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1998

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Regionalbüro Friedenszug "Musa Anter"
 
                                                            12.05.1998
Eilige Presseerklärung

Türkei: Attentat auf Vorsitzenden des Menschenrechtsvereines
 

Wie heute Mittag aus Ankara bekannt wurde, fiel der Vorsitzende des türkischen
Menschenrechtsvereines IHD, Akin Birdal, in seinem Büro einem Attentat zum
Opfer.
Nach Aussagen von Augenzeugen betraten zwei junge Männer unter dem Vorwand,
Angehörige politischer Gefangener zu sein, die Räumlichkeiten des
Menschenrechtsvereines und baten um ein Gespräch mit Herrn Birdal. Da dieser
gerade beschäftigt war, verschafften sie sich mit Gewalt Zutritt zu seinem Büro
und feuerten acht Schüsse auf den Menschenrechtsanwalt ab. Sechs Schüsse trafen
ihn in Schulter, Bein, Brustkorb und Leber.
Die beiden Attentäter konnten ungehindert entkommen. Trotz zahlreicher
Zeugenaussagen und detaillierter Personenbeschreibungen wurden sie bisher nicht
gefaßt.
Blutüberströmt wurde der Schwerverletzte in ein Krankenhaus der Hauptstadt
eingeliefert und dort einer Notoperation unterzogen. Nach Angaben der
behandelnden Ärzte wurden mehrere große Blutgefäße durch die Schüsse verletzt,
so daß ein durch den Blutverlust ausgelöster Kreislaufschock zu einem
vorübergehenden Herzstillstand führte. Obgleich die Herz-Kreislauffunktionen
wiederhergestellt werden konnten, befindet sich Akin Birdal nicht außer
Lebensgefahr. Ebenfalls unklar ist, wie lange die Durchblutung des Gehirns
gestoppt war und ob er das Bewußtsein jemals wiedererlangen wird.
Unterdessen gingen nach Informationen eines Parlamentsabgeordneten der CHP
Bombendrohungen bei der Verwaltung des Krankenhauses ein, in dem Birdal
versorgt wird.

Propagandistisch war das Attentat in den vergangenen Wochen bereits
medienwirksam vorbereitet worden. Zeitungen wie Hürriyet, Milliyet und Sabah
hatten unter Berufung auf angebliche Aussagen des inhaftierten ehemaligen
Führungsmitgliedes der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK), Semdin Sakik, das
Gerücht verbreitet, Birdal werde von der PKK finanziert und erhalte seine
Anweisungen unmittelbar aus deren Hauptquartier in Syrien. Neben Birdal werden
derzeit täglich weitere Angehörige demokratischer Institutionen,
Organisationen, Vereine und Parteien, sowie Personen des öffentlichen Lebens
mit neuen, angeblich von Sakik stammenden Enthüllungen diffamiert.

Akin Birdal repräsentiert als Vorsitzender des Menschenrechtsvereines das noch
verbliebene moralische Gewissen eines Landes, in dem die demokratische
Opposition tagtäglich Opfer von willkürlichen Verhaftungen und Folter wird, in
dem Menschen am hellichten Tag auf der Straße verschwinden oder  von
sogenannten "unbekannten Tätern" kaltblütig ermordet werden. Der
Menschenrechtsverein IHD hat sich stets auf die Seite der Opfer gestellt, und
auch Akin Birdal wußte, was dies bedeutet. Öffentliche Diffamierungen und
Todesdrohungen waren für ihn nie ein Grund, seine Arbeit aufzugeben. Noch im
vergangenen Jahr gehörte Birdal zu den UnterstützerInnen des Friedenszuges
"Musa Anter", der eine sofortige Beendigung des Krieges gegen die kurdische
Bevölkerung forderte.

Zur Stunde haben sich zahlreiche Menschen in Ankara vor dem Krankenhaus
versammelt. In Sprechchören klagen sie die türkische Regierung an, die
Verantwortung für das Attentat zu tragen. Erst im vergangenen Jahr wurden nach
einem Verkehrsunfall die Beziehungen zwischen Regierung, Militär und
organisiertem Verbrechen bekannt. Auch die Existenz von staatlich organisierten
Todesschwadronen ist längst bewiesen. Nach den Diffamierungen der letzten
Wochen, muß davon ausgegangen werden, daß es sich auch bei dem Attentat gegen
Akin Birdal um einen staatlichen Auftragsmord handelt.

Das Regionalbüro Friedenszug "Musa Anter" nimmt das Attentat gegen Akin Birdal
zum Anlaß, nicht nur die tiefe Trauer über das Schicksal eines guten Freundes
und selbstlosen Menschenrechtsaktivisten öffentlich kundzutun. Wir erneuern
darüber hinaus unseren Protest gegen die unerträglichen Zustände in der Türkei
und fordern die europäische Öffentlichkeit auf, nicht länger schweigend
zuzusehen, wie dort Menschenrechte und Menschenwürde mit den Füßen getreten
werden.


Medizinische Flüchtlingshilfe Bochum e.V.
Regionalbüro Friedenszug "Musa Anter"

gemeinsame Pressemitteilung
                                                            12.05.1998
 

Türkischer Menschenrechtler noch nicht außer Gefahr
Ärztedelegation der IPPNW und der Medizinischen Flüchtlingshilfe Bochum fliegt
nach Ankara

Nach den Schüssen auf den Vorsitzenden des türkischen Menschenrechtsvereines
IHD ist eine Welle der Entrüstung über Europa hereingebrochen. Gestern Mittag
hatten zwei Attentäter der in der Türkei operierenden rechtsradikalen
Todesschwadronen den prominenten Menschenrechtler Akin Birdal mit sechs
Schüssen lebensgefährlich verletzt (vgl. gestrige Presseerklärung des
Regionalbüro Friedenszug "Musa Anter"). In den vergangenen Jahren wurden
bereits zahlreiche demokratische Oppositionelle, insbesondere in Kurdistan,
durch die zumeist in staatlichem Auftrag agierenden Kommandos hingerichtet.
Nach Auskünften der behandelnden Ärzte hat Birdal zwar mittlerweile das
Bewußtsein wiedererlangt, die Gefahr für sein Leben ist jedoch bisher nicht
gebannt. Auch steht das Privatkrankenhaus, in dem der Menschenrechtler
behandelt wird, unter massivem Druck. Die sogenannte "Türkische Rachebrigade",
die sich zu dem Anschlag bekannt hat, versuchte am gestrigen Nachmittag, die
Krankenhausleitung mit Bombendrohungen einzuschüchtern und eine angemessene
Versorgung Birdals zu verhindern.
Auf Initiative der Medizinischen Flüchtlingshilfe Bochum e.V. und der deutschen
Sektion der "Internationalen ÄrztInnen gegen den Atomkrieg / ÄrztInnen in
sozialer Verantwortung" (IPPNW) werden je ein Vertreter der beiden
Organisationen nach Ankara reisen. Die Medizinische Flüchtlingshilfe Bochum
e.V. wird durch den Bochumer Arzt Knut Rauchfuss vertreten. Für die IPPNW nimmt
der Hamburger Professor Dr. Gerhard Garweg an der Delegation teil.
Die Mediziner wollen sich in Gesprächen vor Ort ein Bild über den aktuellen
Gesundheitszustand des Schwerverletzten machen. Außerdem wird die Delegation im
Gespräch mit der Krankenhausleitung und der Ärztekammer sicherstellen, daß
Birdal die nötige medizinische Versorgung zuteil wird. Mit den zuständigen
Behörden soll geklärt werden, ob die Sicherheit Birdals, sowie der ihn
behandelnden ÄrztInnen in ausreichendem Maße gewährleistet ist.
Die Delegation wird am Donnerstag, dem 14.5. nach Ankara reisen, und am Freitag
dort ihre Arbeit aufnehmen.

Für weitere Informationen steht Herr Rauchfuss unter der Mobiltelefonnummer
0171-7127375 jederzeit zur Verfügung.