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1998

Rubrik
Globales & Internationales

Dies war nur ein Anfang!

Ein Kommentar von Wilfrid Nicogossian

Zwei Jahre hat es gedauert. Zwei Jahre, bis die soziale Bewegung in Frankreich, die durch den "Funken Dezember 95" dargestellt worden war, sich in eine Flamme verwandelte. Der Kampf gegen den Plan Juppé.

{1 Der Plan Juppé war dazu bestimmt, das Defizit der Krankenkasse durch noch höhere Sozialabgaben der Arbeiter zu stopfen. Dieser Defizit existierte übrigensaufgrund von Unterschlagungen grosser Unternehmen} war massiv. Doch vor zwei Jahren lag nur wenigen Leuten das wesentliche Problem unserer Gesellschaftam Herzen : die Arbeitslosigkeit. Jeder kleinste Versuch, aus dem Rahmen, der von den reformistischen Gewerkschaften gesetzt worden war, auszubrechen,wurde schnell im Keim erstickt. Die einzige Ausnahme bildete das Programmder Studenten, welches die feste Anstellung der auf Zeit beschäftigtenArbeiter an der Uni forderte. Das war nur dank der starken Präsenz derAnarchosyndikalisten in diesem Sektor möglich. Doch heute hat sich die Situation umgekehrt. Die Bewegung der Arbeitslosenhat die institutionelle Gewerkschaftsarbeit, die aus dem paritätischen System

{2 Dieser Begriff wird im nächsten Absatz erklärt.} ein wesentlichesElement ihre gewerkschaftlichen "Aktion" macht, in Frage gestellt. Sie hat der Gesellschaft unvermeidliche Fragen gestellt: "Wer schafft die Arbeitslosigkeit? Wem kommt sie zugute?". Sie hat den Arbeitern Ideen gegeben, die dem dominanten Gerede entgegentreten ("Die Arbeitslosigkeit entsteht nicht durch die Anwesenheit von Immigranten, sondern durch die Arbeitgeberschaft!"). Ausserdem handelte es sich hier zum ersten mal um eine offensive Bewegung, die sich nicht damit zufriedengab, das Erreichte zuverteidigen, sondern zudem neue Forderungen stellte, wobei die wichtigstedabei die Forderung nach einer Erhöhung und Ausdehnung der Arbeitslosenunterstützung für alle war. In Frankreich werden die Arbeitslosengelder gemeinsam von der Arbeitgeberschaft und den Gewerkschaften in der UNEDIC verwaltet. Die Gelder werden von den Arbeitgeberbeiträgen und von den Beiträgen der Arbeitnehmer (die direkt von den Löhnen abgehalten werden) finanziert. Dieses Geld war eine Art Arbeitslosenversicherung, die den gekündigten Arbeitern zukam. Es wurde behauptet, dass das super klappte. Aber in Wirklichkeit ...Ab Ende der achtziger Jahre hatte die UNEDIC ein Defizit. Warum? Es war das Gleiche wie mit der Krankenversicherung passiert. Zunächst hatten die fünf reformistischen Gewerkschaften die Dinge gehenlassen; ihnen kamen die paritätische Verwaltung und die sich daraus ableitenden Vorteile sehr entgegen. Die Arbeitgeberschaft sah, dass sie freie Bahn hatte und zahlte immer weniger in die Kassen der UNEDIC. Am Ende fehlten mehrere Milliarden von Francs. Anstatt die Verantwortlichen zahlen zu lassen, waren es die Arbeiter, die zur Kasse gebeten wurden. Seit Anfang der neunziger Jahre nimmt die Arbeitslosenunterstützung ab: die Arbeitslosenhilfe wurde kleiner und weniger lang gezahlt. Gleichzeitig entwickelten die nacheinanderfolgenden Regierungen eine neue Art von Arbeitsstellen: prekäre Arbeitsplätze

{3 Die französische Regierung hat mehrere ausserordentliche Arbeitsverträge erfunden, z. B. die CES, bei denen der Lohn die Hälfte des offiziellen Lohnminimums beträgt; oder die "Stellen für junge Leute" (Emploi-jeunes) die maximal fünf Jahre dauern und bei denen keine Arbeitslosengeldbeiträge gezahlt werden, was bedeutet, dass die Betroffenen am Ende keine Arbeitslosenhilfe beziehen können. Die Entwicklung solcher Arbeitsverträge führt zum Verschwinden solider Arbeitsplätze und zur Verallgemeinerung vonUnsicherheit und Flexibilität.}, die weniger gut bezahlt werden und viel flexibler sind als feste Arbeitsstellen. Viele Arbeitslose waren in einer dermassen üblen finanziellen Situation, dass sie gar keine Wahl hatten. Also waren sie abwechselnd arbeitslos und mit kleinen Jobs zugange. Sie hatten mal wieder die schlechten Karten! Ende 1997 zählte Frankreich fast 10 Millionen Arbeitslose und prekär Beschäftigte. Die finanziellen Hilfen hatten weiter abgenommen, wohingegen die Zahl der prekären Stellen und Interimstellen (Aushilfestellen) sprunghaft zugenommen hatten. Die Arbeitslosengruppen stellten wenig Gewicht dar; sie zählten kaum ein paar tausend Mitglieder. Ausserdem waren sie auch ganz unterschiedlich: mit den einfachen Vereinsmitgliedern vom MNCP, den Aktivisten von AC! und den in der CGT und der APEIS{4 Die CGT ist in Frankreich die ursprüngliche Gewerkschaft. Sie wird von der kommunistischen Partei überwacht. Sie macht einen Seiltanz zwischen ihrer Mitgliedschaft bei der UNEDIC und ihren Arbeitslosengruppen. Was die APEIS betrifft, so sind ihre Führer Mitglieder der kommunistischen Partei, die zur Zeit einen Teil der Regierung bildet. Kein Wunder also, dass diese zwei Organisationen bei den nahenden Regionalwahlen die Arbeitslosenbewegung bremsen wollten.} organisierten Arbeitslosen schien die Arbeitslosenbewegung auf den ersten Blick mit grossen Handikaps behaftet. Die meisten von uns Anarchosyndikalisten machten bei AC! mit, und an einigen Stellen existierten CNT- Arbeitslosengruppen. Und doch passierte etwas: trotz der alltäglichen Strukturierungsprobleme -unter anderem Geldmangel und die Verzweiflung von Arbeitslosen - kam es zur Explosion. Die Situation veranlasste die Leute, mehr und mehr nach Aktionen zu drängen. Die Umstände waren günstig. Eine Aktionswoche, die von AC! initiert wurde und eine Mobilisierung der Arbeitslosen der CGT, um ein wenig Geld zu Weihnachten zu bekommen, verschmolzen und gaben der Bewegung Schwung. Erste Besetzungen fanden statt und die Besetzer benutzten beschlagnahmte Kommunikationsmittel (Fax, Internet), um sich gegenseitig Informationen zukommen zu lassen und um bislang aussenstehende Kameraden zum Kampf aufzurufen. Zwei Wochen lang beteiligten sich sechzig Städte an der Bewegung. In ungefähr dreissig Städten war die CNT stark am Kampf beteiligt und setzte sich dafür ein, dass das Prinzip der Allgemeinversammlung der souveränen Arbeitslosen respektiert wurde.
Wir waren so mit den Besetzungen beschäftigt, so mitgerissen von der Bewegung, dass uns nicht auffiel, dass wir sehr wenig auf der Strasse waren (obwohl es schon viel mehr war als für gewöhnlich). Als nach sechs Wochen Müdigkeit aufkam, kam uns niemand ablösen, um weiterzumachen. Ausserdem beharrten die Vereine, die der Regierung nahe stehen, darauf, dass wir "bedeutende Vorstösse" erreicht hätten (eine Milliarde Francs Nothilfe, die nach einem Monat Kampf lockergemacht worden war). So demobilisierten sie viele ihrer Mitglieder. Es wurde ruhig. Die allgemeine Aufmerksamkeit richtete sich, von den Medien geleitet, auf die anstehenden Wahlen. Die französische Arbeitslosenbewegung war vielleicht noch recht klein. Doch dieser Kampf war trotz der zahlreichen Handikaps ein erster Versuch. Viele Arbeitslose haben verstanden, dass es nichts bringt, sich auf die grossen Gewerkschaftszentralen zu verlassen. Sie haben gesehen, wie wichtig es ist, ohne Unterlass die tägliche Arbeit des Widerstandes an den Orten, an denen sich Arbeitslose aufhalten, weiterzuführen. Dank dieser Bewegung wissen nun alle Arbeitslosen, dass es uns gibt. Der Kampf geht weiter. Unser Ziel ist es, uns mit unseren Aktionen auch an die Arbeiter zu wenden und vor allem an die Sozialarbeiter. Eine Gewerkschaft ist fähig, Arbeiter und Arbeitslose zusammen zu bringen. Und eine revolutionäre Gewerkschaft ist fähig, sich an die ranzumachen, die für die miserable Situation der Arbeiter und Arbeitslosen die Verantwortung tragen! Viele Kameraden haben dies verstanden. Mehrere Arbeitslosengruppen der CGT haben sich uns angeschlossen. Strukturen mit Arbeitslosen und prekär Beschäftigten bilden sich an verschiedenen Stellen. Mit der Hilfe der Arbeiter wird die nächste Bewegung vielleicht ihr Ziel erreichen. Und wie wär's mit einer europäischen Bewegung? Es ist an uns, die Grenzen zu zerschlagen und uns für unsere Ideen einzusetzen.