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1998

Rubrik
Globales & Internationales
 

Die schwarzen Listen der Denunziation
Türkische Regierung bläst zur Offensive gegen legale Opposition

von K.RAUCHFUSS@LINK-DO.soli.de

Zeitgleich mit großangelegten Bombardierungen in den Regionen Bingöl und
Sirnak haben Regierung und Militär in der Türkei eine Generaloffensive
gegen die legale Opposition des Landes eingeleitet. Bereits seit Beginn
des Jahres führt das türkische Militär mit Unterstützung der
staatstragenden Medien eine internationale Propagandakampagne die
behauptet, die PKK sei militärisch geschlagen und kurdische Organisationen
seien politisch marginalisiert. Man brauche ihnen nur noch endgültig den
Todesstoß versetzen. Offizielle Rechtfertigung für die neuerliche
Militäroffensive, wie auch der Verfolgung der kritischen Öffentlichkeit,
bildet dabei eine Kaskade angeblicher Aussagen des in türkischer Haft
befindlichen ehemaligen ARGK-Kommandanten Semdin Sakik.

Sakik hat sich in Südkurdistan am 16. März Einheiten der KDP ergeben. In
den türkischen Medien wurde auch dieser Vorgang als ein Beleg für den
angeblichen Zerfall der PKK hochgespielt. Einzelne Zeitungen nahmen den
Frontenwechsel Sakiks zum Anlaß für die Behauptung, daß weitere
Kommandeure übergelaufen seien. Die Genannten dementierten das Gerücht
jedoch am selben Tag in einer Sendung von MED-TV und erklärten die
Hintergründe für Sakiks Verhalten. Dieser sei u.a. verantwortlich für den
Überfall auf einen Reisebus im Mai 1993 in der Provinz Bingöl, bei dem 33
unbewaffnete türkische Soldaten exekutiert worden waren. Der Überfall
bedeutete das jähe Ende eines zuvor von Abdullah Öcalan erklärten
einseitigen Waffenstillstandes. Außerdem soll Sakik rund 70 PKK-Rebellen
durch Exekution bestraft haben. Daraufhin sei er aller verantwortlichen
Posten innerhalb der PKK enthoben worden.Kaum bei den Truppen Barzanis in
Südkurdistan angekommen meldete sich Sakik in der türkischen Redaktion der
britischen BBC, um die PKK heftig zu attackieren und sich selbst als
Hardliner und "wahrer Befreiungskämpfer" zu präsentieren. Er habe
mitnichten die Flucht ergriffen, sondern sei "in mein Land, zu meinem Volk
zurückgekehrt" und genieße "bei der gastfreundlichen KDP jegliche
Bewegungsfreiheit". Leider habe er sich zu spät gegen die
"Fluchtmentalität der Führung" der PKK gewandt, die von Syrien aus den
Kampf befehlige. Öcalan habe durch seine Machtpolitik die Partei "zur
Sekte gemacht" und sich selbst "zum Scheich ausgerufen". Sakik übernahm
auch die Verantwortung für die damalige Aktion in der Region Bingöl. Zu
seiner Rechtfertigung führte er an, der Entschluß sei in einer Zeit gefaßt
worden, in der "der Feind intensive Angriffe führte, die nicht nur die
Guerilla zum Ziel hatten".

In wieweit die KDP ein Auslieferungsbegehren der türkischen Regierung
tatsächlich ablehnte oder ihre Hände bei der Entführung Sakiks in die
Türkei mit im Spiel hatte, muß vorerst als unklar bezeichnet werden.
Offiziellen Angaben zufolge flog ein türkisches Armee-Sonderkommando mit
einem Helikopter nach Dohuk im Nordirak. Die Elitesoldaten verkleideten
sich als Kurden und fingen dort das Auto Sakiks ab, nahmen ihn fest und
entführten ihn auf türkisches Gebiet. "Aktion Fledermaus" hieß die
Geheimoperation. Nun werde er wie ein "ganz normaler Terrorist" und nicht
etwa wie ein Überläufer behandelt, hieß es in Ankara.Seither hat niemand
mehr Sakik zu Gesicht bekommen. Weder Anwälte noch Familienangehörige
haben Zutritt zu ihm und seine Zelle im Gefängnis von Diyarbakir, wohin er
angeblich verlegt worden sei, ist leer.Die sogenannten "Sicherheitskräfte"
der Türkei jedoch überschwemmen die Presse mit sogenannten Enthüllungen
und Geständnissen, die der Entführte im Verhör gemacht haben soll. So
beschuldigen die staatstragenden Medien des Landes, unter Berufung auf
Sakik seither namentlich prominente MenschenrechtlerInnen, kurdische
PolitikerInnen, Zeitungen, JournalistInnen und Persönlichkeiten des
öffentlichen Lebens, wie die bekannte Popsängerin Sezen Aksu, die Ziele
der PKK unterstützt und dafür teilweise auch Geld von der PKK bekommen zu
haben.

Die regierungsnahe Tageszeitung "Sabah" berichtete unter Berufung auf den stellvertretenden türkischen Ministerpräsidenten Bülent Ecevit, der schwedische Ministerpräsident Olof Palme sei seinerzeit einem Attentat der PKK zum Opfer gefallen. "Sakik hat über das Attentat in allen Einzelheiten berichtet", wurde Ecevit zitiert.

Außerdem habe Sakik bei seinen Verhören erklärt, militante PKK-Rebellen würden in ihrem Kampf gegen die Türkei von Deutschen unterstützt. Unter der Überschrift "Deutschland bildet PKK-Militante aus" zitierte die Tageszeitung "Hürriyet" Sakik: "Die in Deutschland erpreßten Gelder werden von deutschen Kurieren zur PKK und zu ihrem Führer Abdullah Öcalan in Damaskus weitergeleitet." Deutsche hätten sich nicht nur auf die logistische Unterstützung der PKK beschränkt, sondern auch militante Mitglieder ausgebildet, hieß es weiter. Bevor Bundesanwalt Nehm die seit 1993 in Deutschland verbotene PKK nicht mehr als terroristisch einstufte, hätten deutsche Abgeordnete und Justizvertreter Öcalan in Damaskus aufgesucht. Auch medico international wurde beschuldigt, die PKK finanziell zu unterstützen.

Zwar wiesen die beschuldigten Presse-Organe sowie genannte Personen die Verleumdungen umgehend als unwahr zurück, die Konsequenzen ließen jedoch nicht lange auf sich warten. Neben der militärischen Offensive, die auf der angeblichen Preisgabe von Informationen über die Lokalisation von Stellungen der ARGK basiert, setzte die vorprogrammierte Verfolgungslawine gegen die zivile Opposition ein. Die sogenannten "Sicherheitsbehörden" haben erklärt, sie konzentrierten nun ihr Vorgehen gegen die PKK im Lichte der Aussagen Sakiks auf die von ihm genannten Ziele.

Dabei hatten der dennunzierte Kolumnist der Zeitung Sabah, Mehmet Ali Biran, noch fast Glück - er verlor lediglich seinen Arbeitsplatz. Auch Akin Birdal, der Vorsitzende des Menschenrechtsvereines IHD war durch vermeintliche Aussagen Sakiks als Unterstützer der Arbeiterpartei Kurdistans belastet worden, bevor er am 12. Mai Opfer eines Anschlages rechtsradikaler Todesschwadronen wurde (vgl. Arikel auf S.x). Wenige Tage zuvor entging Dicle Anter der Sohn des ebenfalls ermordeten Autors Musa Anter nur knapp einem Attentat.

In den angeblichen Geständnissen Sakiks sind außer Birdal und dem IHD auch
die Tageszeitungen Ülkede Gündem und Emek sowie die "Samstagsmütter", die
seit über drei Jahren jede Woche gegen die Verschleppung und Ermordung
ihrer Söhne und Töchter protestieren, die Gewerkschaft KESK und die
prokurdische Partei HADEP der Unterstützung der PKK beschuldigt worden.Der
Druck auf HADEP, die bereits seit ihrem Bestehen staatlicher Verfolgung
ausgesetzt ist und derzeit in einem Schauprozeß gegen ihre Parteispitze
vor dem Staatssicherheitsgericht in Ankara dem Verbot der Partei
entgegensieht, hat sich seit den Aussagen Sakiks weiter verschärft. Am 22.
Mai wurden mehrere Parteibüros durchsucht und 16 Personen verhaftet. Als
die Attentäter Akin Birdals auf öffentlichen Druck hin schließlich
verhaftet wurden, gestanden sie, auch einen Anschlag auf den ebenfalls als
Menschenrechtsanwalt bekannten HADEP-Vorsitzenden aus Istanbul, Mahmut
Sakar, vorbereitet zu haben.

Anfang Mai griff die Polizei in Istanbul auch die "Samstagsmütter"  an.
Diese hatten zum 156. Mal für ihre in Polizeihaft "verschwundenen"
Angehörigen demonstrieren wollen, als sie von Polizeieinheiten überfallen,
geschlagen und festgenommen wurden.Es ist viel darüber diskutiert worden,
ob die ihm zugeschriebenen "Enthüllungen" tatsächlich von Sakik stammen.
Zumindest eines läßt sich feststellen: hätte dieser freiwillig ausgesagt,
wäre es ein gefundenes Fressen für die türkischen Propagandisten, den
ehemaligen ARGK-Kommandanten auf einer öffentlichen Pressekonferenz zu
präsentieren. Die Tatsache, daß dies nicht geschieht und daß keine der
angeblich neuen Informationen über das bisher von der türkischen
Propaganda Behauptete hinausgeht, spricht eher eine gegenteilige Sprache.
Doch genaugenommen ist es unerheblich, wer die Sakik zugeschriebenen
Propagandalügen wirklich in die Welt setzt. Sie dienen der Legitimation
einer erneuten gigantischen Militäroffensive gegen die kurdische
Bevölkerung und der Denunziation der zivilen Opposition, v.a. im Westen
der Türkei und im europäischen Ausland.

Als die vermeindlichen Angaben Sakiks, wonach der schwedische Ministerpräsident Olof Palme 1986 einem Attentat der PKK zum Opfer gefallen sei, ihren gewünschten Effekt in Schweden nicht erzielten, trat die türkische Regierung den Rückzug an. Die türkische Tageszeitung "Milliyet" zitierte Ministerpräsident Mesut Yilmaz mit den Worten, Sakik habe seine Aussage gegenüber der Staatsanwaltschaft jüngst wieder geändert. Die schwedischen Behörden seien über die veränderte Lage informiert worden.
Die übrigen Denunziationen jedoch werden weiterhin öffentlich vertreten. Die Beschuldigten haben die Konsequenzen zu tragen. Und das heißt weiterhin massenhafter Mord an der kurdischen Bevölkerung und eine Verschärfung der Verfolgung all jener Menschen, die sich in der Türkei für eine friedliche Lösung des Konfliktes aussprechen.

Knut Rauchfuss