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1998

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Dies & das
 

Mythen in Tüten

Von Pascal Beucker

Sie personifiziert den ökosozialistischen Sündenfall: die Pastorin Antje Vollmer, die auf einem linken Ticket in den Bundestag einzog und es bis zu seiner Vizepräsidentin gebracht hat.

Einige biographische Daten: 1943 im westfälischen Lübbecke geboren. 1962 Abitur. Danach bis Anfang der 70er Jahre Studium der evangelischen Theologie in Berlin, Tübingen, Heidelberg und Paris. 1968 Vikarin bei der Berliner Kirche. 1969-71 Assistentin an der Kirchlichen Hochschule Berlin, legt 1971 das 2. Theologische Examen ab, promoviert 1973 zum Dr. phil.. 1971-74 Pastorin in einem »Teampfarramt« in Berlin. Von 1971 bis 1975 Absolvierung eines Zweitstudiums in Erwachsenenbildung mit Diplomabschluß. 1975 bis 1978 als Dozentin an der Heimvolkshochschule in Bethel tätig. Daneben ehrenamtliche Ochsentour durch die christlich-ländliche Gemeinde - einige der Stationen: Vorstandsmitglied der Westfälisch-Lippischen Landjugend, Vorstandsmitglied der Evangelischen Jugend auf dem Lande, Mitglied im Leitungskreis der Arbeitsgemeinschaft »Solidarische Kirche Westfalen«, stellvertretende Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft »Bauernblatt«. Wohin ein solcher Weg führt? Zu Gott? Zur Frauenunion? Aber nein: die Rede ist von der grünen Spitzenpolitikerin Antje Vollmer.

Antje Vollmer, die 68erin? Da fangen die Schwierigkeiten an. Natürlich ist es recht putzig, bürgerliche Politiker mit ihrer einstigen linken Vergangenheit zu konfrontieren. Scheitern muß man jedoch zwangsläufig, wenn es keine linke Vergangenheit gibt. Ein Beispiel hierfür ist die Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer. Immer wieder bemüht sie zwar die Gnade der passenden Geburt, zählt sich zu den 68ern, weil das nach Aufklärung und Engagement riecht. Die bürgerlichen Medien greifen sowas gerne auf: Mythen in Tüten. Aber die Wirklichkeit? Trostlos. Nach eigenen Angaben soll sie immerhin mal an einer Vietnam-Demonstration teilgenommen haben. Und was noch? Sie war zwar bei dem einen oder anderen »teach-in«, aber: »Selber mitzureden hätte ich mich natürlich nie getraut, ich war eher eine Randfigur.« Eher? Im SDS war sie nicht, obwohl es ihr sogar schon ihr Lateinlehrer geraten haben soll, doch: »Die beschäftigten sich gerade mit der sexuellen Revolution in Theorie und Praxis, da war ich nicht locker genug.« Und danach, in den 70ern? Da trieb sie sich eine Zeitlang im Umfeld der maoistischen KPD/AO herum, war ein bißchen bei der »Liga gegen den Imperialismus« aktiv. Aber auch das eher am Rande - soviel Zeit ließen das »Teampfarramt« und ihre sonstigen christlichen Aktivitäten auch gar nicht zu. In KPD/AO-Diktion veröffentlichte sie 1975 unter dem Pseudonym Karin Bauer ein Buch über Clara Zetkin, und bis heute kann sie ein paar Mao-Zitate auswendig. Reicht das schon für eine linksradikale Vergangenheit?

Antje Vollmer ist aus einem anderen Grund interessant. Denn sie stellt den personifizierten Sündenfall der ÖkosozialistInnen in den Grünen dar, ist signifikantester Ausdruck ihrer so bitter blamierten Bündnispolitik. RenegatInnen gibt's immer - aber Pfäffinnen auf linkem Ticket in den Bundestag bringen? Und sich dann wundern, was dabei herauskommt? Tatsächlich verdankt Antje Vollmer ihre grüne Karriere den ÖkosozialistInnen. Ein links-dominierter Kreisverband nominierte sie, der ökosozialistische Flügel der NRW-Grünen hievte sie auf Platz zwei der Landesliste. Dabei hätten die GenossInnen doch schon bei ihrer Vorstellung wissen müssen, wer dort als parteilose Vertreterin der Arbeitsgemeinschaft »Bauernblatt« auftrat. Vollmer hat die Szene 1984 in ihrem ersten Buch unter eigenem Namen, (»... und wehret euch täglich.«) selber beschrieben: »13.1.83 Das erste Mal bin ich auf einer Versammlung des Kreisverbandes der Grünen. Der Raum in der Kneipe ist ganz voll, ich kenne wenige Leute. Ich bin unsicher und fühle m ich nicht wohl in meiner Haut. Verständlich: Hier habe ich nicht gearbeitet und soll kandidieren. Als ich dran bin, erzähle ich, was ich bisher gemacht habe: meine Arbeit in der Landjugend, unsere agrarpolitischen Vorstellungen, unsere Ideen und unsere Liebe zum ländlichen Raum. Hier kenne ich mich aus, das Gefühl, etwas 'Unredliches' zu tun, weicht. Ansonsten: Alleinstehende Frau mit Kind, keine Karriere bisher. Ich bekomme das Votum bei einer Gegenstimme.« Einer einzigen.

Zunächst allerdings schien das linke Bündniskonzept aufzugehen. Frau Antje aus Ostwestfalen kümmerte sich im Bundestag erstmal um die Landwirtschaft, davon hatten die Metropolen-Linken ohnehin keine Ahnung, interessierten sich auch nicht besonders dafür. Daß sie nicht gerade eine Verfechterin des LPG-Gedanken war, erschien unerheblich, solange man von radikalisierten Öko-Bauernhaufen träumen konnte. Vollmer bediente gerne diesen Mythos, noch 1985 hält sie Cohn-Bendit in einem »taz«-Streitgespräch entgegen: »Aber ich mobilisiere die Bauernopposition. Und die ist außerparlamentarisch und gegen die SPD.« Mit letzterem hat sie bis heute recht.

Einer breiteren Öffentlichkeit fällt Vollmer erstmals 1984 durch ihre Wahl in das »Feminat«, den Frauenvorstand der grünen Bundestagsfraktion, auf. Dort gilt sie als Gegenspielerin zur Reala Waltraut Schoppe und hält die grünen Prinzipien der Anfangsjahre hoch: »Z.B. gibt es da die Rotation, die Bahros und Joschkas und Kellys und jedermensch Grenzen setzt. Das ist nicht wenig, sondern ein Hebel, der Machtstrukturen knacken und Karsten Voigts und Wolfgang Roths verhindern hilft, von ZK's ganz zu schweigen.« (1985) Das Rotationsprinzip ziele »in das Herz des Berufspolitikertums, das sich immer mehr vom Volk entfremdet«, zudem verbrauchten sich »nach ein paar Jahren ... doch Schwung und Elan«. Wahre Worte. Die FAZ schreibt über sie Anfang 1985, sie gehöre »auf dem fundamentalistischen Flügel ... zu denen, die moralisch-rigoristische Ziele verfolgen«, vernimmt jedoch auch, daß Vollmer sich selber als »sehr deutsch und sehr protestantisch« bezeichnet. Die Linken vernehmen nichts, freuen sich, daß sie Otto Schily als Fraktionssprecher verhindern konnten und lesen lieber von Genossin Vollmer in KONKRET: »Das Datum, an dem wir Ebermänner und Vollmer-Frauen wieder mal von vorne anfangen werden, ist genau zu beschreiben: am Tag X, wenn die Grünen ihre selbständige Existenz zugunsten einer historisch überholten sozialdemokratischen Dauerklamotte aufgegeben hätten.« (1985) Es klang aber auch wunderschön: »Als radikaldemokratische Partei sollten wir vor allem jene Schwerpunkte unseres Modells vorantreiben, die in einer späteren Etappe eine bessere Grundlage für ein ganz neues Bündnis von Ökologie, Demokratie und Sozialismus darstellen können.« (1986). Erst Jahre später wird ehemaligen Parteilinken auffallen, daß bereits damals irgend etwas nicht stimmte: »Antje Vollmer war noch kein halbes Jahr im Parlament, als sie schon verlernt hatte, wirklich zuzuhören, und selbst in privaten Zusammenhängen nicht mehr aufhören konnte, sich selbst darzustellen.« schreibt Verena Krieger 1991 in ihrem Buch »Was bleibt von den Grünen?« .

Als Antje Vollmer 1987 nach zweijähriger Rotationspause - die Zeit nutzt sie zum Parteieintritt -wieder in den Bundestag kommt, hat sie sich mitsamt der Partei »weiterentwickelt« und verrät dem »Rheinischen Merkur«: »Mit der linken Herzkammer bin ich wertkonservativ und mit der rechten bin ich links.« Ihr Agieren in den folgenden Jahren ist auf die Errichtung einer eigenen, von den Linken unabhängigen Basis in den Grünen ausgerichtet. Als die FAZ Anfang 1989 rekapituliert: »Die dem Ländlichen verbundene Theologin entfernte sich von den städtisch geprägten atheistischen Öko-Sozialisten«, da hatte sie es geschafft. Mit der von ihr initiierten Gruppe »Grüner Aufbruch '88«, die vermeintlich zwischen den Flügeln agierte und vorgab, zwischen den Strömungsfronten zu vermitteln, und unter mit der Unterstützung ihres demagogisch begabten damaligen Mitarbeiters, des heutigen »Wochenpost«-Redakteurs Bernd Ulrich hatte sie sich zu einem gewichtigen innerparteilichen Machtfaktor entwickelt. Auf die Zustimmung der Parteilinken konnte sie nun getrost verzichten.

Die deutsch-deutsche Wende 1989/90 überrascht auch Antje Vollmer. Mit großem Elan und ohne Angst vor der eigenen Lächerlichkeit versucht sie, der Restauration hinterherzuhecheln. Noch am 8. November '89 ist für sie »die Rede von der Wiedervereinigung - das ist mir jetzt sehr wichtig - historisch überholter denn je«. Kein Jahr später tritt sie als konsequente Verfechterin der »deutschen Einheit« auf und sieht sich bereits als Reichsführerin: »Jetzt kontrolliert niemand mehr dieses Deutschland außer uns«. Im Bundestag belustigt sie am 9. August 1990 die Regierungskoalition mit Bonmots wie: »Die europäische Welt hat keine Angst mehr vor den Deutschen, weil wir 1968 aufgebrochen sind, weil wir das Law-and-Order-Denken herausgeblasen haben aus diesem Land, weil wir, eine andere Generation, diese deutsche Gesellschaft gründlich zivilisiert haben.« Ihre Schlußfolgerung aus dieser brillanten Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse: »Ich traue uns zu, zu regieren.« Das einzige Problem auf dem Weg zur Machtübernahme: »Doch dazu brauchen wir vorderhand noch die SPD. Und die, das muß ich sagen, macht mir etwas Sorgen.«

Der rasante und hektische Frontwechsel in der »Deutschen Frage« verbindet Antje Vollmer mit der Mehrzahl ihrer grünen KollegInnen. Doch während andere PolitikerInnen der Grünen 89/90 tatsächlich ihre bisherigen Auffassungen über Bord werfen und verzweifelt dem Brandtschen Zug nachlaufen, kann sie immerhin an eigene Überlegungen anknüpfen. Schon im Mai 1986 hatte sie sich in der »taz« »den Deutschen« gewidmet: »Es ist nicht der Begriff 'Volk', den die Linken nicht mehr aushalten, es ist das 'Ding an sich'. Hinter der Abstinenz und dem Abscheu gegenüber dem Volksbegriff verbirgt sich erstens die schlichte Furcht der Linken vor den Deutschen überhaupt (und damit eine bestimmte Interpretation des deutschen Faschismus) und zweitens ihre klassische Unterbewertung der demokratischen Errungenschaften für die großen Emanzipationsprozesse dieses Jahrhunderts.« Die damaligen linken Grünen lasen damals jedoch lieber anderes von ihrer Antje: »Weltweit hat sich angesichts der ökologischen Krise und der bedrohlichen Kriegsgefahr der Kapitalismus genauso zu Ende gewirtschaftet wie der Block des 'real-existierenden' Sozialismus und damit die Ablösung der beiderseits herrschenden Nomenklatura und die Emanzipation der Dritten Welt auf die Tagesordnung gesetzt.« (1986) Als Bundestagsvizepräsidentin hat sie heute natürlich derlei Tagesordnungspunkte nicht mehr zu verhandeln.

Bekanntlich hat es im Oktober 1990 mit der grünen Regierungsverantwortung nicht ganz geklappt. Mangels Alternativen erinnert sich Antje Vollmer kurzzeitig an ihre früheren Auslassungen gegen das »Berufspolitikertum« und versucht ihren Wiedereinstieg in Bethel. Aber das ist nichts mehr für sie, sie beendet schnell dieses Experiment, redet lieber auf Kirchentagen als mit EpileptikerInnen und versucht sich als freie Journalistin und Publizistin. Zeitweilig gehört sie den Redaktionen des »Stern« und der »taz« an. Akribisch bereitet sie ihr Polit-Comeback vor und verabschiedet sich von den Parteiarbeitsvorstellungen der grünen Anfangsjahre. »Die Rotation aller Mandats- und Parteiamts-Inhaber, die Trennung von Amt und Mandat, das imperative Mandat, der ständige Wechsel der Delegierten, die Einflußnahme locker organisierter Parteigruppierungen und Arbeitsgemeinschaften auf die Führungs- und Programmarbeit der Partei, die Begrenzung der Diäten, die finanzielle Umverteilung und andere Neuerungen« - all das gehöre nun auf den Müllhaufen der Geschichte: »Diese Experimente sind gescheitert.« (Nur konsequent, daß sie 1995 als einzige Bündnisgrüne für den sog. »Diätenkompromiß« stimmt.). Auch in den Umgangformen müssen sich einiges ändern, denn sie findet, »daß es einer der großen Fehler der Grünen ist, daß man nicht von Anfang an untereinander das Siezen eingeführt hat.« (1991)

Anfang 1994 gerät sie noch einmal kurz ins Strudeln. Da kam heraus, daß sie nicht nur die bundesrepublikanische Öffentlichkeit mit ihren Auslassungen unterhielt, sondern auch noch bei Erich Honecker antichambrierte. Antje Vollmer schickte ihm gelegentlich Briefe. So schrieb sie beispielsweise am 18. September 1986 an den »sehr geehrten Staatsratsvorsitzenden«: »Einer kleinen Tradition entsprechend möchte ich Ihnen wieder einen Artikel zu Ihrer Information und in der Hoffnung auf Ihr Interesse zuschicken. Es behandelt wieder das leidige und schwierige Bündnisthema mit einer nicht bündnisbereiten SPD. Der Artikel ist in Teilen der Linken ziemlich viel diskutiert worden ...« Ein Gutachten aus der Berliner Forschungsgruppe »SED-Staat« zitierte zudem aus Protokollen von Gesprächen Vollmers 1984 mit dem SED-Politbüromitglied Herbert Häber und dem damaligen Gesandten in der Bonner DDR-Vertretung, Hans Schindler. Häber meldete nach Berlin: »In wesentlichen politischen Auffassungen stände man sich doch viel näher als mit Politikern der 'etablierten' Parteien.« Gegenüber Schindler soll sich Vollmer dagegen gewandt haben, »daß der Antikommunismus zuviel Raum bei den Grünen einnimmt.« Natürlich dementierte Vollmer umgehend. Die ihr zugeschriebenen Aussagen seien »auf absurde Weise sinnverdreht, falsch zugeordnet oder blanker Unsinn«. Und doch zeigte sie sich reuig: »Peinlich an der Zeit ist mir, daß man sich in so hochgefährliche Szenen mit solcher Unbekümmertheit hineinbegeben hat, mit der Haltung: Wir sind offen für jedermann, man kann mit allen reden.« Sie hat aus diesen Fehlern gelernt. Inzwischen zeigt sie Dialogbereitschaft am liebsten gegenüber »Szenen«, die dem Kommunismus gänzlich unverdächtig sind - etwa den Vertriebenenverbänden, speziell den Sudetendeutschen. Die Ex-DDR-»BürgerrechtlerInnen« und Wolfgang Schäuble haben ihr verziehen.

Auch unter schreibender Politprominenz fühlt Antje Vollmer sich wohl. Ihren letzten Schmöker (»Heißer Frieden«) stellte Oskar Lafontaine im März letzten Jahres vor. Unter den Gästen bei der Präsentation: Heiner Geißler, dessen Buch »Gefährlicher Sieg« Vollmer präsentierte, und Joschka Fischer, dessen neuestes Werk wiederum Geißler empfahl - ein fröhliches Ringelreihen. »Heißer Frieden« schrieb Vollmer in ihrer bundestagsabstinenten Zeit, fertiggestellt war das Buch pünktlich zu ihrem Wiedereintritt in die große Politik. Thomas Ebermann und Reiner Trampert haben es in »Die Offenbarung der Propheten« (S. 217-223) treffend charakterisiert: »Der flache Sinn des Ganzen ist die ewig reaktionäre Behauptung, daß Emanzipation wider die menschliche Natur sei.« Und: »So Vollmer denn eine hatte, ist ihre Moral restlos verbraucht.«

Auf Platz 1 der hessischen Landesliste - nachdem die NRWlerInnen aus ihren Fehlern gelernt hatten und sie nicht mehr aufstellen wollten - zieht sie im November 1994 wieder in den Bundestag ein. Die bündnisgrüne Bundestagsfraktion weiß, was für ein staatstragendes Goldstück sie da in ihren Reihen hat und stellt sie als Kandidatin für das Amt der Bundestagsvizepräsidentin auf. Ein genialer Schachzug: Mit den Stimmen von CDU/CSU/FDP und gegen die Stimmen der SPD wird sie gewählt. »Mit Frau Vollmer präsentierte ihre Fraktion eine Kandidatin, die - wohl als einzige Grüne - auch weiten Teilen des Koalitionslagers würdig erschien, in einer geheimen Wahl das Risiko eines schwarz-gelb-grünen Bündnisses einzugehen.« kommentierte die »FAZ«.

Was für eine Wahl! Vollmer ist die perfekte Ergänzung zu Rita Süssmuth. Wer kann schon so pastoral daherschwätzen wie sie? Von christlicher Nächstenliebe geprägt, liegt ihr vor allem das Soziale am Herzen. Für die RentnerInnen hat sie direkt Aufbauendes parat: »In Deutschland gibt es ein riesiges Potential ungenutzter Talente - die Senioren«, schmiert sie ihnen in der »Bild« um die ergrauten Bärte. Da würde doch ein »freiwilliges Dienstjahr« für gemeinnützige Arbeit ruckzuck Abhilfe schaffen. Natürlich denkt sie an unbezahlte Arbeit - warum materielle Anreize, wenn ideelle reichen: »Tausende Rentner sitzen jahrzehntelang zu Hause und haben das Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden.« Da kann doch ein Arbeitsdienst wunder wirken, oder? Wenn Behinderte gegen die Gesundheitsreform protestieren, schickt die Frau Bundestagsvizepräsidentin ein Grußwort. Die Proteste zeigten, »daß die Diskriminierung Behinderter in unserer Gesellschaft immer noch weit verbreitet ist«. Was schlägt sie als Gegenmaßnahme vor? Sie wolle sich für eine »fraktionsübergreifende Arbeitsgruppe zur Gleichstellung Behinderter unter Beteiligung der Betroffenen« einsetzen. Ob das Süssmuth so gut hinbekommen hätte?

Nachdem die Gesellschaft gründlich zivilisiert und der Kampf gegen das kapitalistische System daher überflüssig geworden ist, möchte Antje Vollmer neue Wege gehen. Auf dem evangelischen Kirchentag, dessen Präsidiumsmitglied sie ist, stellte sie im Juni 1995 ein neues Programm vor, das die Nachrichtenagentur »epd« so referierte: »Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer bemängelte, daß die Bedeutung der Ökologie als Kernpunkt der sozialen Fragen der Zukunft nicht ausreichend erkannt worden sei. Eine Rückkehr zur Vollbeschäftigung und zur sozialen Sicherheit sei nicht möglich, betonte sie.« Vollmer hat eine neue Antwort soziale Frage gefunden: »Die Theologin plädierte für die Schaffung einer Umweltpolizei der Vereinten Nationen (»Greenhelms«), die bei ökologischen Krisen eingreifen solle.« - in Bosnien beispielsweise, weshalb sie auch eine »Entdämonisierung der Rolle des Militärs in der Verteidigungs- und Außenpolitik« fordert. Nur konsequent, daß sie entschlossen die Saalordner anwies, für Entfernung zu sorgen, als im letzten Jahr Transparente gegen deutsche Bundeswehreinsätze im Bundestag entrollt wurden. Der Bundestag sei nicht zum Demonstrieren da, erklärte sie. Spätestens hier hatte sie ihre Feuertaufe mit Bravour bestanden.

1986 schrieb Antje Vollmer mit Blick auf die 68er: »Wieder einmal wurde deutlich, daß hierzulande nichts so schwerfällt wie eine durchgehende, geduldige theoretische und praktische linke Widerstandstradition, die sich auch an identischen Personen festmacht.« Neun Jahre später attestiert ihr der rechtslieberale »Tagesspiegel«: »Diplomatisches Geschick, Taktgefühl, Einsicht in den Rollencharakter eines öffentlichen Amtes: ein solches Ausmaß an Zivilität an einer grünen 68er zu beobachten, erscheint wie ein Wunder.« Als »dialogistisch« bezeichnet Antje Vollmer selber ihre »Politikmethode« - es könnten einem auch andere Begriffe hierfür einfallen. Eine »leidenschaftliche Parlamentarierin« sei sie geworden, verkündete sie bereits vor Jahren. Verena Krieger stellte 1991 fest: »Antje Vollmer war eine kämpferische Pastorin und ist heute eine machthungrige Moralistin.« Welch eine fatale Verkürzung. Kämpferische Pastorin ist Vollmer heute immer noch - das widerspricht sich nicht. Die Linken innerhalb der Grünen hätten es wissen können.

Dieser Artikel erschien bei BASTA !