlung von Beobachtungen, sondern bereits um Naturgesetze handelt.

Zur Rolle der Mathematik

Ich habe oben das Kopernikanische Weltsystem ein mathematisches Modell genannt und damit eine moderne Terminologie verwandt, die das Selbstbild der Mathematik dieser Zeit (als Sprache, in der das Buch der Natur geschrieben sei, so eine auf Galilei zurückgehende Metapher)nicht angemessen beschreibt, sondern erst aus der im 20. Jahrhundert erfolgten Trennung in reine und angewandte Mathematik ihren Sinn bezieht. Dagegen setzt sich die Mathematik des 16. bis 18.Jahrhunderts fast ausschließlich mit der neuen Auffassung von der Natur auseinander und ringt um die angemessenen Begriffsbildungen zu ihrer Beschreibung. Mathematik ist exakte Naturwissenschaft, wie umgekehrt gilt, so das Kant´sche Diktum (Vorrede zu Metaphysische Anfangsgünde), daß in jeder besonderen Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen ist.

Was an "fertiger" Mathematik bereits zur Verfügung steht, ist Euklids Geometrie und Apollonius Lehre von den Kegelschnitten, und dieser Instrumente bedienen sich Kepler, Galilei und auch noch Newton bei ihren mathematischen Ableitungen. In ihrer antiken Gestalt erweisen sie sich aber als unzureichend, und so entfalten sich im 17.Jahrhundert die infinitesimalen Methoden, die schließlich von Newton und Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 - 1716) und den von ihnen begründeten Schulen erstmals begrifflich gefaßt und als gegenüber der antiken Geometrie eigenständiges mathematisches Teilgebiet etabliert werden (vgl. Peiffer / Dahan-Dalmedico, Wege und Irrwege, Kap. V.). Es wäre daher eine groteske Mißdeutung der Geschichte, von der hier vorgebrachten Betonung der Mathematik als Ausgangspunkt aller exakten Naturwissenschaft auf ihr Vorhandensein vor dieser zu schließen, wie es von manchen systematischen Lehrbüchern nahegelegt wird. Vielmehr handelt es sich um eine Wechselbeziehung, die so eng ist, daß für die damalige Zeit die heute übliche Aufteilung in Fächer kaum möglich erscheint.

Descartes' Programm

Der französiche Mathematiker René Descartes (1596 - 1650), Begründer der analytischen Geometrie (kartesisches Koordinatensystem), gilt als der erste Philosoph der Neuzeit, der die Vorstellungen des Mittelalters vollständig hinter sich gelassen hat. Anders als die Philosophen vor ihm, geht es ihm "nicht mehr in erster Linie um die Welt der Gegenstände, sondern um die der Erkenntnisse; nicht um die Kräfte, die das Naturgeschehen beherrschen, sondern um die Regeln, die den Aufbau der Wissenschaften leiten." (Cassirer, Erkenntnisproblem 1,S. 443).

Im Jahre 1637 erschien seine Schrift Discours de la méthode pour bienconduire sa raison et chercher la verité dans les sciences (Abhandlung über die Methode des richtigen Gebrauchs der Vernunft und das Suchen nach Wahrheit in den Wissenschaften). Es handelt sich dabei um eine Art Programmatik des wissenschaftlichen Zeitalters. Descartes stellt Leitlinien zur Behandlung beliebiger Erkenntnisprobleme auf.

Und so wie die Menge der Gesetze häufig als Entschuldigung für Laster dient, so daß ein Staat weit besser eingerichtet ist, wenn es in ihm nur wenige gibt, diese aber sehr genau befolgt werden, ebenso glaubte auch ich statt jener großen Zahl von Vorschriften, aus denen die Logik besteht, an den vier folgenden genug zu haben, vorausgesetzt, ich faßte den festen und unabänderlichen Entschluß, sie nicht ein einziges Mal zu übertreten.... niemals eine Sache als wahr anzuerkennen, von der ich nicht evidentermaßen erkenne, daß sie wahr ist: d.h. Übereilung und Vorurteile sorgfältig zu vermeiden und über nichts zu urteilen, was sich meinem Denken nicht so klar und deutlich darstellte, daß ich keinen Anlaß hätte, daran zu zweifeln.... jedes Problem, das ich untersuchen würde, in so viele Teile zu teilen, wie es angeht und wie es nötig ist, um es leichter zu lösen.... in der gehörigen Ordnung zu denken, d.h. mit den einfachsten und am leichtesten zu durchschauenden Dingen zu beginnen, um so nach und nach, gleichsam über Stufen, bis zur Erkenntnis der zusammengesetztesten aufzusteigen, ja selbst in Dinge Ordnung zubringen, die natürlicherweise nicht aufeinander folgen... überall so vollständige Aufzählungen und so allgemeine Übersichten aufzustellen, daß ich versichert wäre, nichts zu vergessen.

Vorbild ist ihm dabei die Mathematik:

Jene langen Ketten ganz einfacher und leichter Begründungen, die die Geometer zu gebrauchen pflegen, um ihre schwierigsten Beweise durchzuführen, erweckten in mir die Vorstellung, daß alle Dinge, die menschlicher Erkenntnis zugänglich sind, einander auf dieselbe Weise folgen und daß, vorausgesetzt, man verzichtet nur darauf, irgend etwas für wahr zu halten, was es nicht ist, und man beobachtet immer die Ordnung, die zur Ableitung der einen aus den anderen notwendig ist, nichts so fern liegen, daß man es nicht schließlich erreichte, und nichts so verborgen sein kann, daß man es nicht entdeckte.

Bereits 50 Jahre vor Newton´s Principia entwirft Renè Descartes seine "Methode", die man heutzutage als eine Art Mathematisierungs-Programm lesen kann: Nicht nur die seinerzeit bekannten mathematischen Probleme, sondern prinzipiell jedes Problem soll sich durch eine mathematisch-logische Herangehensweise lösen lassen. Im hier dargestellten Zusammenhang ist es mir wichtig zu betonen, daß dieses Programm die Erfolge der modernen Naturwissenschaft nicht zusammenfaßt, sondern diesen vielmehr vorangeht und sich im übrigen als Programm keineswegs auf die Naturwissenschaft beschränkt. In ihm kommt eine empirisch nicht belegte Grundüberzeugung zum Ausdruck, daß alle Erkenntnis, ja die menschliche Vernunft überhaupt, sich letztlich mathematisch organisieren lasse.

Die naturwissenschaftliche Methode

Die moderne Naturwissenschaft beruht auf der Grundannahme, daß es universell gültige, d.h. von Ort und Zeit unabhängige Naturgesetze gebe. Diese Annahme läßt sich durch einfache Beobachtung nicht belegen, die Wirklichkeit erscheint eher ungeordnet und unregelmäßig. Die peripatetische Wissenschaft meinte, daß die himmlischen Sphären ganz anderen Gesetzen folgen als die sublunare, sofern sie denn überhaupt von "Gesetzen" in unserem Sinne gesprochen hat, denn die Vorstellung universeller Naturgesetze setzt einen Begriff der Zeit als linear und kontinuierlich fortschreitend und einen Begriff des Raumes als homogen und nicht etwa in Sphären aufgeteilt voraus.

Die nächste Annahme lautet, daß sich die Naturgesetze mathematisch beschreiben lassen. Sie liegt dem für die Naturwissenschaften zentralen Begriff der Messung zugrunde. Denn die Idee, den Naturgesetzen auf dem Wege der Messung nachspüren zu können, wäre ansonsten ziemlich sinnlos.

Die ungeordnete und vielfältige Wirklichkeit läßt sich nicht messen. Daher wird denn auch anders vorgegangen, wie aus allen Schriften etwa Galileis und Newtons deutlich wird. Am Beginn steht ein Gedankenexperiment, also die Formulierung von Idealbedingungen (was wäre, wenn ...), aus denen auf mathematischem Wege Schlußfolgerungen gezogen werden können (vgl. Galileis oben referierte Darstellung der Wurfbewegung). Sowohl die Idealbedingungen als auch die mathematischen Schlußfolgerungen gehen dann in die experimentelle Überprüfung ein, erstere als Randbedingungen, die im Experiment genauestens zu beachten sind, letztere als Hinweise darauf, was eigentlich zu messen sei.

Erst auf der Basis derartiger Überlegungen kann ein Experiment stattfinden. Gute Experimentatoren müssen in der Lage sein, Versuchsanordnungen zu ersinnen, die den unterstellten Idealbedingungen möglichst nahekommen und die die gewünschten Messungen ermöglichen, ohne daß der Meßvorgang (der körperliche Einsatz des Experimentators) den idealen Ablauf stört. Das ist bekanntlich eine Wissenschaft für sich und erfordert, besonders in der Physik des 20. Jahrhunderts, einen ungeheuren technischen Apparat.

Die Naturwissenschaft stellt sich die zu beobachtenden Erscheinungen vor als Überlagerung von mathematisch formulierbaren Naturgesetzen und sogenannten Störfaktoren, das sind gewissermaßen Naturgesetze, die wir noch nicht im Griff haben. Experimente sind Handlungen, aktive Eingriffe in die Natur mit dem Ziel, Situationen künstlich zu schaffen, in denen Störfaktoren ausgeschaltet sind.

Die von den Naturwissenschaften selbst unterstellte Allgegenwart von Störfaktoren macht übrigens den Gedanken des modernen Empirismus, es ginge um die "Falsifikation wissenschaftlicher Hypothesen durch Experimente" (Popper), mehr als fragwürdig. Das Fallgesetz etwa läßt sich nicht falsifizieren. Ein Experiment, dessen Messungen im Widerspruch zu diesem Gesetz stünden, würde entweder nicht ernstgenommen oder aber Anlaß geben, nach unbekannten Störfaktoren zu suchen.

Objektive Erkenntnis?

Es geht mir nicht darum, die gesammelten Erkenntnisse der bald 500Jahre alten modernen Naturwissenschaft als "ungesichert" oder gar "falsch" zu brandmarken; das wäre ein ziemlich albernes Vorhaben. Betonen will ich vielmehr, daß es keine allgemein menschlichen, ahistorischen Kriterien für die Beurteilung von "wahr" oder "falsch" gibt, und daß die Naturwissenschaft von dieser Feststellung keine Ausnahme bildet.

Der Erfolg der Naturwissenschaften ist nicht zu bestreiten, sie sind - im Sinne des Radikalen Konstruktivismus - viabel, lebensfähig in der Auseinandersetzung mit der Umwelt, aber was folgt daraus für den Wahrheitsgehalt ihrer Erkenntnisse? Erfolgreich ist beispielsweise auch die chinesische Kunst der Akupunktur, wie viele erfahren haben, denen die westliche Medizin nicht weiterhelfen konnte. Daraus auf die Wahrheit der dahinterstehenden Vorstellungen zu schließen, würde aber zumindest in Widerspruch zu naturwissenschaftlichen Erkenntnissen über den menschlichen Körper stehen.

Der handfeste Erfolg der Naturwissenschaften ist in Form der technischen Systeme zu besichtigen, das sind Systeme, in denen künstlich Bedingungen geschaffen werden, wie sie für Experimente typisch sind, Störfaktoren also weitgehend ausgeschaltet werden (wenn nicht, versagen sie regelhaft). Im Experiment liegt denn auch der einzige Bestandteil der Naturwissenschaft, den man einem Menschen aus einer anderen Kultur vorführen könnte: Wenn ich diese bis ins kleinste Detail festgelegte (dem anderen vermutlich rituell bis skurril anmutende) Handlung A ausführe, so stellt sich regelmäßig der Effekt Bein. Aber daraus folgt nichts weiter, solange mein Gegenüber meine Grundannahme der universellen Naturgesetze, die im Experiment angeblich zum Ausdruck kommen, nicht teilt, sondern das Naturgeschehen für willkürlich und regellos hält. Kant spricht von einer "Revolution der Denkart", die notwendig war, um der Physik ihre moderne Form zugeben. Sie ist eine Vorbedingung, keine Folge.

In diesem Sinne handelt es sich bei der Auseinandersetzung etwa zwischen der Kirche und Galilei um den, auf der Ebene eines "herschaftsfreien Diskurses" völlig sinnlosen, Streit zweier unvereinbarer Sichtweisen, der durch Einsatz von Machtmitteln zunächst zugunsten der Kirche und in den Jahrhunderten danach zugunsten von Galilei entschieden wurde.

Gesellschaftsform und Erkenntnisform

Objektive Erkenntnis in einem ahistorischen, von der gesellschaftlichen Entwicklung unabhängigen Sinne wird also auch von den Naturwissenschaften nicht produziert. Diese spezielle Erkenntnisform ist vielmehr eine kulturelle Leistung, geschichtlich ebenso einmalig wie die bürgerliche Gesellschaft, in der und mit der zusammen sie sich entwickelt hat.

Unterstellt man, wie ich es als bürgerlicher Wissenschaftlerangesichts einer solchen Ausgangslage nun einmal tun muß, daß hier nicht nur eine zeitliche Koinzidenz, sondern ein innerer Zusammenhang besteht, daß also nicht nur die soziale und ökonomische Entwicklung durch die Naturwissenschaft beeinflußt wurde, sondern umgekehrt auch diese durch jene, so ergibt sich in Bezug auf die Entstehung der Naturwissenschaften ein Forschungsprogramm:

Die von den Naturwissenschaften immanent nicht begründeten und nicht begründbaren, sondern aller naturwissenschaftlichen Erkenntnis vorgelagerten Prämissen, als da sind die Annahme, es gebe universell gültige Naturgesetze, die damit verbundenen Begriffe von Zeit und Raum, der Blick auf die Natur durch die "mathematische Brille", die Idee, zum Zwecke der Erkenntnis aktiv in die Natur einzugreifen (Experimente) sind daraufhin zu untersuchen, durch welche sozialen und ökonomischen Bedingungen sie nahegelegt werden.

Greiff (Gesellschaftsform und Erkenntnisform), dessen Argumentationslinien ich weitgehend gefolgt bin, allerdings mit anderen Schwerpunktsetzungen, betont vor allem den letzten Punkt (Experimente) und weist im letzten Kapitel seines Buches anhand der geläufigen Vorschriften der experimentellen Physik zur Durchführung von Experimenten (Ausschaltung des "subjektiven Faktors" bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung des Beobachterstatus) nach, daß sie sich auf ein Subjekt beziehen, dessen Verstand nicht von seinen Empfindungen abhängt, denn nur diese sind auszuschalten. Die Durchführung von Experimenten setzt ein Subjekt voraus, das in ein empfindendes Körperwesen und ein urteilendes Verstandeswesen gespalten ist, wobei letzteres nicht dem "subjektiven Faktor" zugerechnet wird, also nichts Besonderes oder Individuelles enthalten darf.

... die Möglichkeit der ,Eliminierung des subjektiven Faktors' setzt in den Erkenntnissubjekten neben dem Bewußtsein der eigenen Besonderheit ein abstraktes Gleichheitsbewußtsein voraus; das Individualbewußtsein, das der objektiven Erkenntnis vorausgesetzt ist, ist das Bewußtsein, als Körperwesen von allen Individuen unterschieden und unabhängig vom Körper mit allen Individuen identisch zu sein. Die subjektive Fähigkeit zu objektiver Erkenntnis kann erst entstehen in einer Gesellschaft, die ihre Mitglieder zu Einzelexemplaren dergleichen Gattung Mensch, zu Individuen, macht.

... die körperliche Verschiedenartigkeit der Menschenwesen ist eine Naturtatsache, das Bewußtsein, eine individuelle Ausprägung dergleichen menschlichen Gattung zu sein, aber ist es nicht. Jahrtausende lang sah der homo sapiens keine Veranlassung, sich als Einzelexemplar des Menschen im allgemeinen zu betrachten und zu versuchen, durch Abstraktion von seinen "persönlichen" Eigenarten seine Urteile objektiv zu machen. Historisch nachweisbar treten objektive Erkenntnisform und Individualbewußtsein in nennenswertem Umfang zum ersten Mal in der griechischen Antike auf, und weltweit beginnen beide sich erst seit der Renaissance zu verbreiten. Wir sagen: das menschliche Individualbewußtsein tritt zum ersten Mal in den Gesellschaften auf, in denen die zur Lebenserhaltung notwendigen Produkte die Bestimmung annehmen, gegen Geld tauschbare Waren zu sein. Oder für Naturwissenschaftler ausgedrückt: die ,intervenierende Variable', die das Individualbewußtsein in den Menschen entstehen läßt, ist die Warenform. Sobald die Menschen gezwungen sind, um sich am Leben zu erhalten, Waren gegen Geld und Geld gegen Waren zu tauschen, sind sie auch gezwungen, die Abstraktion vom Gebrauchswert der zu Waren gewordenen Produkte zu vollziehen - Waren werden nicht als Gebrauchswerte sondern als Werte getauscht. Der permanente Zwang zum Warentausch erzeugt in den Menschen notwendig die Fähigkeit, vom Gebrauchswert als einer bloß subjektiven Bedeutung der Ware abstrahieren, d.h. die Ware frei von aller subjektiven Bedeutung als Wert behandeln zu können. Er erzeugt also die Fähigkeit, über die Dinge des täglichen Bedarfs in gleicher Weise zu urteilen wie Wissenschaftler über Erkenntnisgegenstände urteilen - das wissenschaftliche Urteil ist nur der Spezialfall jener objektiven Urteilsform, die zur allgemeinen Form wird, sobald der Warentausch zur Basis aller gesellschaftlichen Beziehungen wird.

An dieser Stelle, an der es spannend wird, endet Greiffs gerade auch für Naturwissenschaftler gut zu lesende Schrift, in der es ihm um die "gesellschaftliche Bedingtheit der Erkenntnis in abstracto" geht. Müller (Geld und Geist) geht von der anderen Seite an das Thema heran und versucht, an umfangreichem Quellenmaterial aus verschiedenen Disziplinen, die Entstehung des bürgerlichen Subjekts und die damit einhergehende Entwicklung des abstrakten, begrifflichen Denkens aus der aufkommenden monetären Vergesellschaftung abzuleiten. Seine Überlegungen sind nicht mehr Gegenstand dieser Studie. Beide Bücher wurden Ende der 70er Jahre geschrieben, die damit begonnene Forschungsrichtung aber anscheinend danach nicht mehr fortgesetzt.

Zitierte Literatur

Cassirer, E. : Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Erster Band 1910, Zweiter Band 1907, 3. Auflage 1922, Nachdruck, Darmstadt 1994

Descartes, R. : Discours de la méthode pour bien conduire sa raison et chercher la verité dans les sciences, 1637, Deutsch-Französische Ausgabe von L. Gäbe 1960, Nachdruck, Hamburg 1990

Galilei, G. : Discorsi e dimostrazioni matematiche, intorno a due nove scienze, 1638, Übersetzung von A. v. Oettingen 1890, Nachdruck, Frankfurt 1995

Galilei, G. : Dialogo sopra i due massimi sistemi del mondo, 1632, Übersetzung von E. Strauss 1890, Nachdruck, Stuttgart 1982

Greiff, B, v. : Gesellschaftsform und Erkenntisform. Zum Zusammenhang von wissenschaftlicher Erfahrung und gesellschaftlicher Entwicklung, Frankfurt 1976

Kant, I. : Kritik der reinen Vernunft, 1781, 2. Auflage 1787, Nachdruck, Hamburg 1990

Kant, I. : Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, 1786, Kants Werke auf CD-ROM, Berlin 1996

Kopernkus, N. : De Revolutionibus Orbium Coelestium, 1542, Deutsch-Lateinische Ausgabe von G. Klaus, Berlin 1959

Kepler, J. : Mysterium Cosmographicum de admirabili proportione orbium coelestium, 1596, Übersetzung von M. Caspar, München 1936

Kepler, J. : Harmonices mundi, 1619, Übersetzung von M. Caspar, München 1939

Müller, R.-W. : Geld und Geist. Zur Entstehungsgeschichte von Identitätsbewußtsein und Rationalität seit der Antike, Frankfurt 1977

Newton, I. : Philosophiae Naturalis Pricipia Mathematica, 1687, Übersetzung von E. Dellian, Hamburg 1988

Peiffer, J. / Dahan-Dalmedico, A. : Wege und Irrwege - Eine Geschichte der Mathematik, Basel 1994

Rorty, R. Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie, Frankfurt 1994

Weiterführende Literatur

Heintz, B. : Die Herrschaft der Regel. Zur Grundlagengeschichte des Computers, Frankfurt 1993

Müller, R.-W. : Geld und Geist. Zur Entstehungsgeschichte von Identitätsbewußtsein und Rationalität seit der Antike, Frankfurt 1977

Sohn-Rethel, A. : Geistige und körperliche Arbeit. Zur Theorie der gesellschaftlichen Synthesis, Frankfurt 1970

Sohn-Rethel, A. : Soziologische Theorie der Erkenntnis, Frankfurt 1985

Sohn-Rethel, A. : Das Geld, die bare Münze des Apriori, Berlin 1990