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1998

Rubrik
Repression & Widerstand
 

Offener Brief von Dino Frisullo an die Zeitung Ülkede Gündem

"Zuerst möchte ich all jene Freunde grüßen, die ich im Gefängnis zurücklassen
mußte. Ich weiß, daß sie nicht die Möglichkeit haben werden, diese Zeilen zu
lesen, da diese Zeitung - die einzige Zeitung in der Türkei, die über ihre
Schwierigkeiten und ihre Hoffnungen spricht - verboten ist, verboten für sie
und für alle Menschen in der kurdischen Region. Aber vielleicht werden sie
diesen Brief in der Zukunft einmal zu Gesicht bekommen.
Ich stehe nun bei ihnen in großer Schuld. Im Gefängnis war ich ihr Gast und ihr
Zeuge. Auch die Ärmsten von ihnen erlaubten mir nicht, auch nur eine einzige
Lira auszugeben. Sie gaben mir ihre Gastlichkeit und ihre Freundschaft, wie sie
es als kurdische Menschen für gewöhnlich tun, aber mehr noch: sie schenkten mir
ihr Vertrauen, ihre Lebensgeschichten, die einen Teil der gesamten
Leidensgeschichte des kurdischen Volkes bilden. Ich werde ihre Stimme sein, die
Stimme der kurdischen Häftlinge in Europa. Ich werde für sie schreien, wie ich
es im Gerichtssaal getan habe, werde ausrufen, daß alle von ihnen unter Druck
gesetzt werden, mit dem Militär zu kollaborieren und daß alle von ihnen,
politische, wie auch gewöhnliche Gefangene, Frieden und Würde ersehnen.
Ich werde in ganz Europa erklären, daß der Knast, wo ich einen Monat lang
gefangen gehalten wurde, kein 'normales' Gefängnis ist, wo es irgendein
'normales' Verhältnis zwischen Strafe und begangenem Verbrechen gäbe, das
Gefängnis von Diyarbakir ist vielmehr ein Teil des Krieges mit der
systematischen und totalen Unterscheidung und Diskriminierung von
'Politischen', 'Geständigen' und 'Normalen' und der alltäglichen Benutzung der
Aussagen der 'Geständigen' für militärische Operationen.
Ich werde versuchen einzelne Fälle vor den Europäischen
Menschenrechtsgerichtshof zu bringen. Und ich werde versuchen, die breite
Bewegung für meine Freilassung und die Solidarität mit mir, in eine Bewegung zu
verwandeln, die in der kurdischen Frage den internationalen Druck erzeugt, der
für den Beginn eines Friedensdialoges nötig ist. Ich kann diese Hunderte von
Jagdbombern nicht vergessen, die über Diyarbakir in Richtung auf die Berge
zuflogen und nicht jene Panzer, 'Made in Italy' oder aus Deutschland oder den
USA, die an Newroz auf die Kinder feuerten.
Und in jedem Fall werde ich nach Diyarbakir zurückkehren, um mich meinem Prozeß
zu stellen.
Ich möchte allen Menschen aus Diyarbakir danken, für die große Fröhlichkeit und
das Fest in Batikent und für die Aufmerksamkeit, die sie meinem Prozeß
erwiesen. Jeden Tag erhielt ich einen Beweis dessen, durch die Verwandten von
Mithäftlingen, sogar über meine Wärter. Schließlich, am Tag meiner Verhandlung,
wurde eine Gruppe von Frauen durch die Polizei geschlagen, nur weil sie meiner
Freilassung beiwohnen und sie feiern wollten, weil diese Freilassung auch ein
Sieg für sie war.
Ich werde dies alles niemals vergessen, auch nicht den Einsatz meiner Anwälte
aus Diyarbakir und Istanbul und der kurdischen JournalistInnen, speziell von
MED-TV. Im Fernsehen auf unserer Zelle konnte ich täglich die Berge von Lügen
und militaristischer Rhetorik erfahren, die immer erbärmlicher werden und mit
denen die kurdischen und türkischen demokratischen Organisationen und jedwede
Hoffnung auf ein Ende des schmutzigen Krieges zugeschüttet werden sollen.
Semdin Sakik ist niemals in das Gefängnis von Diyarbakir gebracht worden. Seine
Zelle dort war reines Theater. Er selbst verblieb die ganze Zeit in den Händen
des Militärs und der JITEM. Seine Stimme ist deren Stimme und seine
'Enthüllungen' sind ein Teil des Krieges. Auch das werde ich in Europa erklären.
Schließlich möchte ich Ülkede Gündem danken. Ich habe meinen zweiwöchigen
Hungerstreik auch mit dem Ziel durchgeführt, Eure Zeitung für mich und die
anderen Gefangenen frei zugänglich zu machen. Dies wurde verweigert und auch
Eure Artikel über meinen Fall wurden mir erst nach der Entlassung übergeben.
Aber ich weiß, daß Eure Zeitung das Herz der kurdischen Menschen ist, und das
Herz aller freiheitsliebenden Menschen.
Heute scheint die Nacht sehr dunkel zu sein, aber  Newroz, der neue Tag, wird
kommen, über dem Berg Gebar ..."

Dino Frisullo, 29.04.1998