1998 by World Socialist Web Site
Das Vorgehen des Sonderermittlers Starr gegen Clinton
Ein schleichender Staatsstreich
Von Editorial Board
20 June 1998
Der Rechtsanwalt und Unabhängige Ermittler Kenneth Starr, der seit mittlerweile vier
Jahren versucht, dem US-Präsidenten Clinton mit juristisch auswertbaren Skandalen zu
Leibe zu rücken, hat Anfang Juni deutlicher denn je zuvor seine politische Zielsetzung zu
erkennen gegeben. In einem Schreiben an den Obersten Gerichtshof der USA erklärte er:
"Die Nation hat ein zwingendes Interesse an einer möglichst raschen Klärung der
Frage, ob der Präsident der Vereinigten Staaten in kriminelle Machenschaften verwickelt
ist - Urteile müssen gefällt, Unterlagen für eine mögliche Amtsenthebung
zusammengestellt, oder Entscheidungen über eine Einstellung von Verfahren bekannt gegeben
werden."
Diese Äußerung Starrs begleitete seinen Versuch, das geschützte
Vertrauensverhältnis zwischen Anwalt und Mandant aufzubrechen. Er reichte einen Antrag
beim Obersten Gerichtshof ein, daß Notizen von Gesprächen eines Anwalts mit einem
ehemaligen Mitarbeiter Clintons, der später Selbstmord beging, an ihn, Starr,
ausgehändigt werden. Das Weiße Haus hat Widerspruch angekündigt.
Die Medien wiederholen zum größten Teil Starrs Behauptungen, daß seine Ermittlungen
gerechtfertigt seien, weil sie schwere Vorwürfe krimineller Vergehen untersuchten. Die
defensive Taktik des Weißen Hauses vor Gericht, sagen sie, komme einem Eingeständnis von
Clintons Schuld gleich. Seit der frühere Rechtsanwalt Monica Lewinskys, deren angeblichen
sexuellen Beziehungen zu Clinton im Mittelpunkt der gegenwärtigen Ermittlungen stehen,
William Ginsburg, den Fall niedergelegt hat, erwarten die Kommentatoren allgemein, daß
deren neues Juristenteam nun rasch ein Abkommen mit Starr aushandeln werde. Danach soll
Lewinsky als Gegenleistung für die Zusicherung eigener Straffreiheit ihrerseits vor der
Großen Jury Clintons Aussage widersprechen, daß zwischen ihr und dem Präsidenten keine
sexuelle Beziehung bestanden habe.
Ginsburg hielt am 3. Juni in Los Angeles eine Rede, in der er einige treffende
Bemerkungen über den Unabhängigen Ermittler und über die Medien äußerte. Er nannte
den Apparat Starrs eine "verfassungswidrige Ungeheuerlichkeit" und fuhr fort:
"Mr. Starr befindet sich in einer politischen Mission, die sowohl von seinen
Unterstützern als auch, was die Sache nicht besser macht, von ihm selbst ausgeht. Er wird
das Präsidentenamt eindeutig so lange schlechtmachen und es so lange als ständiger
Rachegott heimsuchen, wie dieses Amt mit Präsident William Jefferson Clinton besetzt
bleibt." Ginsburg wies darauf hin, daß, wollte man sexuelle Treue zur Bedingung für
die amerikanische Präsidentschaft machen, "mindestens sieben der letzten zehn
Präsidenten zu diesem Job nicht zugelassen und nach ihrer Wahl zur Amtsenthebung
freigegeben worden wären."
In beißenden Worten faßte er die Erfahrungen zusammen, die er in den letzten fünf
Jahren mit der Presse gemacht hatte:
"Ich kann mit Sicherheit feststellen, daß sich die Nachrichten aus einem
Instrument der freien Meinungsäußerung zu einem Instrument der Kommerzäußerung
gemausert haben, bei dem oftmals nur Geld und Aufmachung entscheiden. Es geht viel mehr um
die Wirtschaftlichkeit des Nachrichtengeschäfts, als um genaue und faire
Berichterstattung."
Ginsburgs Rede wurde in einer Sondersendung zur Krise im Weißen Haus live übertragen.
Im Anschluß daran überschütteten Moderator und Gäste Ginsburg mit Angriffen und
persönlichen Beleidigungen.
Doch ganz unabhängig von der einseitigen und oberflächlichen Berichterstattung
schält sich eines deutlich heraus: Unter dem Deckmantel von Starrs vierjährigen
Ermittlungen - die von einer Frage zur nächsten sprangen, angefangen mit einer
Bodenspekulation aus den siebziger Jahren bis hin zu einer angeblichen sexuellen Beziehung
- verbirgt sich nichts geringeres, als ein politischer Staatsstreich.
Es handelt sich um einen abgekarteten Versuch, einen gewählten Präsidenten mittels an
den Haaren herbeigezogener Vorwürfe zu diskreditieren, zu demütigen und wenn möglich
aus dem Amt zu jagen. Letzteres geschieht nicht etwa durch eine Bombardierung des Weißen
Hauses oder einen Truppenaufmarsch vor seiner Zufahrt. Nein, man bedient sich der
traditionellen Methoden amerikanischer Politik und kleidet den Staatsstreich in das Gewand
strikter Legalität.
Doch die politische Kampagne gegen die Clinton-Regierung, an deren Spitze Starr steht,
ist zutiefst undemokratisch. Im wesentlichen wird die Einrichtung des Unabhängigen
Ermittlers, d.h. eines nicht gewählten Amtes mit weitreichenden Vollmachten, benutzt, um
tiefgreifende Veränderungen in der amerikanischen Regierung durchzusetzen.
Ein Netzwerk der Rechten
Starr selbst unterhält sehr enge persönliche und politische Beziehungen zu Kräften
auf der extremen Rechten. Hinter ihm steht ein undurchsichtiges Netz von
Multimillionären, rechtsstehenden Kongreßabgeordneten, Anwälten, Richtern und korrupten
Journalisten. Sie verfolgen ihre eigenen, nicht offen genannten Ziele und benutzen die
Medien, um in der Öffentlichkeit so viel Verwirrung wie möglich zu stiften.
Starrs Verbindungen auf der Rechten sind gut bekannt und reichhaltig dokumentiert,
werden aber dennoch von den Medien, die in der ganzen Verschwörung eine Schlüsselrolle
spielen, weitgehend unterschlagen. Die meisten Fernsehsender und Zeitungen unterdrückten
beispielsweise Berichte über die Rolle des Milliardärs Richard Mellon Scaife - der Starr
den Vorsitz eines von ihm gesponserten Instituts an der Universität Pepperdine anbot -
bei der Kampagne gegen Clinton.
Ebenso übergingen sie die Aktivitäten einer der zahlreichen rechten Gruppen, die sich
an der Attacke auf das Weiße Haus beteiligen, nämlich des Council for National Policy
(CNP, Rat für nationale Politik). Wie das Magazin In These Times berichtete,
gehören dieser streng geheimen Organisation die Republikanischen Senatoren Jesse Helms,
Lauch Faircloth und Trent Lott (Führer der Republikanischen Senatsmehrheit) an, sowie Dan
Burton, der ehemalige (unter Reagan) Justizminister Edwin Meese, die christlichen
Fundamentalisten Jerry Falwell und Pat Robertson, Oliver North, der rechte Politstratege
Paul Weyrich sowie John Whitehead vom Rutherford Institute, welches das juristische
Vorgehen von Paula Jones finanziert.
In These Times berichtete, daß der politische Aktionsausschuß des CNP im Juni
letzten Jahres beschloß, die Offensive gegen Clinton fortzusetzen. Zu diesem Zweck sollte
ein (im folgenden vom Republikaner Bob Barr im Repräsentantenhaus eingebrachter)
Gesetzentwurf unterstützt werden, mit dessen Hilfe die ersten einleitenden Maßnahmen
für eine Amtsenthebung getroffen werden könnten. Die Zeitschrift zitiert Weyrich, einen
der CNP-Gründer, mit den Worten: "Wir arbeiten nicht länger für die
Aufrechterhaltung des Status quo. Wir sind Radikale, die einen Umsturz der gegenwärtigen
Machtstrukturen in diesem Lande anstreben."
Typisch für die Reaktion der Presse auf die Starr-Ermittlungen ist das Editorial der New
York Times vom 2. Juni, eben dem Tag, an dem der Unabhängige Ermittler seinen
eingangs genannten Antrag beim Obersten Gerichtshof stellte. Die Times verurteilte
Clintons "Weigerung, der einleuchtenden Forderung nach Informationen in einer
berechtigten Verbrechensermittlung nachzukommen", und drängte den Gerichtshof,
Starrs Antrag stattzugeben, den niedrigeren Gerichten den Fall zu "entreißen"
und das Weiße Haus daran zu hindern, die Arbeit des Unabhängigen Ermittlers weiter zu
"blockieren".
Die Times wörtlich: "Hier haben wir einen Fall, in dem das Gericht seiner
verfassungsmäßigen Rolle entsprechend die Notwendigkeit erkennen sollte, im Interesse
einer ordnungsgemäßen Regierung und der Herrschaft des Gesetzes einzugreifen."
Welche kriminellen Vergehen nun eigentlich die "Herrschaft des Gesetzes"
gefährden, darüber weiß die Times - wie auch der Chor der übrigen Medien, die
Starr unterstützen - auffallend wenig zu berichten. Das verwundert nicht, denn letzten
Endes ist das angebliche Verbrechen, auf das Starr sein Ziel - ein Amtsenthebungsverfahren
- begründet, nichts weiter als eine private Beziehung zwischen Herrn Clinton und einem
anderen erwachsenen Menschen.
Die empfindliche Reaktion auf die Gefährdung der "Herrschaft des Gesetzes"
ist bei der Times überdies höchst selektiv. Die Tatsache, daß das wichtigste
Beweismaterial für eine sexuelle Verbindung zwischen Clinton und Lewinsky aus illegal
erstellten Tonbandaufnahmen besteht, stört die Zeitungsmacher nicht im geringsten.
In Wirklichkeit ist der ganze Fall, der um die Lewinsky-Affäre konstruiert wurde, eine
durchsichtige Operation zur politischen Destabilisierung. Alle Beteiligten, von Starr
über die Paula-Jones-Leute bis hin zu den Geldgebern wie Mellon Scaife versuchen, eine in
juristischer Hinsicht unbedeutende Leugnung einer sexuellen Beziehung zu den
"Kapitalverbrechen" Meineid und Behinderung der Justiz hochzustilisieren. Dabei
versuchen sie der amerikanischen Bevölkerung einen riesigen Bären aufzubinden.
Der Vergleich mit Watergate
Ein wichtiger Aspekt der Desinformationskampagne, die Starrs Ermittlungen begleitet,
ist der Versuch des Unabhängigen Ermittlers, seinen Fall gegen Clinton mit den
Watergate-Enthüllungen auf eine Stufe zu stellen, die zum Sturz der Nixon-Regierung
führten. Die Medien geben Starr dabei freie Hand, indem sie jeden Hinweis auf die
gewaltigen Unterschiede verschweigen.
Erinnern wir daran, daß sich die Watergate-Krise an einem tatsächlichen Verbrechen
entzündete. Vom Weißen Haus bezahlte Akteure, darunter zahlreiche ehemalige CIA-Agenten,
organisierten einen Einbruch im Hauptsitz der wichtigsten bürgerlichen Oppositionspartei,
um illegal Abhörvorrichtungen zu installieren.
Der Skandal brachte nach und nach ein regelrechtes Muster kriminellen Vorgehens an den
Tag: Geheimfonds des Weißen Hauses zur Bestechung von Zeugen und zur Beseitigung von
Beweismaterial, das illegale Abhören politischer Gegner und sogar von
Regierungsvertretern, die abweichender Meinungen verdächtigt wurden, sowie den Einsatz
von Regierungsagenturen zur Einschüchterung von Gegnern.
Die Nixon-Regierung hatte gegen die Verfassung verstoßen, indem sie in Kambodscha
einen illegalen, nicht erklären Krieg führte - und einen ebenso illegalen Krieg gegen
die politische Opposition im eigenen Land. In diesem Rahmen hatte sie sogar das Büro des
Psychiaters von Daniel Ellsberg ausrauben lassen und den Huston-Plan verfaßt, der
Massenverhaftungen von Gegnern des Vietnamkriegs vorsah. Die Atmosphäre in Washington war
so gespannt, daß Nixons eigener Verteidigungsminister in den letzten Tagen vor dessen
Rücktritt die Anweisungen des Weißen Hauses an die Militärkommandeure gegenlas, weil er
einen Putschversuch zur Verhinderung der Amtsenthebung befürchtete.
Die Iran-Contra-Affäre von 1986-87 drehte sich um nicht weniger schwerwiegende und
direkt kriminelle Vorgänge unter der Reagan-Regierung. In ihrem Zentrum standen bewußte,
systematische Verstöße gegen ein wenige Jahre zuvor verabschiedetes Gesetz, das Boland
Amendment, das Geldzuwendungen der USA an die sogenannten Contras explizit verboten hatte.
(Die Contras waren ein konterrevolutionärer Verband, der Massenterror und Morde verübte,
um die Sandinista-Regierung zu stürzen.)
Um dieses Gesetz zu umgehen, hatte die Reagan-Regierung eine Geheimoperation
autorisiert, die vom Keller des Weißen Hauses aus unter der Leitung Oliver Norths
betrieben wurde. Der Präsident sanktionierte einen nicht erklärten Krieg in
Mittelamerika, bei dem private Söldnertruppen zum Einsatz kamen, die teilweise durch
geheime Waffenlieferungen an den Iran finanziert wurden.
Hochrangige Mitglieder der Reagan-Regierung belogen den Kongreß, was North nicht nur
zugab, sondern womit er sich während einer späteren Anhörung noch brüstete. Obwohl
einige der höchsten Figuren gefeuert wurden, bestanden die offiziellen Untersuchungen
über die Iran-Contra-Affäre in einer Serie von Beschwichtigungen und Vertuschungen.
Weder Reagan noch ein einziger seiner wichtigsten Gehilfen wurden irgend eines Verbrechens
schuldig gesprochen.
Nixon und Reagan hatten also in ihrer offiziellen Funktion und als Bestandteil ihrer
Politik das Gesetz umgangen, gegen die Verfassung verstoßen und hinter dem Rücken der
amerikanischen Bevölkerung illegale Kriege geführt. Clinton hingegen wirft man vor, er
habe in einem zivilen Rechtsstreit - dem von Paula Jones angestrengten Verfahren -, der
überdies gar nicht zur Verhandlung zugelassen wurde, eine Lüge über sein Privatleben
geäußert.
Die Rolle Clintons
Die Ermittlungen Starrs und die damit einhergehende Medienkampagne werfen einige
wichtige Fragen auf. An erster Stelle ist das auffallende, erstaunliche Schweigen Clintons
zu nennen.
Man sollte meinen, daß jemand in Clintons Lage, der derart haarsträubenden Angriffen
ausgesetzt ist, sich vehement zu Wehr setzen würde. Um so mehr angesichts der
unübersehbaren Beweise für die in der Öffentlichkeit weit verbreitete Mißbilligung, ja
sogar Abscheu gegen die Methoden und das Thema von Starrs Ermittlungen. Vor vier Monaten
erklärte Hillary Clinton in einem bundesweit ausgestrahlten Fernsehinterview, die
Ermittlungen seien Bestandteil einer "groß angelegten rechten Verschwörung"
gegen das Weiße Haus. Ihre entsprechenden Bemerkungen stießen, wie Meinungsumfragen
ergaben, in der Öffentlichkeit auf ein großes Echo. Doch weder sie noch irgend ein
Vertreter der Regierung haben sich seither eingehender zu dieser bemerkenswerten Warnung
geäußert.
Woher rührt die politische Feigheit und Lähmung auf Seiten Clintons? Weshalb haben
sich aus der Demokratischen Partei keine Verteidiger seiner Person hervorgetan, um die
Verschwörung gegen demokratische Rechte zu entlarven, die hinter der Kampagne des
Unabhängigen Ermittlers steckt?
Ganz unabhängig von Clintons Charaktereigenschaften liegt die Antwort nicht auf
persönlichem, sondern auf politischem Gebiet. Clinton kann diese Kräfte nicht
bekämpfen, weil sie denselben Schichten der Gesellschaft entstammen, die seine eigene
Basis darstellen. Unter seiner Regierung hat sich die Demokratische Partei endgültig von
der sozialen Reformpolitik der Vergangenheit losgesagt. Und je weiter er nach rechts
rückt, um den reaktionären Forderungen des Big Business nachzukommen, desto mehr
untergraben er und die Demokraten jegliche wirkliche Massenunterstützung unter der
arbeitenden Bevölkerung.
Welche Alternative stünde Clinton eigentlich offen? Wenn er sich zur Wehr setzen
wollte, dann müßte er ungeschminkt in aller Öffentlichkeit die gesellschaftlichen
Interessen beim Namen nennen, denen die Kampagne gegen ihn dient. Doch das brächte eine
gewaltige Gefahr mit sich - es könnte eine Bewegung der Bevölkerung gegen die
ökonomische Elite entfachen, die das politische System kontrolliert und die Sozialpolitik
diktiert. Für einen bürgerlichen Politiker kommt das von vornherein nicht in Frage.
Clinton ist die Geisel eben jener Kräfte, die seine Vernichtung anstreben.
Die Polarisierung der amerikanischen Gesellschaft
Der gesellschaftliche Hintergrund der Krise der Clinton-Regierung und der zunehmenden
Angriffe auf demokratische Rechte ist eine beispiellose Anhäufung von Reichtum an der
obersten Spitze der amerikanischen Gesellschaft und eine wachsende Kluft zwischen dieser
immer besser gestellten Schicht und der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung.
Die Politik, die das amerikanische Großkapital und die Regierungen - demokratisch wie
republikanisch - in den vergangenen zwei Jahrzehnten betrieben haben, führten einen
durchgreifenden Wandel in der sozialen Struktur des Landes herbei. Die atemberaubende
Zunahme des Reichtums bei den obersten fünf Prozent des Landes basierte auf zwei
zusammenhängenden Prozessen: einem unablässigen Sperrfeuer auf die Arbeiterklasse und
einer gigantischen Aufblähung der Aktienwerte.
Der florierende Aktienmarkt der neunziger Jahre stützte sich in hohem Maße auf den
Niedergang von Lebensstandard und gesellschaftlicher Stellung der arbeitenden
Bevölkerungsmasse. Die Lohndrückerei, die Vernichtung von Arbeitsplätzen, die
Ausbreitung von Teilzeit- und Zeitarbeit, die Zerschlagung von Gewerkschaften, die
Streichung von Sozialprogrammen, die Verlagerung der Steuerlast von den Reichen auf die
Arbeitermassen, und der Abbau staatlicher Vorschriften für Unternehmen waren Bestandteile
dieser Strategie der herrschenden Klasse.
Die so geschaffene Polarisierung der Gesellschaft ist nicht nur in quantitativer
Hinsicht - in dem Sinne, daß die Kluft zwischen den Reichen und der Masse größer ist,
als je zuvor - bislang einmalig, sondern hat die Klassenstruktur der amerikanischen
Gesellschaft auch in qualitativer Hinsicht verändert.
An der Spitze haben die fest angelegten und frei verfügbaren Einkommen solche Ausmaße
erreicht, daß eine Art moderne Aristokratie des Reichtums entstanden ist. Zahlen der
britischen Finanzzeitschrift Economist zufolge gibt es in den Vereinigten Staaten
heute 170 Milliardäre gegenüber 13 im Jahre 1982. Noch bezeichnender ist, daß es
250.000 Menschen gibt, die über zweistellige Millioneneinkommen verfügen, und 4,8
Millionen Millionäre.
Der Economist stellte in seinem Kommentar fest, in welchem Ausmaß sich dieser
Bereicherungsfeldzug der obersten Schichten auf den Anstieg der Aktienwerte stützte:
"In vielen Fällen sind die Reichen reich geworden, ohne viel dafür zu tun. Ein
Amerikaner, der vor fünfzehn Jahren 500.000 Dollar in Aktien angelegt hatte und ein New
Yorker Apartment im Wert von einer weiteren halben Million sein eigen nannte, besitzt
heute fünf Millionen mehr, wenn er beides einfach nur behalten hat."
Die Millionäre und Multimillionäre stellen nur einen kleinen Anteil der
amerikanischen Bevölkerung dar, weniger als zwei Prozent. Doch was die praktische Politik
angeht, so machen sie die ganze Welt des Landes aus. Wer außerhalb dieser neuen
Aristokratie steht, dem wurde jeder politische Einfluß in den beiden Parteien des Big
Business geraubt, und der hat keine Vertretung im Kongreß oder irgend einer anderen
Institution des kapitalistischen Staates. Gleichzeitig hat der Einfluß kleiner Gruppen
von Multimillionären auf die Politik und das Personal des Staates ein Ausmaß angenommen,
das die Räuberbarone der Jahrhundertwende erblassen lassen würde.
Unterdessen stagniert das Einkommen von 90 Prozent der amerikanischen Bevölkerung oder
geht sogar zurück. Außerdem, und das steht im Zentrum der gegenwärtigen politischen
Krise, führte die soziale Polarisierung zum Zerfall der gesellschaftlichen
Mittelschichten - der gehobenen Berufsklassen, des mittleren Managements, der Techniker
und Ingenieure, der Familienfarmer, der Kleinunternehmer. Weite Teile dieser
Gesellschaftsschichten wurden proletarisiert und auf den Status von Lohnempfängern
zurückgeworfen, denen jede wirkliche Einkommenssicherheit abgeht. Eine kleine Minderheit
ist durch den explosiven Anstieg der Aktienwerte in die Reihen der Reichen aufgestiegen.
Fäulnis der bürgerlichen Demokratie
Aber eben diese Mittelschichten bilden traditionell die wichtigste gesellschaftliche
Basis für die bürgerliche Demokratie. Ihr Zerfall muß sich seinerseits im Zerfall der
demokratischen Formen und Institutionen niederschlagen, die der kapitalistischen
Herrschaft in Amerika lange Zeit als Grundlage gedient haben. Parallel dazu geht die
politische Aktivität der arbeitenden Bevölkerungsmassen allgemein zurück, was vor allem
auf das ausweglose Bündnis der Gewerkschaften mit den Demokraten zurückzuführen ist.
Diese gesellschaftlichen Prozesse bestimmen die Fäulnis der demokratischen Formen, die
in der Krise der Clinton-Regierung so deutlich zutage tritt. Die Finanzelite, die völlig
abgehoben von den breiten Massen der Bevölkerung lebt, betrachtet politische Fragen
beinahe ausschließlich unter dem Blickwinkel ihrer privaten Finanzinteressen. Die
Ausbreitung transnationaler Konzerne und die Ausstattung globaler Investoren mit Mitteln,
die den Haushalt zahlreicher Nationalstaaten übersteigen, wirkt zusätzlich der
Herausbildung eines nationalen Konsens innerhalb der herrschenden Klasse entgegen.
Der rücksichtslose Kampf jedes Moguls gegen jeden erzeugt enorme Spaltungen und
erbitterte Auseinandersetzungen in den obersten Etagen der Konzernmacht. Dieser Faktor
trägt nicht wenig zu jener Art ungezügelter politischer Kriegsführung bei, wie man sie
gegenwärtig in Washington beobachtet.
Die Aristokratie des Reichtums reagiert überaus empfindlich auf jede - tatsächliche
oder eingebildete - noch so geringe Abwendung von den unaufhörlichen Angriffen auf die
Arbeiterklasse, die den Wall-Street-Boom am Leben erhalten. Obwohl sich Clinton redlich
bemüht, den Ansprüchen dieser Elite gerecht zu werden, sieht diese eine Bedrohung in den
liberalen Neigungen, die ihm nachgesagt werden. Nicht wenige aus diesen Kreisen möchten
ihn so schnell wie möglich loswerden. Ob mit oder ohne Wahl, spielt für sie keine Rolle,
das ist nur eine Formalität.
Der aus dieser Gesamtlage entspringende politische Konflikt innerhalb der herrschenden
Klasse und die regelrechte Lähmung der Bundesregierung sind Ausdruck einer immensen Krise
der bürgerlichen Herrschaft. Keine geringe Rolle spielt dabei die Skrupellosigkeit, mit
der bestimmte Teile der herrschenden Klasse ihre eigenen, traditionellen politischen
Institutionen angreifen.
Doch in dem Maße, wie die Massen der arbeitenden Bevölkerung nicht in der Lage sind,
als unabhängige Kraft ihre eigenen demokratischen Rechte und gesellschaftlichen
Interessen zu verteidigen, behält die herrschende Klasse freie Hand, die Krise in ihrem
Sinne zu lösen. Diese Lösung wird unweigerlich die Form einer Regierung annehmen, die
noch weiter rechts steht und demokratische Rechte noch rücksichtsloser angreift, als die
bisherige.
Schließlich hatte auch Watergate und der Zusammenbruch der Nixon-Regierung zu einem
solchen Ergebnis geführt. Weil die Arbeiterklasse aufgrund der reaktionären Politik des
AFL-CIO nicht auf der Grundlage ihrer eigenen Klasseninteressen in die Krise eingriff und
sich nicht von beiden kapitalistischen Parteien lossagte, konnte die herrschende Klasse
eine neue politische Strategie entwerfen, die wenige Jahre später die Gestalt der
Reagan-Regierung annahm.
Die gegenwärtige Krise macht eine unabhängige politische Bewegung der Arbeiterklasse
noch dringender. Aus diesem Grund bemüht sich die Socialist Equality Party, die
Grundlagen für eine politische Alternative zu den bestehenden kapitalistischen Parteien
zu schaffen. Sie stützt sich dabei auf ein sozialistisches Programm zur Verteidigung der
Arbeitsplätze, des Lebensstandards, der sozialen Dienste und aller demokratischen Rechte.
Readers: World Socialist
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