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1998

Rubrik
Internet

Debatte

Grundzüge einer Soliorganisation gegen Zensur & Providerwillkür

Auf der Redaktionssitzung am 23.2.1998 brachte Karl Müller den folgenden Antrag ein:

Die "trend"-Redaktion erklärt die im November 1997 begonnene webpolitische Zusammenarbeit für gegenseitige Solidarität und Vernetzung linker&radikaler Kräfte mit dem Internetdiensteanbieter "Nadir Info System" sowohl aus grundsätzlichen Erwägungen als auch aufgrund der besonderen Erfahrungen im Kampf gegen Zensur und Providerwillkür für beendet.

Dieser Antrag wurde sodann ausführlich beraten. In der Aussprache kristallierte sich heraus, daß die Einschätzung der Rolle der Provider im deutschsprachigen Internet, die dem Antrag von Karl Müller zugrundelag, noch einer breiteren Erörterung - auch und gerade mit anderen Onlinemagazinen - bedarf. Dies schon deshalb, weil die Selbstorganisation der eigenen Webpräsenz die Lehren aus dem Konflikt mit IMU/BerliNet berücksichtigen muß. Karl Müller zog daraufhin seinen Antrag zurück.

Im folgenden veröffentlichen wir Auszüge aus seiner Antragsbegründung, weil wir auf dieser Grundlage die Diskussion in Sachen Gründung einer Soliorganisation (Arbeitstitel "Webring") voarantreiben wollen.

"Nachdem der bundesdeutsche Staatsapparat in der Vergangenheit mit Kriminalisierungsdruck Internetprovider zur Zensur gegen Newsgruppen oder Websites veranlassen konnte, schuf er sich dafür den entsprechenden Rechtsrahmen (TKGs). Dadurch verlagerte sich die Zensur sozusagen weg vom Staat nach vorn in die allgemeinen Betriebsbedingungen der Internetdiensteanbieter und Mailboxen. In den Konflikten, die dann folgten, zeigte sich, daß es dem Staat gelungen war, den Widerspruch zwischen dem Recht auf Meinungs-/Pressefreiheit und staatlicher Zensur in einen Widerspruch zwischen Meinungs-/Pressefreiheit und Gewerbefreiheit zu transformieren.

Die Folgen waren fatal: Die Internetdiensteanbieter praktizierten vorauseilenden Gehorsam mit der Begründung, ihr eingesetztes Kapital (in der stofflichen Gestalt des Internet-Equipments) vor staatlicher Beschlagnahmung zu bewahren, d.h. seine ungestörte Verwertung zu sichern. Dieser Gehorsam reichte von der Versorgung der Ermittlungbehörden mit gewünschten Nutzerdaten bis zur datentechnischen Zugangssperrung einzelner Provider (XS4ALL), die nicht bereit waren, Gehorsam vorauseilend zu praktizieren.

Löschungen von Websites durch Provider stehen seitdem auf der Tagesordnung. Um den Eindruck von Providerwillkür zu mildern bzw. diese zu legitimieren, zettelt der Staatsapparat seinerseits mitunter exemplarische Strafverfahren (wie im Fall Angela Marquardt) an. Zensur und Willkürakte erscheinen formaljuristisch nicht mehr als solche, weil sich die Provider immer auf die sogenannte Einhaltung eines zuvor mit dem betroffenen User geschlossenen Vertrages berufen können, für dessen Rechtsrahmen sie ja nicht zuständig sind, sondern der Staat.

Dieser rasante Abbau von Meinungs- und Pressefreiheit im deutschsprachigen Internet macht einen dauerhaften Zusammenschluß (Webring) von linken&radikalen Internetprojekten für eine auf Gegenseitigkeit beruhende Solidarität bei Zensur und Providerwillkür dringend notwendig. Mitglieder dieses "Webrings" sollen Personen und Gruppen sein, die in das Internet Informationen und/oder Meinungen hineinveröffentlichen. Entlang dieser politisch-publizistischen Interessen wird der praktische Zweck dieses Zusammenschlusses darin bestehen, FREE SPEECH & FREE VISIT im Internet zu verteidigen. Zu den weiteren politischen Aufgaben gehören vor allem auch Öffentlichkeitarbeit, der Aufbau einer datentechnischen Logistik, mit der man in der Lage ist, "just in time" jeden Zensurversuch auszuhebeln, die Einrichtung eines Solifonds und die Gewinnung von Anwälten.

Mögen einzelne Provider eine kritische Haltung zu den restriktiven Entwicklungen des Internets einnehmen, strukturell stehen sie im Konfliktfall, d.h. wenn sie unter ökonomischen oder/und politisch-juristischen Druck geraten, auf der Seite der Zensur. D.h. Provider können solche Zusammenschlüsse zwar fördern und sogar unter bestimmten Bedingungen unterstützen, Mitglied können sie darin jedoch nicht sein.

Die Zensur des "trend" bei IMU/Berlinet und die seit Wochen anhaltende Providerwillkür gegen die Redaktion stehen emplarisch für die restriktiven Entwicklungen im deutschsprachigen Internet und die dort herrschenden Interessengegensätze und Machtverhältnisse. Ausgestattet mit der ökonomisch-technischen Macht eines Internet-Equipments diktierten die Inhaber der Firma IMU/Berlinet autokratisch, wie ihr Kunde "trend" den öffentlichen Raum des Internets zu nutzen habe oder eben nicht. Zur Durchsetzung ihrer vom Verwertunginteresse ihres Kapitals bestimmten Ansichten gehörten nicht nur die wochenlange Beschränkung des Zugangs zum Internet, den Newsgruppen und der Email, sondern infolge der dann einsetzenden Proteste sowohl Löschung des Webspace als auch Post- wie Datenunterschlagungen, schließlich noch Fälschung der "trend"-Website.

Daß die Firma IMU/Berlinet bisher im Ansehen stand, ein linkes Projekt für die "private Datenkommunikation" zu sein, ist kein Treppenwitz, sondern - das sei hier selbstkritisch hervorgehoben - leider (auch) ein Verdienst der "trend"-Redaktion."