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1998

Rubrik
Repression & Widerstand
ID-SCHLESWIGHOLSTEIN@BIONIC.zerberus.de (ID-Schleswig-Holstein)
weitergeleitet fuer die Rote Hilfe / Ortsgruppe Kiel

Interview mit Sahin Erdogan, Mitarbeiter der Zeitschrift Kurtulus
 

Frage: Wie kam es zu dem aktuellen Prozess gegen Kurtulus und was wird den Angeklagten vorgeworfen ?

Kurtulus: Am 18. Februar kam die Antiterroreinheit zu unserem Zentralbuero
und wollte das Buero mit der Begruendung durchsuchen, sie wuerden eine Person
suchen. Wir erwiderten dar- auf, dass wir ein Presseorgan sind und die
Durchsuchung von Presseorganen nicht in der Zustaendigkeit der
Antiterroreinheiten liegt, dass stattdessen die Pressepolizei kommen solle.
Wir wuerden dann die Durchsuchung in Anwesenheit von unseren Anwaelten mit
drei Polizisten zulassen. Es kam im Anschluss zu einer illegalen
Bestuermung durch die Antiterroreinheiten wobei 23 von unseren
Mitarbeitern festgenommen wurden. Dabei wurde das Buero zu einem
Kriegsschauplatz. Unsere Mitarbeiter wurden brutal zusammengeschlagen.
Viele von ihnen sollten zu Tode gepruegelt werden. Blutueberstroemt wurden
sie in die Polizeifahrzeuge geschliffen. Die Begruendung dieses
willkuerlichen und illegalen Aktes war, dass wir, die 23 Mitarbeiter,
revolutionaere Journalisten waren und deshalb wurden alle Mitarbeiter und
der Chefredakteur 7 Tage lang gefoltert und verhoert. Dieser Angriff kam in
allen Nachrichten als erste Nachricht, es wurde sogar live gesendet. Auch
in den Zeitungen erschien dieser Angriff auf den Titelseiten. Auch die
Weltoeffentlichkeit konnte diese Bilder sehen. Wie bereits er- waehnt,
wurden unsere Mitarbeiter in der Antiterrorzentrale schwer gefoltert und
dabei auch Foltermethoden wie Stromschlaegen und Palaestinenserhaken
unterzogen. Um den 23. Febru- ar kamen wir dann vor das Gericht. Dabei
fragte uns der vernehmende Staatsanwalt, was wir bei Kurtulus machen
wuerden. Wir beantworteten die Frage folgendermassen: Kurtulus ist eine
legale Institution und sie ist eine auf demokratischer Basis erscheinende
legitime Zeitschrift. Sie erscheint nicht nur in der Tuerkei, sondern auch
in vielen europaeischen Laendern. Sie ist damit eine international
erscheinende woechentliche politische Publikation. Jedoch wurde in der
durch die Polizei formulierten Anklageschriften versucht, Kurtulus als
Stuetzpunkt einer Organisation darzustellen und die Mitarbeiter als
Militante dieser Organisation zu denunzie- ren. Wir haben das Gegenteil
sehr klar beweisen koennen. In der Folge wurden fuenf unserer Freunde
verhaftet, darunter auch die Herausgeberin der Kulturzeitschrift Tavir,
Frau Aynur Cihan, sowie unser Chefredakteuer Hamdi Kayisi. Hamdi Kayisi
ist in der Tuerkei, insbesonde- re unter den demokratischen
Massenorganisationen, sowie den Journalisten und Kolumnisten sehr bekannt.
Er wurde im Gerichtssaal nach seinem Namen und seiner Aufgabe bei Kurtu-
lus gefragt. Nachdem er dann sagte, mein Name ist Hamdi Kayisi, ich bin
der Chefredakteur, folgte die lapidare Antwort: "Du bist verhaftet". Auch
andere Personen wurden auf diese Wei- se verhaftet, so z.B. die Inhaberin
des Nizan-Verlages, Frau Banu Guedenoglu, oder die Leite- rin der
Nachrichtenzentrale, Frau Senguel Akkurt, oder unsere Reporterin Serah
Kurtei. Im Einzelnen wurden folgende Anklagegruende aufgefuehrt: Wir hatten
vor kurzer Zeit einen Ent- wurf fuer eine Volksverfassung formuliert. Diese
wurde gelesen und auch unter das Volk ge- bracht. Zwei Seiten aus dem
Entwurf wurden verboten und als Grund zum Beschlagnahmen des Entwurfes
benutzt. Wie ich weiss, wurde dieser Entwurf auch in Europa veroeffentlicht.
Kurtulus ist in erster Linie ein Presseorgan, eine Institution, die eine
Zeitschrift herausgibt. Natuerlich koennen hier allerlei Dokumente, Buecher,
Material liegen, das wir fuer unsere Arbeit fuer unsere Taetigkeit benutzen
muessen, denn wir muessen ja unsere Recherche durchfuehren koennen, um unserer
Aufgabe gerecht zu werden. Unsere Artikel koennen wir ja nur auf offene und
klar dokumentierte Quellen beziehen. So wurden Bilder aus unserem Archiv
als Beweise angefuehrt, auch z.B. der Entwurf oder einige Buecher, obwohl
viele dieser Buecher gar nicht verboten sind, aber in unserem Archiv
vorhanden waren. Weitere Beweise liegen nicht vor.

Frage: Hat es bereits frueher aehnliche Prozesse und Verfahren gegeben ?

Kurtulus: Es gibt sehr viele Prozesse gegen Kurtulus. Zur Zeit sind etwa
100 Mitarbeiter im Gefaengnis. Kurtulus wird auch deswegen verfolgt, weil
es wirklich die Stimme der Hoffnung darstellt. Die Stimme aller
unterdrueckten Voelker in diesem Lande. Das ist auch der Grund, warum sich
die Repression immer mehr verschaerft.

Frage: Gibt es auch in Europa Repression gegen Kurtulus?

Kurtulus: Ja, in allen imperialistischen Laendern und in allen Laendern, wo
es Ausbeutung gibt und wo Kurtulus erscheint. Kurtulus versucht nicht nur
die Stimme der unterdrueckten Voelker in der Tuerkei, sondern aller
unterdrueckten Voelker auf der ganzen Welt zu sein.

Frage: Wir wissen, das es auch Repression in Deutschland gegen Kurtulus
gibt. Kannst Du dazu sagen ?

Kurtulus: Auch der deutsche Imperialismus greift die Kurtulus an, indem er
zum Beispiel die Bueros stuermt, die Geschaeftsraeume durchsucht, die Leser
verhaftet. Dies alles hat das Ziel der Einschuechterung.

Frage: In welcher Situation befinden sich die inhaftierten Mitarbeiter,
wie geht es ihnen?

Kurtulus: Es geht den Inhaftierten zur Zeit gut. Wir erwarten nicht, dass
die Inhaftierung fort- gefuehrt wird. Es gibt keine Beweise, um die
Fortfuehrung der Haft durchzusetzen. Am 15. Mai wird der Prozess beginnen.
Die Werktaetigen der Presse in der Tuerkei und die aufrichtigen Journalisten
und Kolumnisten, die die Wuerde ihres Berufsstandes immer noch verteidigen,
werden hier fuer Oeffentlichkeit sorgen, so wird z.B. der progressive
Journalistenverband von Istanbul dazu aufrufen, auch aus dem Ausland
erwarten wir Prozessbeobachter, auch eine Teilnahme von demokratischen
Massenorganisationen. Wir denken, dass diese Menschen uns unterstuetzen
werden, denn unsere Freunde wurden willkuerlich verhaftet. Die Verhaftung
ist illegal gewesen, sie verstoesst gegen die herrschenden Gesetze.

Frage: Koennen Sie etwas zur Geschichte von Kurtulus und zur Repression
gegen die Zeitung sagen?

Kurtulus: Kurtulus erscheint seit 12 Jahren. Am Anfang unter dem Namen
"Coesum" (Loesung). Waehrend dieser Zeit war die Zeitung starke
faschistischer Repression des Staates ausgesetzt. So wurden zum Beispiel
die Bueros immer wieder gestuermt oder bombardiert, oder Chefredakteure
wurden verhaftet, oder andere Mitarbeiter und Reporter wurden verhaf- tet.
All dieses natuerlich ohne jegliche juristische Grundlage. Mit der
Fortentwicklung des poli- tischen Prozesses und der Organisierung des
Volkes, d.h. der Ausbreitung der Organisation auf andere politische Felder
nahm auch die Repression zu. Anfang der 90er Jahre wurde Coesum zu Muecadele
(Kampf). In dieser Phase kam es in bezug zu der Organisation zu ei- nem
Putsch. Muecadele hat hier eine klare Position gegen den Verrat des
Putsches bezogen. Zu dieser Zeit verstaerkte die tuerkische Oligarchie ihre
Repressionen und Angriffe gemeinsam mit dem inneren Feind weiter. Anfang
der 90er erschien dann "KURTULUS gegen den Im- perialismus und die
Oligarchie" (Kurtulus - Befreiung). Die Zeitung, die jetzt den Namen
Kurtulus angenommen hatte, erschien woechentlich. Auch zu dieser Zeit nahm
die Repressi- on des Staates nicht ab, im Gegenteil, je staerker die
Opposition des Volkes wurde, desto staerker wurden auch die Repressalien
gegen Kurtulus. Hier moechten wir anfuehren, dass die tuerkische Justiz sich
auf die Verfassung des faschisti- schen Putsches von 1980 aufbaut. Damit
meinen wir konkret, dass sich in diesem Land die Bedingungen des Faschismus
instutionalisiert haben. Die Repression gegen Kurtulus ging auch Mitte der
90er Jahre weiter. Diese Phase ist eine sehr lebendige Phase gewesen. Wie
Ihr wisst, kam es 1995 zu dem Massaker in Gazi. Es ist auch die Zeit, in
der die Rebelli- on des Volkes begann, Form anzunehmen. Kurtulus hat in
seinem Erscheinen hier die Fueh- rerschaft uebernommen und wurde zur Stimme
des Volkes. Kurtulus fuehlte sich dazu ver- pflichtet und sah eine
Notwendigkeit darin, seine Mission zu erreichen. Kurtulus ist eine revo-
lutionaere Zeitung, sie ist eine revolutionaere Institution. Sie hat sich
seit Beginn ihres Erschei- nens das Ziel gesetzt, im Kampf fuer
Unabhaengigkeit, Demokratie und Sozialismus zu beste- hen und diesen Kampf
mit zu verwirklichen. Dieser Kampf ist der Kampf aller Voelker und
Nationen, die in diesem Land leben, die ein unabhaengiges, demokratisches
und sozialisti- sches Land aufbauen wollen. Diese Aufgabe ist aus Sicht
von Kurtulus eine Notwendigkeit. Und hieraus bezieht Kurtulus ihre
Identitaet. Der Kampf wurde aus der Perspektive des revolutionaeren
Journalismus gese- hen und den faschistischen Angriffen mit einer
revolutionaeren Linie entgegengewirkt. Am 15. Mai 1996 verlor Kurtulus
einen seiner Mitarbeiter. Konkret geschah das so: Irfan Agdas, ein 16
Jaehriger Gymnasiast, der in Alibeykoey Kurtulus verteilte, wurde von
Mitgliedern der Con- terguerilla mitten auf der Strasse, vor den Augen von
Passanten, ermordet. Das Ziel von Irfan Agdas war es, Kurtulus an die
Leser zu bringen, die aufrechte Stimme des Volkes unter das Volk zu
bringen. Das wollte die Polizei nicht dulden.

Frage: Was ist Eurer Meinung nach der Zweck des jetzigen Prozesses?

Kurtulus: Der Staat moechte Kurtulus mundtot machen, weil Kurtulus
fortwaehrend das wahre Gesicht des Staates enttarnt, aufzeigt, wie
ungerecht der Staat ist, wie undemokratisch und dass es eigentlich ein
Conterguerillastaat ist.

Frage: Wie kann die europaeische Linke Euch bei diesem Prozess unterstuetzen?

Kurtulus: Die europaeische Linke sollte sich mit Kurtulus solidarisieren.
Gerade aus dem Grund, wenn sie internationalistisch ist, sollte sie uns in
unserem Kampf unterstuetzen. Kurtu- lus sieht sich internationalistisch.
Sie ist nicht nur die Stimme der unterdrueckten Voelker in der Tuerkei,
sondern verpflichtet sich, auch allen anderen unterdrueckten Voelkern dieser
Erde eine Stimme zu geben. In diesem Sinne moechte sich Kurtulus in eine
internationale Solidaritaet begeben. Wir wollen, dass sich die europaeische
Oeffentlichkeit, Menschen, die sich der inter- nationalen Solidaritaet
verschrieben haben, uns in diesem Prozess nicht alleine lassen und mit uns
gemeinsam die Solidaritaet herausrufen. Zuletzt moechte ich noch die
Repression gegen Kurtulus zusammenfassend beschreiben. Wie Ihr im Gazi-
Prozess in Trabzon selbst miterle- ben konntet, baut sich dieser Staat und
seine Justiz auf der Grundlage der Verfassung der faschistischen Junta von
1980 auf. Der Staat begann mit diesem Verstaendnis von Recht, die Massen
anzugreifen. Kurtulus nimmt in der Opposition unter den Massen einen
zentralen Punkt ein, damit war es natuerlich unumgaenglich, dass Kurtulus
diesen Repressalien ausge- setzt war. Was hier gemacht werden soll, ist
die Einschuechterung von Kurtulus, von Kurtu- luslesern und Mitarbeitern.
Die Angriffe im gesamten Land haben einen Vernichtungcharak- ter, wenn man
z.B. das Massaker in Adana bedenkt, wo vor einigen Monaten ein Kurtulus-
journalist und zwei weitere Personen in einer Wohnung exekutiert wurden,
oder die Bombar- dierung des Bueros in Ankara, oder die dauernde
Terrorisierung und staendige Umzingelung unserer Bueros.

Vielen Dank.

Interview: Rote Hilfe Ortsgruppe Kiel

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