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1998

Rubrik
Repression & Widerstand

Solidaritätskomitee

FÜR DIE OPFER DER POLITISCHEN VERFOLGUNG IN DEUTSCHLAND

Kontaktadresse: Klaus Feske, ( Togostraße 11, 13351 Berlin, 6030/4513063 ( BTX 0304513063-0001

Internet solikomitee@t-online.de

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11/02/1998

Mitteilung

Wie heute aus der Tagespresse zu ersehen ist, wurde gestern auf einer internationalen Pressekonferenz die nachfolgende Erklärung der Öffentlichkeit übergeben.

Wir möchten Sie bitten, diese Erklärung zu unterstützen und nach Ihren Möglichkeiten zu verbreiten.

Bei Bedarf ist die Erklärung in englischer, spanischer, französischer und russischer Sprache bei uns zu erhalten.

Mit solidarischen Grüßen

Klaus Feske

Sprecher des Komitees

 

Erklärung zur Diskriminierung und Verfolgung ehemaliger Bürgerinnen und Bürger der Deutschen Demokratischen Republik in der Bundesrepublik Deutschland

Im November 1996 haben mehrere Unterzeichner dieser Erklärung in einem Memorandum die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit darauf gelenkt, daß Politiker, Verwaltungsbehörden, Polizei, Staatsanwälte und Gerichte der Bundesrepublik Deutschland (BRD) Bürger der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) politisch diskriminieren und juristisch verfolgen.

Im achten Jahr nach der Vereinigung Deutschlands eskaliert diese dem internationalen Recht und dem deutschen Einigungsvertrag widersprechende Praxis. Sie hat im August 1997 mit dem Urteil des Landgerichts Berlin gegen das frühere Staatsoberhaupt Egon Krenz einen neuen Höhepunkt erreicht.

Unsere Verantwortung als Politiker, die sich selbst sachlich und kritisch mit der Vergangenheit auseinandersetzen, gebietet uns, vor der Öffentlichkeit festzustellen:

1.

Diskriminierung, Ausgrenzung und Strafverfolgung von früheren DDR-Bürgern im vereinten Deutschland haben inzwischen besorgniserregende Ausmaße angenommen:

- Seit 1990, dem Jahr der Vereinigung, sind zehntausende Staatsangestellte, Wissenschaftler, Lehrer, Militärs, Polizisten, Richter, Staatsanwälte, Betriebsleiter und andere Personen nur deswegen aus dem Dienst entlassen worden, weil sie in der DDR ihre verfassungsmäßigen Rechte und Pflichten loyal wahrnahmen. Die meisten Betroffenen unterliegen für den Rest ihres Lebens einem Berufsverbot.

- In Ostdeutschland arbeiten seit 1990 spezielle Polizeibehörden, Sonderstaatsanwaltschaften und Sonderstrafkammern. Die ausschließliche Aufgabe dieser Sonderbehören, denen fast ausnahmslos Westdeutsche angehören, besteht darin, angebliche "DDR-Regierungskriminalität" zu verfolgen.

- Nach unvollständigen amtlichen Angaben sind bisher gegen Ostdeutsche mehr als 60.000 Ermittlungsverfahren eingeleitet worden. Ständig werden neue Verfahren bekannt. Zehntausende unschuldige Menschen und ihre Familien werden kriminalisiert und gesellschaftlicher Diskriminierung ausgesetzt.

- Staatsanwälte haben über 600 oft dubiose Anklagen erhoben. Was noch bevorsteht, ist kaum absehbar, da inzwischen auch Lehrer, Mediziner, Sporttrainer und Angehörige anderer Berufsgruppen ins Visier genommen wurden.

- Die Gerichte verurteilten bisher mehr als 300 DDR-Bürger zu teilweise hohen Haftstrafen. Politikern, Parlamentariern, Grenzsoldaten, Offizieren und Generalen, Juristen und Geheimdienstlern wurde unter anderem zur Last gelegt:

* "Totschlag" bei der Verhinderung illegaler Grenzübertritte oder durch Mitwirkung an den entsprechenden gesetzlichen Regelungen für die Grenzkontrolle.

* Teilnahme an Spionagehandlungen, wobei nach dem Grundsatz verfahren wird: Spionage gegen die DDR war rechtens - Spionage für die DDR war ein "Verbrechen"!

* "Rechtsbeugung" und "Freiheitsberaubung" durch korrekte Anwendung von DDR-Strafrecht in ordentlichen Gerichtverfahren.

Besonders empörend sind dabei die Verfahren und Urteile gegen Staatsanwälte und Richter im Osten Deutschlands, die in den 50er Jahren auf der Grundlage der Bestimmungen des Alliierten Kontrollrates über Nazikriegsverbrecher und Massenmörder zu Gericht saßen.

Bezeichnend für den grenzenlosen Verfolgungswillen ist gleichfalls die Tatsache, daß sich unter den Angeklagten und Verurteilten Menschen befinden, die bereits von der Nazijustiz zum Tode bzw. zu langjährigen Zuchthausstrafen verurteilt worden waren.

Wenn Regierungsvertreter, Gerichte und Staatsanwaltschaften das auch zu bestreiten versu-chen: Es handelt sich um politische Prozesse. Sie sind dazu bestimmt, mit abenteuerlichen Rechtskonstruktionen die Deutsche Demokratische Republik nachträglich zu delegitimieren und zum "Unrechtsstaat" zu stempeln, wie es der damalige Justizminister und heutige Vizekanzler der BRD Klaus Kinkel 1991 von den Gerichten und Staatsanwaltschaften forderte.

Das Bestreben der heute in Deutschland politisch Verantwortlichen mit der früheren DDR-Elite "abzurechnen", richtet sich objektiv gegen Millionen Bürger der DDR und ihre Lebensleistungen. Es stellt eine kollektive Demütigung dar.

2.

Anklagen und Urteile gegen DDR-Bürger wegen hoheitlichen Handelns beruhen ausnahmslos auf einer politischen Umbewertung von Ereignissen und Verhaltensweisen, die überdies nicht selten Jahrzehnte zurückliegen. Es wird die historische Tatsache ignoriert, daß die Bildung der BRD im Mai 1949 vor der Gründung der DDR im Oktober 1949 erfolgte und so die Ost- grenze der BRD zur Staatsgrenze wurde. Die Spaltung Deutschlands war damit besiegelt. Ebenso wird negiert, daß der Kalte Krieg zwischen West und Ost von beiden deutschen Staaten - oft auch stellvertretend für die jeweilige Hegemonialmacht, die USA und die UdSSR - mit besonderer Schärfe geführt wurde. Zweifellos war die Gesetzgebung der DDR - ebenso wie die der alten BRD - von der Systemauseinandersetzung mit geprägt. Immer aber war die DDR-Gesetzgebung völkerrechtskonform und kein "gesetzliches Unrecht", wie heute BRD-Politiker und Justiz glauben machen wollen.

Angesichts des zentralen Vorwurfs der BRD-Gerichte, das Grenzregime der DDR sei "verbrecherisch" gewesen, sehen wir uns veranlaßt, noch einmal folgendes hervorzuheben:

* Die Teilung Deutschlands ging in hohem Maße auf Entscheidungen der Hauptsiegermächte des II.Weltkrieges zurück.

* Die Spaltung führte auf deutschem Boden nicht nur zur Dislozierung der stärksten Militärkräfte, die sich jemals in der Welt gegenüberstanden. Sie hatte auch die beinahe bedingungslose Integration der BRD in die NATO und danach zwangsläufig der DDR in den Warschauer Pakt zur Folge. Damit wurde die Staatsgrenze zwischen der DDR und ihrem westlichen Nachbarn zur Trennlinie zweier Machtblöcke und Gesellschaftssysteme.

* Die Regierungen der BRD und ihrer Verbündeten haben niemals in völkerrechtlich verbindlicher Form Einwände gegen das auf Veranlassung der UdSSR geschaffene Grenzregime erhoben. Die DDR ist wegen ihres Grenzregimes zu keinem Zeitpunkt von Gremien der UNO oder anderen internationalen Organisationen gerügt oder angeklagt worden.

* Das Völkerrecht gestattet es jedem souveränen Staat, seine innere Ordnung, einschließlich seines Grenzregimes, und seine äußeren Beziehugen selbst zu bestimmen.

* Die notwendige auch militärische Sicherung der westlichen DDR-Grenze unterschied sich nicht von der anderer Außengrenzen des Warschauer Vertrages.

* Einen "Schießbefehl" hat es in der DDR niemals gegeben.

Es galten international übliche Regelungen, nach denen Grenzverletzer, die sich entgegen allen Aufforderungen und Warnungen nicht stellen, Gefahr laufen, durch den Einsatz militärischer oder polizeilicher Mittel verwundet oder gar getötet zu werden. Das ist in keinem Staat anders, auch nicht in der BRD.

Niemand kam jedoch bisher auf den Gedanken, bewaffnete Vollzugsbeamte, ihre Vorgesetzten oder gar die betreffende Regierung, wenn sie im Rahmen geltender Gesetze und durch diese legitimiert handelten, anschließend zu Mördern bzw. Totschlägern zu erklären. Auch die Bundesrepublik reklamiert für sich vehement das staatliche Gewaltmonopol. Nur für die DDR will sie es rückwirkend nicht anerkennen. So stehen frühere Hoheitsträger der DDR heute vor Gerichten eines anderen Staates, der sie nach Maßstäben bestraft, die er auf seine eigenen Bürger niemals anwandte.

* Die Angeklagten, angefangen vom Grenzsoldaten bis zum Vorsitzenden des Staatsrates haben nicht erst vor Gericht aufrichtig bedauert, daß es zu Todesfällen und Verletzungen kam, wenn gestellte Grenzverletzer den Fluchtversuch trotz Warnschüssen fortsetzten.

Kein Verantwortlicher in der DDR wollte körperlichen Schaden oder gar Tötung von Grenzverletzern, wie wir aus eigener Kenntnis bezeugen können.

3.

In dem Memorandum vom November 1996 wurde bereits festgestellt, daß das Vorgehen der Justiz der BRD elementare Grundsätze des Völkerrechts, für alle Staaten verbindliche inter- nationale juristische Normen verletzt.

Die jetzige Entwicklung veranlaßt uns besonders hervorzuheben:

- Die Justiz verstößt ständig gegen das international allgemein anerkannte Rückwirkungsverbot, gegen das Prinzip "nulla poena sine lege", wonach niemand wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden kann, die zur Zeit ihrer Begehung nach inländischem oder internationalem Recht nicht strafbar war.

- Die Gerichte stützen sich auf BRD-Rechtsnormen obwohl diese bis zum 3. Oktober 1990 im anderen deutschen Staat nicht galten, und laut Einigungsvertrag nicht anzuwenden sind. Um DDR-Recht nicht anwenden zu müssen, wie es der Einigunsvertrag vorsieht, wird unzulässig auf sogenanntes überpositives oder Naturrecht zurückgegriffen.

- Die mehrmalige willkürliche Verlängerung von Verjährungsfristen für vorgeblich in der DDR begangene Straftaten hat die Rechtsicherheit völlig untergraben. Sie führte dazu, daß selbst 40 Jahre zurückliegende Vorkommnisse heute nachträglich als Straftaten deklariert und verfolgt werden können.

Es gibt mithin zweierlei Recht in Deutschland: eines für Bürger der Alt-Bundesrepublik und ein anderes für Bürger des zweiten inzwischen angeschlossenen deutschen Staates. Das ist in der europäischen Geschichte beispiellos.

4.

Die Verteufelung der DDR als "Unrechtsregime" und die stillschweigende oder ausdrückliche Gleichsetzung des sozialistischen deutschen Staates mit dem Hitlerregime bedeutet eine Relativierung und Beschönigung der Nazidiktatur. Wir beobachten das mit großer Sorge und erklären: An der DDR ist im Rückblick manches zu kritisieren. Während ihrer 40-jährigen Entwicklung gab es Fehler und Defizite. Eines aber kann ihr in keinem Fall abgesprochen werden: Sie war ein antifaschistischer Staat, in dem es keine Wirkungsmöglichkeiten für alte wie neue Nazis gab.

Auch die Erklärung, die Nichtverfolgung von Nazi- und Kriegsverbrechern in der alten BRD sei ein Fehler gewesen, der bei der "Aufarbeitung" der DDR-Geschichte nicht wiederholt werden dürfe, geht an der Wahrheit vorbei. Mit den Prozessen gegen Verantwortliche der DDR korrigiert die Justiz der BRD nicht "Fehler" bei der Verfolgung von Naziverbrechen. Sie wahrt damit nur eine antisozialistische Tradition, die der deutschen Justiz seit dem vorigen Jahrhundert immer eigen war.

Wir wissen heute mehr um die Dramatik und Widersprüchlichkeit der deutschen Nachkriegsgeschichte. Daraus sind für die Zukunft in Ost und West Lehren zu ziehen.

Völkerrechtswidrige, mit dem Grundgesetz der BRD ebenso wie mit dem DDR-Recht unvereinbare Strafverfahren und andere Diskrimierungsmaßnahmen sind jedoch kein Beitrag hierzu, sondern vertiefen nur die Gräben, die durch Deutschland gehen. Sie sind auch kein gutes Omen für die künftige Entwicklung Europas.

Wir richten einen eindringlichen Appell an die Öffentlichkeit, an verantwortliche Politiker in aller Welt: Helfen Sie nach Ihrem Vermögen mit, die rechtswidrige Verfolgung von DDR-Bürgern endlich zu beenden!

Berlin, im Dezember 1997.

Prof. Dr. Manfred Gerlach
Gerald Götting
Dr. Günther Maleuda
Dr. Hans Modrow
Rosel Walther
Dr. Hans Reichelt
Prof. Dr. Kurt Wünsche
Oskar Fischer
Prof. Dr. Gerhard Fischer
Dr. Günter Sarge
Peter Florin
Herbert Fechner
Erhard Lonscher