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1998

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Dies & das
Jungle World    09.Juni.98

Der Schatten des Debakels 

Curzio Malaparte zum 100. Geburtstag. 
Von Peter O. Chotjewitz 

Das come me, den Vergleich mit sich, suchte er - überall und immer: "Der Erzitaliener" (1928), "Eine Frau wie ich" (1940), "Ich, in Rußland und China" (1957). Sein bekanntestes Werk, die futuristische Villa auf dem Felsen von Capo Massullo auf Capri, 1938 erbaut, wo er nach dem Sturz Mussolinis seinen Roman "Kaputt" vollendete (erschienen 1944), nannte er abwechselnd "Casa Matta" - ein Wortspiel, in dem "verrückt" steckt, aber auch Kasematte - und "casa come me: triste, dura, severa" (ein Haus wie ich: traurig, hart, streng). 

Seine Lust, die Vermittlung ironisch zu brechen, war grandios und ging bis zur Selbstkarikatur. Ein Jahr vor seinem Tod wollte er mit dem Fahrrad von New York nach Los Angeles fahren. Wir sehen ihn also auf dem Dach seiner Villa in heißen Höschen und einem engen gestreiften T-Shirt beim Training. Er sitzt auf einem Rennrad, neben ihm spurtet eine jugendliche Schönheit im Badedress. Ein schwarzer Pudel gewinnt. Im Hintergrund das Meer. Eine andere Serie zeigt ihn als Caporal in Uniform. Er schaut aus dem Bild und marschiert vor einer Abteilung bewaffneter Askari direkt auf den Feind zu, aber natürlich weiß jeder, wer dort steht, wohin er blickt: der Fotograf. 

Da er selbst ein begnadeter Reporter und Journalist war, hatte er wenig Probleme mit den Fotografen, die ihn zum Medienstar machten. Es war die Zeit der ersten Illustrierten, und das gedruckte Foto begann sich durchzusetzen. Bis dahin hatten die Zeitungen ihre Artikel mit Zeichnungen und wilden Aquarellen illustriert. 

Ein Beispiel: Gestützt zwar, aber aufrechten Ganges und tadellos gekleidet wie immer, kehrt er todkrank aus China zurück und sieht auch im Pyjama allemal besser aus als die hochrangigen Besucher aller politischen Couleur, die sein Sterbebett belagern - der rechte Christdemokrat Fanfani ebenso wie der revisionistische Kommunist Togliatti. 

Er starb am 19. Juli 1957, nicht ohne der ganzen Welt gedankt zu haben. Seine letzten Worte lauteten: "Geh und kauf ein Blatt Urkundenpapier. Schreib darauf, aber gut lesbar, daß Curzio Malaparte noch lebt. Und dann laß' es mich unterzeichnen." Ob seine Schwester Maria daraufhin in den Laden für Tabak, Salz und Urkundenpapier ging, ist nicht überliefert. 

Das Pseudonym verdankte er einer Streitschrift zum 100. Geburtstag des korsischen Kaisers: "Die Malaparte und die Bonaparte". Ein Studio-Foto - "Für Mama, in aller Zuneigung, ihr unartiger Sohn, Rom, 2. Februar 1924" - ist noch mit Curzio Suckert unterzeichnet. Den Geburtsnamen "Kurt" soll er schon im Ersten Weltkrieg abgelegt haben. 

Dem folgte er willig, jedoch nicht in dumpfen Gehorsam oder chauvinistischem Hurra-Idealismus, sondern in einer zeitgemäßen Mischung aus Surrealismus, Anarchismus, Individualismus und Faschismus, um den Brand des alten Europa zu schüren und dem neuen Ancien régime den Garaus zu machen. Also auch nicht der Kampf als inneres Erlebnis, sondern das modernere "Macht kaputt, was euch kaputt macht!". 

Er verließ noch vor dem Abitur das "Cicognini" (das Gymnasium, das auch D'Annunzio besucht hatte), das Elternhaus in der Industriestadt Prato am Südhang des Appenin und schloß sich einer Einheit in den Argonnen an, die am Sturm auf Reims beteiligt war, wo er erst verwundet und dann dekoriert wurde. Dekoration war immer in seinem Sinne, auch Kadaver dekorierte er gerne. 

Aber so oft er auch behauptete, so barbarisch zu sein wie ein Deutscher, das Sterben für eine Sache, das bei uns in zwei Weltkriegen nicht unterzukrieen war, war nicht sein Ding: "Ich wurde geboren, um schöne Seiten zu schreiben, nicht, um im Krieg zu sterben." 

Was folgte, war eine erstaunliche journalistische, literarische, diplomatische und politische Karriere: Die ersten Zeitungsartikel mit 21, Übertritt von der Republikanischen Partei zu den Faschisten 1921, Marsch auf Rom 1922, Teilnehmer an der ideologischen Debatte über das Wesen des Faschismus als revolutionäres Konzept, Reisen nach Deutschland und in die Sowjetunion, Chefredakteur der Tageszeitung der Großindustrie La Stampa in Turin und, quasi als Krönung, die Verlobung mit der reichsten Erbin Italiens. 

Auf einer Fotoserie aus dieser Zeit, Ende der Zwanziger, dürfen wir ihn beim Duell bewundern, die Kombattanten hemdsärmelig, die Sekundanten, Ärzte, Zuschauer, Kammerdiener und Oberkellner in schwarzen Anzügen, die Szene vermutlich die weitläufige Tabakscheune eines toskanischen Junkers. Es gab auch solche Unterschiede zwischen Faschismus und Nationalsozialismus. 

Das Pendant dazu, mit Flaminia bei den Tempeln von Paestum, beide in Weiß, er in weiten Pluderhosen und engem Polohemd. Er liebte es, seinen traumhaften Oberkörper zu zeigen, entweder nackte Haut oder hauteng feines Dessous. Daneben noch ein Foto für Mama, diesmal "mit herzlicher Bosheit", nur jetzt eben unterzeichnet mit "Malaparte". 

Zwei dunkle mandelförmige Augen schauen uns an, die Augenbraue ist ein sehr kräftiger, langer, sanftgewölbter Strich, die Stirn ist hoch und rund, das schimmernde, tiefschwarze Haar liegt eng am Kopf und ist links gescheitelt, die lange, gerade kräftige Nase hat eine vorkragende Kugelspitze, der Mund ist weich und weiblich, das runde Kinn ebenfalls vorgewölbt, die großen, oben etwas spitz zulaufenden Ohren liegen eng an. Schwanz zeigte man nicht damals, man brauchte ihn nicht mal zu haben, um ein Idol zu sein, was kürzlich in der Glyptothek sogar meiner achtjährigen Tochter auffiel: "Papa, warum haben die alle so kleine Pimmelchen?" 

Malaparte mit dreißig, das ist ein melancholischer, ungemein weicher, sanfter, ernster Mensch, dessen Porträt im Schaukasten eines wirklich noblen Transvestitenlokals hängen könnte, aber wir ahnen schon, daß er mehrere Gesichter hatte. Fünfzehn Jahre später wird er sich als unrasierter Existenzialist mit finsterem Blick, gerunzelter Stirn und Tabakspfeife, im karierten Hemd ohne Krawatte, präsentieren. 

Er will weg vom Image des "Gigolo, das mir so viele Antipathien eingetragen hat. Das Publikum muß sich daran gewöhnen, mich so zu erleben: Nachdenklich und mit Bart". Glückliche Zeit, da es noch keine sympathischen Ideen gab, nur schlechten Geschmack. 

Kurt Suckert alias Curzio Malaparte, geboren vor hundert Jahren in Prato, Toskana, war ein Dandy. Noch im confino (der faschistischen Version des KZ) auf Lipari 1933 ("Zu viel Meer, zu viel Himmel für so eine kleine Insel und einen so unruhigen Geist wie meinen") gab er den Weltmann, mit Einstecktuch im taillierten Sakko und Bügelfalte - einen dekadenten Köter an der Leine, ein elegantes Stöckchen in der Hand - und jener nicht minder eleganten Verlobten, die sich gegen ein Fischerboot lehnt. 

Oft sind auch seine Bewacher im Bild, stets in Ausgehuniform, wie es sich gehört, wenn man dazu dient, die Wechselfälle eines so berühmten Gefangenen zu untermalen. Im Hintergrund grinsen freche Fischer, die Kippe im Mundwinkel, thronen würdevoll Kleinbauern auf vollbepackten Eseln. 1934 war er wieder frei, auf Fürsprache von Mussolinis Schwiegersohn Galeazz0 Ciano, und schrieb fortan unter dem Pseudonym "Candido" für den Corriere della Sera, das Tagblatt der Großbourgeoisie. 

Seine Eitelkeit war so groß, daß er dem lieben Gott persönlich die Hand gegeben hätte. Er besuchte jeden, wenn er nur berühmt genug war. Nur herausragende Persönlichkeiten und Ereignisse verdienten seinen eiskalten Stil. Unter einem Vulkanausbruch oder einer Nymphe in einer Elendshütte, die sich prostituiert, in dem sie Scharen gaffender GIs ihr Jungfernhäutchen präsentiert und gegen Aufgeld mit dem Finger mal fühlen läßt, machte er es nicht. 

Er war der Kater aus Bulgakows "Meister und Margherita" - ein ungerührter Schatten des Debakels in jedeweder Gestalt und jedem System. So schuf er literarische Bilder des 20. Jahrhunderts, die auf Wirklichkeit beruhen und der Phantasie eines Hieronymus Bosch entsprungen sein könnten: Die erfrorenen Pferde im Lagoda-See, die deutschen Landser im Polarkreis, die reihenweise Selbstmord begehen, weil sie die Mückenplage nicht aushalten, und die Alleen in der Ukraine oder in Belorus, wo kilometerweit an jedem Baum eine Leiche hängt. 

In Krakau dinierte er mit dem Generalgouverneur und Damen, aber es ist nicht das detailgetreue Bild des Familienlebens eines Massenmörders, der 1946 in Nürnberg erhängt wurde, das an diesen "schönen Seiten" besticht. Es ist eine laue Sommernacht, und nach dem Essen begeben sich die Herren auf den Balkon, wo Hans Frank Jagdflinten verteilt, um seinen Gästen etwas zu bieten. 

Der Platz mit dem berühmten Wawel, dem alten Schloß der polnischen Könige, wo Frank geklaute Kunstschätze hortet, grenzt an eine Absperrung, in der sich ein Loch befindet, durch das in der Dämmerung Menschen kriechen, um in der Stadt nach Lebensmitteln zu suchen. Wer dazu Lust hat auf Franks Balkon, darf einen abschießen. 

Man muß Malaparte gelesen haben, um zu begreifen, warum am Ende des Zweiten Weltkrieges ein bis heute anhaltender Nihilismus um sich griff. Wir haben seine Bücher verschlungen, als junge Leute, "Die Haut" ("La pelle"), "Kaputt". 

Im Januar 1939 entsendet der Corriere della Sera ihn nach Äthiopien, wo Italien gerade versucht, sich mit Waffengewalt ein Kolonialreich zu basteln. Mussolini hat zunächst Bedenken, dem Autor seinen Paß auszuhändigen. "Der ist in der Lage, sich an die Spitze einer Rebellenbande zu stellen, die Italien erobern will." 

Aber schon die ersten Aufsätze beruhigen den einfältigen Diktator. Tatsächlich versucht Malaparte gar nicht erst, mit moralischen Kategorien zu operieren oder gar den Faschismus zu attackieren. Fünf Jahre lang bereist er die Schauplätze des Zweiten Weltkriegs von Ostafrika über Frankreich, Deutschland, Serbien, Bulgarien, Finnland bis Rußland und veröffentlicht einige Dutzend Artikel und etliche Bücher. 

Man wird nicht ein Wort des Bedauerns, des Mitleids oder der Entrüstung in ihnen finden. Das Schreckliche geschieht einfach, das Verbrechen ist Teil unseres Lebens geworden, das Judenpogrom in Moldavien, dessen Zeuge er wird, ebenso wie die Schlacht um Montecassino, an der er, nun schon in der Uniform des Westalliierten teilnimmt. 

Die von Menschen verursachten Vernichtungen haben keine andere moralische Qualität als die Zerstörung Neapels durch den Ausbruch des Vesuv gegen Kriegsende, und die Menschen sitzen in den gleichen Kellern wie während der Bombenangriffe. 

Im Vorwort zu "Kaputt" bestätigt er seinen Standpunkt: "'Kaputt' ist ein grausames Buch. Seine Grausamkeit ist die außergewöhnliche Erfahrung, die ich aus dem Schauspiel Europas in jenen Kriegsjahren gezogen habe. Unter den Protagonisten dieses Buches ist der Krieg jedoch nur eine Nebenfigur. Man könnte sagen, daß er nur den Wert eines Vorwandes hat, wenn die unvermeidlichen Vorwände zur Ordnung des Verhängnisses gehören. Ich würde sagen, er ist kein Protagonist, sondern ein Zuschauer, in dem gleichen Sinn, in dem eine Landschaft ein Zuschauer ist. Der Krieg ist die objektive Landschaft dieses Buches. 

Die Hauptperson ist Kaputt, dieses heitere und grausame Monster. Kein Wort könnte besser als das harte und fast mysteriöse deutsche Wort Kaputt den Sinn dessen bezeichnen, was wir sind und was das heutige Europa ist. Und es sei klar gesagt, daß ich dieses kaputte Europa dem von gestern vorziehe oder dem vor zwanzig oder dreißig Jahren. Ich plädiere dafür, daß alles neu geschaffen werden muß und nicht alles akzeptiert werden muß, als unveränderbare Erbschaft." 

Ein Nebenprodukt der lebenslangen Recherche, bis heute unveröffentlicht, sind einige Tausend Fotos, die Malaparte seit 1939, bis hin zu seiner letzten Reise nach China, geschossen hat. Sie erschließen leichter, wer oder was dieser Autor war. Er war ein schreibender Fotoapparat. 

Zu den schönsten Fotos gehört ein toter Soldat, dem Helm nach Amerikaner. Er trägt noch die Gasmaske und sitzt gegen eine Mauer aus riesigen Granitquadern gelehnt. In der schußsicheren Weste steckt eine Handgranate, und in seinem Schoß liegt das Gewehr. Er  ist teilweise mit Schnee bedeckt und scheint zu schlafen. Im linken Glas der Gasmaske spiegelt sich: Malaparte.