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1998

Rubrik
Faschismus
Rassismus
Neue Rechte
aus: ak 415 vom 5.6.1998
ak - analyse & kritik
Zeitung für linke Debatte und Praxis

ak-redaktion@cl-hh.comlink.de

Braune Socken
Nach der Wahl in Sachsen-Anhalt


Das Ergebnis von 12,9% für die DVU bei der Landtagswahl in
Sachsen-Anhalt am 26. April zeigt, daß der Rechtsextremismus
nun auch auf der Wahlebene in der Ex-DDR angekommen ist. An-
gesichts des evidenten großen rechtsextremen Stimmungspoten-
tials ist nur verwunderlich, daß es bis zu diesem keineswegs
sensationellen Wahlergebnis so lange gedauert hat.
Bei der ersten Landtagswahl in Sachsen-Anhalt 1990 waren
Republikaner und NPD zusammen auf 0,8% gekommen. Mit Ein-
schränkung kann diesem Spektrum auch die DSU zugerechnet wer-
den, die es auf 1,7% brachte. 1994 stimmten 1,2% für die Re-
publikaner, weitere 0,2% für die DSU.
Diese Ergebnisse entsprachen dem bisherigen Trend in der
gesamten Ex-DDR. Die Republikaner schafften 1994 bei den
Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen gerade mal 1,3%, in
Brandenburg 1,1% und in Mecklenburg-Vorpommern sogar nur 1%.
Die Strukturen der REPs ebenso wie der NPD und der DVU waren
im Osten so schwach entwickelt, daß sie zu den meisten Kommu-
nalwahlen überhaupt nicht antraten und nirgends einen Erfolg
verzeichnen konnten.

Voreilige Entwarnung

Daß sich in diesen Zahlen auch nicht annähernd der reale Ein-
fluß rechtsextremer Stimmungen in der ex-DDR widerspiegelte,
stand niemals in Zweifel. Hoyerswerda (September 1991) und
Rostock-Lichtenhagen (August 1992) stehen für tagelange ge-
walttätige Ausbrüche eines rassistischen Massenwahns, der in
diesem Ausmaß keine Parallele in den westlichen Bundesländern
hatte. 1992 brachte in West- und Ostdeutschland einen schlim-
men Rekord an rechtsextremen Gewalttaten, vor allem gegen
Ausländer, wovon ein bei weitem überproportionaler Anteil auf
die Ex-DDR entfiel. Außerdem trat die spezifische Form dieser
Gewalttaten als öffentliche Bandenangriffe, die mitunter an
mehreren Tagen hintereinander erfolgten, fast nur in den öst-
lichen Bundesländern auf. Im Westen überwogen Brandanschläge
und Überfälle auf Einzelpersonen.
Auf den Anschlag von Mölln (23. November 1992) folgten im
Dezember in vielen Großstädten die Lichterketten als einmali-
ge, folgenlose kollektive Entladung des guten Gewissens. Wie
oberflächlich und absurd dieses Unternehmen war, wird daran
deutlich, daß die SPD überhaupt keine Schwierigkeiten mit
ihrer Klientel bekam, als sie genau zeitgleich mit den Mord-
anschlägen und mit den Lichterketten auf die fast vollständi-
ge Liquidierung des deutschen Asylrechts umschwenkte.
Das Ergebnis war, daß die Zahl der "Asylbewerber", d.h.
der nach Deutschland hereingelassenen und zum Asylverfahren
zugelassenen Flüchtlinge, von rund 440.000 im Jahr 1992 auf
nur noch 104.000 im vergangenen Jahr heruntergedrückt wurde.
Gleichzeitig trat vorübergehend eine Minderung der gewalttä-
tigen Virulenz des deutschen Rassismus ein. Die Zahl der amt-
lich registrierten ausländerfeindlichen Straftaten ging von
2.277 im Rekordjahr 1992 auf 860 im Jahr 1995 zurück. Auf der
Wahlebene sind die Republikaner als stärkste Partei des
rechtsextremen Spektrums seit 1994 mit abnehmenden Ergebnis-
sen konfrontiert. Sie verpaßten am 12.6.94 den für sicher ge-
haltenen Wiedereinzug ins Europa-Parlament und fielen von 7,1
auf 3,9%. Auch in Bayern, neben Baden-Württemberg ihr Stamm-
land, scheiterten die Republikaner bei der Landtagswahl am
25.9.94 klar an der 5-Prozent-Klausel. Der erzwungene Rück-
tritt Schönhubers im Dezember 1994 leitete eine Phase der in-
nerparteilichen Agonie der REPs ein.
Nach der Devise "Der Zweck heiligt die Mittel" gaben man-
che sozialdemokratischen Politiker und Soziologen diese Ent-
wicklung als Erfolg ihres Zusammengehens mit der CDU/CSU in
der Asylpolitik aus. Speziell hinsichtlich der neuen Bundes-
länder erschienen 1994-96 mehrere sozialliberal inspirierte
Untersuchungen, in denen ein signifikanter Rückgang rechtsex-
tremer Einstellungen unter ostdeutschen Jugendlichen behaup-
tet und daraus gleich eine entscheidende Tendenzwende kon-
struiert wurde. So hieß es beispielsweise in einer Studie
über "Jugendliche in den neuen Bundesländern": "Sehr stark
zurückgegangen ist die Angst vor einer weiteren Einwanderung
von Ausländern (von 51 Prozent auf 30 Prozent); diese klare
Tendenz spricht für die an anderer Stelle festgestellte er-
hebliche Abnahme der Ausländerfeindlichkeit." - In der glei-
chen Studie wurde behauptet, der Anteil der Jugendlichen mit
Rechtsaußen-Positionen hätte sich in den letzten beiden Jah-
ren nahezu halbiert. (Förster/Friedrich, Beilage zur Zeit-
schrift "Das Parlament", 19/96)
Dabei wurde grundsätzlich verkannt, daß solche Einstel-
lungen, anders als das schnell wechselnde Wahlverhalten und
äußerliche Modeerscheinungen, im allgemeinen sehr stabil sind
und sich allenfalls langfristig ändern können. In dieser
Sichtweise stellte sich der spezifische ostdeutsche Rechtsex-
tremismus als eine spontane (Über-) Reaktion auf die uner-
wünschten Begleiterscheinungen der deutschen Einheit dar,
ohne tiefere gesellschaftliche und bewußtseinsmäßige Wurzeln.
Damit eng verbunden war die These, daß (Mitte der 90er Jahre)
wirtschaftlich und sozial der Tiefpunkt in den neuen Bundes-
ländern bereits überschritten sei und daß im Zuge der sich
beschleunigenden Normalisierung der Rechtsextremismus immer
mehr an Bedeutung verlieren würde. Das war schon von den ma-
teriellen Voraussetzungen her falsch und entsprach durch und
durch der vorherrschenden Tendenz, sich die Verhältnisse gna-
denlos schön zu lügen.

Aufschwung Ost

Seit 1996 steigt die amtlich erfaßte Zahl der "Straftaten mit
rechtsextremistischem Hintergrund" wieder steil an, und zwar
im Osten weitaus stärker als im Westen. Gemessen an der Ein-
wohnerzahl werden im Gebiet der Ex-DDR fast viermal so viele
rechtsextreme Gewalttaten begangen wie in den alten Bundes-
ländern. In Ostdeutschland hat sich in den letzten Jahren
eine breite rechtsextreme "Jugendkultur" entwickelt, die (mit
örtlichen und regionalen Unterschieden) vermutlich bis zu
einem Drittel aller Jugendlichen umfaßt. Es gibt dazu weder
in Westdeutschland noch im übrigen Europa - möglicherweise
mit Ausnahme Rußlands - eine Parallele.
In demoskopischen Analysen deutete sich schon vor einigen
Monaten an, daß sich diese Entwicklung wahrscheinlich in
Sachsen-Anhalt erstmals auch im Wahlergebnis ausdrücken wür-
de. Allerdings gaben die veröffentlichten Prognosen der DVU
nicht mehr als 6 Prozent, wiesen also eine in der Geschichte
der Demoskopie einmalig hohe Fehlerquote von mehr als 100
Prozent auf. Bekanntermaßen liegen Umfragezahlen bei den
rechtsextremen Parteien immer erheblich unterhalb der realen
Ergebnisse, weil viele potentielle Rechtsaußen-Wähler nicht
ehrlich antworten oder sich über ihre Wahlentscheidung viel-
leicht wirklich noch nicht sicher sind. Die Demoskopen versu-
chen, diesen verfälschenden Effekt durch Zusatzfragen zu kor-
rigieren, doch bleiben sie dabei zwangsläufig im Bereich der
Spekulation.
Im Fall Sachsen-Anhalt kam hinzu, daß die Umfrageergeb-
nisse erst in den letzten Wochen vor der Wahl eine steil an-
steigende Tendenz zugunsten der DVU aufwiesen. Diese Zahlen
wurden nicht mehr veröffentlicht, um keine zusätzliche Wir-
kung zugunsten der DVU auszulösen. ("Spiegel" 19/1998). Der
Befund deutet darauf hin, daß sich ein erheblicher Teil der
DVU-Wähler, vielleicht sogar ungefähr die Hälfte, erst kurz-
fristig definitiv entschieden hat.
Dies unterstreicht noch einmal die Feststellung, daß zwar
rechtsextreme Einstellungen im allgemeinen relativ stabil
sind, aber rechtsextremes Wahlverhalten sehr starken Schwan-
kungen unterliegt, so daß das eine nur sehr beschränkt und
mit Vorbehalt Rückschlüsse auf das andere zuläßt. In der Re-
gel ist das rechtsextreme Meinungs- und Stimmungspotential
erheblich größer als die Zahl rechtsextremer Wählerstimmen.
Oder anders gesagt: Der größte Teil des rechtsextremen Poten-
tials wählt in der Regel eine nicht rechtsextreme Partei oder
beteiligt sich nicht an der Wahl. Das gilt besonders für die
Bundestagswahl und kann sich bei Wahlen, die als nicht so
wichtig gelten, z.B. Europawahl oder auch Landtagswahlen,
verschieben.
Nach einer Analyse der CDU-eigenen Adenauer-Stiftung hat-
ten etwas mehr als die Hälfte der DVU-Wähler in Sachsen-An-
halt sich 1994 nicht an der Landtagswahl beteiligt. Weitere
7% sollen Erstwähler gewesen sein, 13% ihrer Wähler habe die
DVU von der CDU und je 6% von der SPD und PDS geholt. (FAZ,
15.5.)
Bisherige Nichtwähler stellten also mit Abstand das
stärkste Potential der DVU dar. Bekanntermaßen weisen Gebie-
te, in denen die rechtsextremen Parteien relativ gut ab-
schneiden, überwiegend niedrige Wahlbeteiligungen auf. Außer-
dem haben diese Parteien gelegentlich bei Wahlen mit beson-
ders niedriger Wahlbeteiligung, wie beispielsweise der Euro-
pawahl 1989, überdurchschnittlich gut abgeschnitten. Das hat
einige Schlaumeier in den etablierten Parteien zu dem Trug-
schluß verleitet, niedrige Wahlbeteiligungen kämen generell
den Rechtsextremen zugute. Praktische Folge dieses Irrtums
war, daß sogar Werbekampagnen geschaltet wurden, um unter dem
Motto der "staatsbürgerlichen Pflicht" für eine hohe Wahlbe-
teiligung zu trommeln.
Tatsächlich haben relativ hohe Stimmenzahlen für die
Rechtsextremen und niedrige Wahlbeteiligung oft gemeinsame
Voraussetzungen: überdurchschnittliche Anteile von Menschen
mit niedrigem sozialen Status, geringer Schulbildung sowie
von Jugendlichen bzw. Menschen in der Altersgruppe bis 30.
Und was den Hinweis auf die Europawahl angeht: Im allgemeinen
ist die Wahlbeteiligung um so niedriger, je weniger prakti-
sche Bedeutung der jeweiligen Wahl beigemessen wird, und in
dieser Hinsicht rangieren Europawahlen am Ende der Werteska-
la. Zugleich nimmt mit sinkender Bedeutung aber auch die Be-
reitschaft zu, abweichend vom sonstigen Wahlverhalten die
Stimme an eine "Splitterpartei" am Rande des Parteienspek-
trums zu vergeben.
Zu einem erheblichen Anteil ist Nicht-Wählen offenbar
Folge eines Zusammentreffens von niedrigem politischem und
geistigem Horizont einerseits sowie starker Unzufriedenheit
mit den Verhältnissen andererseits, nach dem sachlich völlig
zutreffenden Motto: "Die da oben machen ja doch, was sie wol-
len, und wir müssen's ausbaden." - Nach aller bisherigen Er-
fahrung sind rechtsextrem Eingestellte unter den Nichtwählern
so stark überrepräsentiert, daß Kampagnen zur Hebung der
Wahlbeteiligung in erster Linie den rechtsextremen Parteien
zugute kommen.

Schnittmenge DVU-PDS

Den Wahlanalysen zufolge haben insgesamt ungefähr 12% der
DVU-Wähler in Sachsen-Anhalt vor vier Jahren für SPD oder PDS
gestimmt. Die seltsame Mischung von Positionen, Vorurteilen
und Motiven bei vielen DVU-Wählern drückt sich in dieser Zahl
aber viel zu schwach aus. Da rund 60% der DVU-Wähler sich
1994 gar nicht an der Wahl beteiligten (Nicht- und Erstwäh-
ler) kann man zunächst über deren politische Präferenzen we-
nig sagen; tatsächlich könnte vielleicht ein hoher Anteil von
ihnen tendenziell auch zu einer Stimmabgabe für SPD oder PDS
bereit sein.
Ein guter, zuverlässiger Anhaltspunkt ist dadurch vorhan-
den, daß die DVU keine Direktkandidaten aufgestellt hatte.
Jeweils fast ein Viertel der DVU-Wähler vergab seine Erst-
stimme an die PDS und an die SPD. Bedenkt man, daß eine radi-
kale, militante anti-linke Positionierung eigentlich zum
klassischen Inventar jeder rechtsextremen Partei gehört, muß
dieses Ergebnis wohl als außerordentlich und erklärungsbe-
dürftig bezeichnet werden. In diesem Zusammenhang ist auch
daran zu erinnern, daß in Hoyerswerda im Juni 1994, nur zwei-
einhalb Jahre nach den rassistischen Krawallen, ein PDS-Kan-
didat mit 42% zum Bürgermeister gewählt wurde.
Was die Verklettung von rechtsextremen und linken bzw.
"staatssozialistischen" Versatzstücken und Motivationen in
der Ex-DDR angeht, gibt es, zumindest vordergründig, Ähnlich-
keiten zur Situation in Rußland. Allerdings mit der wesentli-
chen Einschränkung, daß die PDS, im Gegensatz zu verschiede-
nen russischen KPs, diese Entwicklung nicht durch Zugeständ-
nisse an rechtsextreme Vorstellungen, eigene politisch-ideo-
logische Konfusion und "rot-braune" Aktionseinheiten ermu-
tigt. Das gilt, muß man gleich wieder einschränken, auf zen-
traler und programmatischer Ebene, nicht aber unbedingt und
in jedem einzelnen Fall in der Kommunalpolitik.
Der schon zitierten Wahlanalyse zufolge haben in Sachsen-
Anhalt 29% der Erstwähler (18 bis 21 Jahre) für die DVU vo-
tiert; nimmt man allein die männlichen Jugendlichen dieser
Altersgruppe, sollen es sogar fast 34% gewesen sein. Das ver-
anlaßte einen Kommentator der "Jungen Welt" am 28. April zu
einer eigenwilligen Variation der beliebten Theorie von der
Gnade der späten Geburt: "Das sind junge Leute, die zur 'Wen-
de' des Jahres 1989 zehn Jahre alt waren. Für das, was sie
tun, kann man DDR-Lehrer oder -Pionierleiter schlechterdings
nicht mehr verantwortlich machen."
Ein Irrtum durch und durch: Erstens ist der DVU-Anteil in
der Gruppe der 25-30jährigen auch nicht wesentlich niedriger.
Zweitens offenbart es, unter anderem, ein grundsätzliches Er-
ziehungsdefizit, wenn ein Jugendlicher seinen Frust über die
sozialen Verhältnisse mit - allzu oft sogar gewalttätigem -
Haß auf "Fremde", rassistischen Vorurteilen, Nazi-Sprüchen
usw. abreagiert. Daß die jüngsten der DVU-Wähler erst 9 Jahre
alt waren, als sie aus der Obhut der DDR-Erziehung entlassen
wurden, befreit die DDR keineswegs von Mitverantwortung. Au-
ßerdem hatten diese Kinder Eltern, die ihrerseits in der DDR
aufgewachsen waren. Nur zeigen leider Untersuchungen, daß
sich die Altersgruppen in Ostdeutschland zwar im Wahlverhal-
ten erheblich, aber in den grundsätzlichen Auffassungen nur
wenig unterscheiden. Eine Mitte März im Auftrag der PDS
durchgeführte Umfrage ergab, daß der zentrale Wahlkampfslogan
der DVU, "Deutsche Arbeitsplätze für Deutsche", im Gebiet der
Ex-DDR von 60 Prozent unterstützt wurde; das sind doppelt so-
viel wie in den alten Bundesländern. (jw, 21.4.98)
Dies erklärt, zumindest teilweise, den Befund, daß sich
laut Untersuchungen in der Ex-DDR Kinder und Jugendliche mit
ihren Eltern im allgemeinen besser verstehen, bzw. sich ge-
genseitig tolerieren als die vergleichbaren Altersgruppen im
Westen. Rechtsextrem eingestellte Jugendlichen akzeptieren
oft den ganz anders gearteten Lebenslauf ihrer Eltern zu DDR-
Zeiten, und anscheinend auch umgekehrt. Demzufolge muß in
einer Familie, wo die Eltern PDS und die Kinder DVU wählen,
nicht unbedingt ewiger Zoff und Fäusteschwingen herrschen.
Dafür mag zum einen die auf den ersten Blick paradoxe, aber
nachgewiesene Tatsache verantwortlich sein, daß in der DDR im
privaten Bereich eine Kultur der gegenseitigen Toleranz vor-
handen war. Offenbar spielt aber auch eine Rolle, daß es zwi-
schen den Generationen (und politischen "Standorten") gemein-
same Ansichten und Verhaltensmuster gibt, die auf die Erfah-
rungen und Wertvorstellungen der DDR zurückgeführt werden
können.
Der freundliche Hinweis, daß es Rechtsextremismus und
Ausländerfeindlichkeit nicht nur in Ostdeutschland, sondern
auch im Westen gibt, ist selbstverständlich richtig. Er
weicht aber der interessanten Fragestellung aus, warum diese
Dinge nach 50 Jahren Realsozialismus
im Osten erheblich stärker anzutreffen sind als im Westen.
Die vor allem von der PDS immer wieder strapazierte, vorder-
gründig sachlich richtige Schuldzuweisung an die Bonner Poli-
tik - sie habe 1. große Teile der ex-DDR-Bevölkerung in die
Perspektivlosigkeit getrieben und 2. die rassistische Politik
überhaupt erst "hoffähig" gemacht - ist höchstens die halbe
Wahrheit. Der erste Punkt macht als Argument nur Sinn, wenn
man unterstellt, daß Ausländerfeindlichkeit eine naturgemäße,
geradezu zwangsläufige Reaktion auf eine eigene Notlage ist.
Zum zweiten Punkt: Den meisten rechtsextrem gestimmten Ju-
gendlichen in der Ex-DDR ist es vermutlich scheißegal, ob ir-
gendetwas, was sie tun, aus Sicht der Westparteien "hoffähig"
ist. Im Gegenteil: Aus ihrer Sicht stellen Rassismus, Nazi-
Sprüche usw. eine radikale Form des Protestes und nicht etwa
einen Ausdruck von konformistischem Wohlverhalten dar.

"Unkalkulierbare Spontaneität"

In der zitierten Untersuchung der Konrad-Adenauer-Stiftung
wird behauptet, das Wahlergebnis von Sachen-Anhalt sei "das
Ergebnis von unkalkulierbarer Spontaneität und Protest.
Rechtsradikale Motive waren nahezu ohne Bedeutung." (nach
FAZ, 15.5.98) - Das kam man wohl nur noch als lustige Einlage
werten. Diese Ignoranz steht in der Linie einer deutschen Be-
amtenmentalität, die nach rechtsextremen Gewalttaten lako-
nisch verkündet: "Ein politischer Hintergrund ist nicht zu
erkennen", und die sich in dieser Auffassung nicht einmal
durch offen zur Schau getragene NS-Symbole irre machen läßt.
Sachsen-Anhalts alter und neuer Regierungschef Höppner
meinte zum Abschneiden der DVU, viele ihrer Wähler hätten
"nicht realisiert, daß das eine schlimme rechtsradikale Par-
tei ist". (nach ND, 28.4.98) Diese Deutung impliziert, daß
für viele Bewohner von Sachsen-Anhalt ausländerfeindliche Pa-
rolen so stinknormal und selbstverständlich sind, daß sie sie
nicht als rechtsextreme Propaganda zu erkennen vermögen. Das
mag für einige zutreffen, aber in erster Linie drückt das
Wahlergebnis der DVU einen hohen Bekanntheitsgrad dieser Par-
tei aus. Das beinhaltet, daß ein Großteil der Bevölkerung
ihre zentralen Aussagen und Parolen kennt, und daß die mei-
sten auch mitbekommen haben, daß diese Gruppierung von den
übrigen Parteien und den Medien als rechtsradikal bezeichnet
wird.
Der Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern, Ring-
storff, kommentierte, "daß nicht alle DVU-Wähler in Sachsen-
Anhalt rechtes Gedankengut vertreten, sondern in erheblichem
Maße Protest zur herrschenden Politik dokumentierten". (nach
ND, 29.4.98) - Das mag im Einzelfall zutreffen, doch im all-
gemeinen wählt man eine extreme Partei auch "aus Protest" nur
dann, wenn man sich zumindest teilweise in ihren Aussagen und
Parolen wiederfindet. Daß dies für den zentralen Diskurs der
DVU tatsächlich der Fall ist, zeigt die schon erwähnte Zu-
stimmung von mehr als der Hälfte aller Ostdeutschen zu natio-
nalistischen Slogans wie "Deutsche Arbeit für Deutsche". In
Umkehrung der Aussage von Ringstorff ist festzustellen, daß
keineswegs alle Nicht-Wähler der DVU kein rechtes bzw.
rechtsextremes Gedankengut vertreten, sondern daß dieses sehr
viel weiter verbreitet ist, als im Wahlergebnis der DVU
sichtbar wird.
Daß sich in diesem Wahlverhalten auch Protest gegen die
wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in der Ex-DDR und
gegen die herrschende Politik ausdrückt, stellt dazu keinen
Widerspruch dar. Die etablierten Parteien haben dem rechtsex-
tremen Potential in Ostdeutschland nur ihr Ideal des angepaß-
ten Spießers und Normalbürgers entgegenzusetzen: Der ist zwar
auch mal unzufrieden, meckert gern über alles und jedes, regt
sich über eine Ungerechtigkeit drei Minuten lang auf und ver-
gißt sie dann gleich wieder, hält "die in Bonn" für unfähig
zur Lösung der großen Probleme des Landes, wählt sie aber
trotzdem regelmäßig immer wieder, und wechselt höchstens mal,
wenn er wirklich sehr vergrätzt ist, von der CDU zur SPD oder
umgekehrt oder wählt grün. Eine Regierung, die vor dem Hin-
tergrund einer Rekordarbeitslosigkeit in diesem Frühjahr eine
Werbekampagne schaltet, in der es heißt: "Neue Arbeitsplätze
- Firmen stellen ein - Aufschwung greift. Geschafft: Wir sind
auf gutem Weg" stellt eine so unglaubliche Provokation dar,
daß man nur immer wieder staunen kann, mit welchem Gleichmut
der Normalbürger sie über sich ergehen läßt. Politisch leben
wir in einer Kultur der offensichtlichen Lüge, der demonstra-
tiv ausgestellten Selbstgefälligkeit und der Scheinheilig-
keit, der die Apathie und Oberflächlichkeit des Normalbürgers
entspricht und Vorschub leistet. Die Parteitage von SPD und
CDU gestalten sich gleichförmig zu einem Mix aus traditionel-
len SED-Klatschmärschen und amerikanischen Show-Einlagen.
Eine ganze Branche lebt davon, daß sie den Reichen völlig le-
gal hilft, ihre Gewinne und Vermögen an der Steuer vorbei zu
lavieren. Gleichzeitig macht beispielsweise im "rot-grün" re-
gierten Hamburg die Polizei auf dem Dom Jagd auf Menschen aus
dem alleruntersten sozialen Bereich, die sich durch Hilfsar-
beiten ein paar Mark zum Leben verdienen und deswegen als
"Sozialbetrüger" gelten.
Aufgabe der Linken müßte es sein, den Protest gegen diese
Verhältnisse zu formulieren und zusammenzufassen, und zwar
nicht nur als Protest gegen Einzelerscheinungen, sondern ins-
gesamt gegen die in Deutschland herrschende politische und
wirtschaftliche Kultur. Antikapitalismus ist kein Wesensmerk-
mal des Rechtsextremismus, auch wenn dieser ihn gelegentlich
für sich in Anspruch nimmt. Und der Satz, die Beteiligung an
Wahlen müsse in erster Linie dazu führen, vor den Massen dar-
zulegen, warum die herrschenden Parlamente es verdienen, aus-
einandergejagt zu werden, stammt weder von Schönhuber noch
Frey, sondern von Lenin.

Kt.