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1997

Rubrik
Internet
Anläßlich der Diskussion in dieser Newsgruppe wurde folgende Stellungnahme gepostet:
Empfaenger : /BLN/POLITIK
Absender : TREND@TBX.berlinet.de
Betreff : Re: Internet-Prozess gelaufen - Angela Marquardt freigesprochen
Datum : Di 01.07.97, 18:30

Wie hieß es da im jW artikel vom 30.6.:

> Richterin Meline
> Schröer folgte in ihrer Urteilsbegründung weitgehend der Argumentation
> des Verteidigers Volker Ratzmann. Dessen Mandantin habe ihren
> Querverweis auf die in Deutschland verbotene Zeitschrift zu einem
> Zeitpunkt installiert, als die von der Staatsanwaltschaft angeführten
> strafbaren Texte noch nicht veröffentlicht waren.

> Sie habe sich
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> ausschließlich gegen eine Zensur der Zeitschrift gewandt.
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Wenn das ernsthaft A.Marquardts Anliegen war, dann hat sie 
aber m.E. mit ihrer affirmativen Verteidigung der Sache mehr 
geschadet als genutzt. Denn sie hat mit ihrem inhaltlichen 
Vorbringen konkludent zugestimmt, daß die digi-radikal nr. 
154 ein "strafbarer Text" sei und damit die 
bundesanwaltlichen Verfolgungsmaßnahmen legitimiert.

Wer nur ein wenig vom Strafrecht versteht, sollte aber 
wissen, daß die radi 154 in ihrer digitalen Version 
offensichtlich untauglich ist für die Durchführung von 
Bahnanschlägen und daher auch keine Straftat darstellt.

T.Baumgärtel bemerkte dazu in der taz vom 30.01.1997:

"Ob die Online-radikal überhaupt gegen geltendes Recht 
verstößt, ist freilich unklar: Im Gegensatz zum gedruckten 
Heft fehlen in der WWW-Ausgabe einige entscheidende Fotos: 
Die Bilder, die zeigen, was man zerstören muß, um den 
Bahnverkehr zu blockieren, sind gelöscht worden."

Dieser Sachverhalt hätte zum Hauptgegenstand der 
Verteidigung gemacht werden müssen, wenn´s tatsächlich um 
"free speech" gegangen wäre.

Von daher hätte ein LINK zu diesen Seiten nicht mit 
allgemeinen Phrasen "gegen Zensur" begründet werden dürfen, 
sondern mit dem BürgerInnenrecht auf freie Meinungsbildung. 
Nämlich sich darüber eine Meinung zu bilden, was eine 
Straftat ist und was nicht, setzt die Kenntnis des 
strittigen Gegenstandes voraus. Dies hätte dann allerdings 
für A. Marquardt eine inhaltliche Zurkenntnisnahme der 
digitalen Nr.154 bedeutet, (statt zu behaupten, sie kenne 
sie gar nicht) und sie in eine Auseinandersetzung mit der 
Staatsanwaltschaft gebracht.

Der trend schrieb dazu in seiner Januarausgabe:

"Beweismittel? Die Anklageschrift zitiert nur aus den 
Beiträgen.* "Kleiner Leitfaden zur Behinderung von 
Bahntransporten aller Art" *"Jedes Herz eine Zeitbombe - 
Rekrutierungszüge / abschiebezüge stoppen!" Dieses selektive 
Zitieren dient dazu, dem Konstrukt der Beihilfe 
Plausibilität zu verleihen. Es ist aber ein untaugliches 
Konstrukt, weil mit dieser "Anleitung" keine Sabotage zu 
begehen ist. Genau dies heben die Autoren jenes Textes die 
Gruppe "Flammende Herzen", hervor, ja sie warnen sogar 
davor, ohne Kenntnis der Anlagen tätig zu werden. Der zweite 
Artikel erbittet zwar einen Erfahrungsaustausch, das 
impliziert denklogisch allerdings nicht nur Zustimmung, 
sondern gerade auch ablehnende Stellungnahmen - wie etwa die 
von Angela Marquardt. Im übrigen wird von einem 
fehlgeschlagenen Versuch berichtet."


Solch eine Begründung (natürlich schlüssiger gemäß 
Juristendeutsch durchformuliert und hergeleitet) hätte 
(argumentativ) einen Riegel vor die bundesanwaltschaftlich 
üblichen Vorverurteilungen für politisch-publizistische 
Betätigungen geschoben.

> Mit gemischten Gefühlen nahm Angela Marquardt den Freispruch auf. Sie
> sei froh über den Ausgang ihres Verfahrens, äußerte sie im Anschluß.
> Allerdings habe das Gericht sie nur aufgrund einer speziellen
> Konstellation freigesprochen.


Und diese "spezielle Konstellation", das Schweyksche 
Wegtauchen vor einer prinzipiellen Auseinandersetzung, 
hinterläßt nicht nur bei Angela Marquardt, sondern auch bei 
anderen "gemischte Gefühle". Nämlich - wie eingangs erwähnt 
- das Gefühl, daß mit dieser Art von inhaltlicher 
Verteidigung mehr geschadet als genutzt wurde.

Karl Müller
Red. trend