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1998

Rubrik
Repression & Widerstand
 

SONJA BRUENZELS afrika@contrast.org
contact autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe:
afrika@contrast.org
http://www.contrast.org/KG

Liebe Leute,
Wir wurden gebeten, diese Pressemitteilung um die Welt zu schicken.
die InitiatorInnen der Aktion (Initiative fuer die klassenlose
Weltgesellschaft) weisen darauf hin, dass die Medien zwar ueber die Aktion
berichten, aber das eigentliche Anliegen, die Freiheit fuer die
politischen Gefangenen
dabei schlicht unterschlagen.
Deshalb auf diesem Weg, das Flugblatt, das waehrend der
Ausstellungseroeffnung im Dt. Literaturarchiv verteilt wurde, und das klar
machen soll, dass die Geschichte noch nicht zu Ende ist.


Mit solidarischen Gruessen
autonome a.f.r.i.k.a.-gruppe


DOKUMENTATION

Initiative für die klassenlose Weltgesellschaft

Pressemitteilung

Die diesjaehrige Eröffnung der Jahresausstellung im
Schiller-Nationalmuseum Marbach/N. unter dem Titel: "Protest! Literatur
um 1968" verlief nicht wie gewohnt. Wir nahmen uns das Recht, unsere
Sicht auf 1968 und seine Verknüpfungen mit heute, dem verknöcherten
Literaturwissenschaftsbetrieb entgegenzusetzen. 50 Menschen besetzten
Bühne und Rednerpult. Wir haben folgendes den anwesenden Gästen und der
anwesenden Presse mitgeteilt:

Mit freundlichen Grüßen
Initiative für die klassenlose Weltgesellschaft


"Das Wort ergreifen, die Freiheit beginnt"
(Oreste Scalzone)


Heute jaehrt sich zum 22. Mal der Todestag von Ulrike Meinhof, die am 9.5.
1976 in Stammheim erhaengt aufgefunden wurde. Ulrike Meinhof war
Mitbegruenderin der Roten Armee Fraktion (RAF) und zuvor eine der
wichtigsten publizistischen StreiterInnen der ausserparlamentarischen
Opposition (APO). Die RAF hat sich inzwischen aufgeloest und ihren
bewaffneten Kampf fuer beendet erklaert. Gleichgueltig wie wir zu diesem
Kampf stehen, er war eine historische Konsequenz der Ereignisse von 1968,
die hier musealisiert werden.

Der bewaffnete Kampf war eine Form der politischen Auseinandersetzung, die
ohne 1968 nicht verstehbar ist, eine Entscheidung, die zahlreiche Gruppen
in Italien, Frankreich, in den USA und in der Bundesrepublik in aehnlicher
Weise getroffen haben. Diese Form der Auseinandersetzung gehoert
mittlerweile der Geschichte an, und wir fordern die bundesdeutsche
Gesellschaft auf, daraus endlich die Konsequenzen zu ziehen und ebenfalls
die Waffen niederzulegen.

Die Geschichte der RAF und der Bewegung 2. Juni hat ihre Urspruenge in der
weltweiten Erhebung der anti-kolonialen Befreiungsbewegungen und
insbesondere im Protest gegen den Vietnamkrieg in den Sechziger Jahren.
Hunderttausende von Toten schlagen dabei auf der Seite des "freien Westens"
zu Buche. Auch die Bundesrepublik war hier und andernorts Kriegspartei. Sie
ist fuer Hundertausende von Toten in aller Welt mitverantwortlich. Doch
diese Toten haben sich die damaligen ParteigaengerInnen des "freien Westen"
schon laengst verziehen. Nicht verziehen hat die Bundesrepublik den
politischen Gefangenen und den Illegalen aus der RAF und anderen
bewaffneten Gruppen.

Ab 9. Mai soll in Marbach a.N. im Schiller-Nationalmuseum die 68er Revolte
kulturindustriell verwurstet werden. Das Schiller-Nationalmuseum ist eine
oeffentlich-rechtliche Einrichtung, die zu weiten Teilen aus Bundes- und
Landesmitteln finanziert wird. Hier erteilt also der Staat den Auftrag zur
Aesthetisierung und zur Musealisierung der Revolte von 1968: "Protest!
Literatur um 1968" lautet der Titel der Ausstellung, die den Widerstand
gegen die kapitalistische Produktionsweise, die Notstandsgesetze, den
Vietnamkrieg, den imperialistischen Kolonialismus und Rassismus
konsumierbar macht. Ein Bezug zum aktuellen Widerstand gegen die
herrschenden Verhaeltnisse ist nicht vorgesehen.

Damit wird die Revolte historisiert und, dem Bildungsbuergertum adaequat,
im Museum praesentiert. Das Museum signalisiert: die Geschichte ist
abgeschlossen und die Revolte zu Ende. Wasserwerfer und Polizeiknueppel
werden aus zweiter Hand serviert: Hier bleibt die Revolution ungefaehrlich.
Als Begleitprogramm zum Museumsbesuch liefern die oeffentlich-rechtlichen
Medien die historischen Bilder von '68 ins Wohnzimmer.

Wenn nun die Revolte im Museum gelandet ist, koennte man meinen, dass alles
gegessen ist. Doch nach wie vor vorhanden sind die Notstandsgesetze, die
Anti-Terrorgesetze von 1977 ff. und inzwischen die Schleifung des
Grundrechts auf Asyl und der Grosse Lauschangriff. Und wuerde heute ein/e
AutorIn oder RedakteurIn, eine aehnliche Haltung gegenueber der
herrschenden Ordnung erkennen lassen, wie sie im historischen Film- und
Textmaterial zum Vorschein kommt, dann gnade ihm/ihr sein/ihr Chefredakteur
oder Rundfunkintendant. GegnerInnen der herrschenden Ordnung finden sich
hier nicht mehr.

Weltweiten sitzen ProtagonistInnen der Revolte von und nach 68 noch im
Knast oder muessen untergetaucht leben. Allein neun Gefangene aus RAF und
Widerstand befinden sich noch in bundesdeutschen Gefaengnissen. Der Knast
ist aber kein Museum. Wenn nun die Musealisierung der Revolte in den
staatlichen Museen beginnt, ist nicht einzusehen, warum die staatliche
Verfolgung andauern soll. Es ist dann auch fuer diese Seite an der Zeit,
dieses Kapitel abzuschliessen.
Die politischen Gefangenen muessen raus, die Untergetauchten muessen wieder
unter uns leben koennen. Erst dann laesst sich eine wirkliche politische
und historische Auseinandersetzung ueber ihre Gruende und die
gesellschaftlichen Voraussetzungen dieses Kampfes beginnen.

Die Gefangenen sind ein Faustpfand des deutschen Staates. An ihnen soll in
guter deutscher Manier ein Exempel statuiert werden. Die Rede von den
'gewoehnlichen Kriminellen' straft sich dabei selbst Luegen: Der
bundesdeutsche Staat hat bei der Bekaempfung der RAF und anderer
bewaffneter Gruppen durch Ausnahmegesetze, Sonderhaftbedingungen,
praeventive Erschiessungen in 'Putativnotwehr' und Aehnliches zur Genuege
gezeigt, dass er sich einen Deut um die Spielregeln buergerlicher
Rechtstaatlichkeit schert, wenn es eben nicht um 'Kriminelle', sondern um
Staatsfeinde geht.

Unser heutiges Go-In soll dazu beitragen, den politischen Spielraum fuer
die Gefangenen zu erweitern und zugleich klarmachen, dass es noch
politische Kraefte gibt, die nach wie vor darauf bestehen, dass alle
Verhaeltnisse, in denen der Mensch ein geknechtetes und unterdruecktes
Wesen ist, umzuwerfen sind. Denn der Kampf fuer eine Gesellschaft, hier und
ueberall in der Welt, in der jeder Mensch auch als Mensch leben kann, ist
noch nicht Geschichte sondern geht weiter. Lotta continua!

"Ich nehme meine Wuensche fuer die Wirklichkeit, denn ich glaube an die
Wirklichkeit meiner Wuensche."

Initiative fuer die klassenlose Weltgesellschaft


Deshalb fordern wir das Schiller-Nationalmuseum auf, Partei zu ergreifen
und einen Appell zur Freilassung der politischen Gefangenen in die
Ausstellung aufzunehmen:

Fuer die Freilassung aller politischen Gefangenen!
und die Aufhebung aller repressiven Sondergesetze 1977 ff.
in der BRD und andernorts;
Freiheit fuer die Gefangenen der Black Panther Party, der Weather Men
und von Lotta Continua
Leben und Freiheit fuer Mumia Abu Jamal!

Von wegen '68 - Wir sind noch nicht zu Ende