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1997

Rubrik
80 Jahre
Oktoberrevolution

Bürgerkrieg gegen die Revolution

Praktisch von Beginn an war die siegreiche Oktoberrevolution vier Jahre lang militärischen Angriffen ausgesetzt. Anfangs fast besiegt wurde die Gegenwehr der Sowjetmacht immer erfolgreicher. Doch um welchen Preis?

Von David Müller

Schon mit der Oktoberrevolution hatten die Bolschewiki politisches Neuland betreten. Neu war nicht nur, daß sie eine sozialistische Revolution begonnen, sondern, daß sie überhaupt eine Revolution gemacht hatten. Der Marxismus der Zweiten Internationale war im strengen Sinne nie eine Anleitung zum Handeln gewesen. Vielmehr handelte es sich um eine sehr ausgereifte Kritik der bürgerlichen Gesellschaft, die sich mit einer Praxis verband, in deren Mittelpunkt der Auf- und Ausbau der ArbeiterInnenbewegung im organisatorischen Sinne stand. Die russische ArbeiterInnenbewegung hatte allerdings in einem Spannungsverhältnis gelebt, welches die Chancen für eine erfolgreiche revolutionäre Politik erhöht hatte. Illegalität und Verfolgung unter dem Zaren hatten die reformistischen Tendenzen immer recht klein gehalten. Gleichzeitig war die Repression aber nicht stark genug, um die russischen SozialistInnen davon abzuhalten, Teil der nach der Jahrhundertwende anwachsenden ArbeiterInnenbewegungen zu werden. So konnte diese für den Sprung ins kalte Wasser vom Oktober 1917 wenigstens trainieren. Bürgerkrieg und gleichzeitiger Aufbau eines neuen Gemeinwesens waren jedoch ein Sprung ins Ungewisse, bei dem nicht einmal den Bolschewiki klar war, ob überhaupt Wasser im Becken war.

RÄTEMACHT

Die anderen Parteien hatten sich vom Februar bis Oktober 1917 nacheinander als unfähig erwiesen, eine stabile politische Ordnung zu errichten. Am Ende hatten sie auf den sich offen abzeichnenden Aufstand gestarrt wie das Kaninchen auf die Schlange. Auch die mehrheitlich sozialrevolutionäre Konstituante, in der die Bolschewiki nur über ca. 25% der Delegierten verfügten, konnte am 19.1.1918 ohne viel Aufhebens nach Hause geschickt werden. Allerdings beruhte dieser Erfolg der Räte gegenüber der Verfassunggebenden Versammlung nicht nur auf der Überzeugung der großen Mehrheit der politisch aktiven Bolschewiki und Linken Sozialrevolutionäre, durch die Herrschaft einer links-bürgerlichen Regierung die sozialen Errungenschaften der Revolutionsphase Stück für Stück wieder zu verlieren. Auch das Desinteresse an den Auseinandersetzungen in weiten Teilen der Bevölkerung spielte eine Rolle. Die rechten Sozialrevolutionäre und Menschewiken organisierten ihre AnhängerInnen nur zu einem verschwindenden Teil. Die sich sammelnden Kerne von Offizieren, die mittels Strang und Exekutionskommando die alte Ordnung wieder herstellen wollten, hatten ihrerseits wenig Interesse an lavierenden und phrasendreschenden Intellektuellen, unter denen sich zu allem Überfluß auch noch einige Juden befanden. Der politische Durchmarsch der Räte zeigte sich auch in der Ausdehnung der Revolution. In den Industrieregionen des Landes konnten sie schnell die Macht übernehmen. Im Ural, in der Umgebung von Moskau und an der mittleren Wolga übernehmen die Räte die Macht. Auch in Sibirien, wo die Kämpfe härter waren, verfügten die "Roten" mit Omsk, Krasnojarsk und Irkutsk über wichtige Außenposten. Wie stark zu dieser Zeit Rätemacht und Einfluß der Bolschewiki verwoben waren, zeigt sich auch daran, daß in den wenig "sowjetisierten" Regionen des zentralrussischen Südens und Südostens die Bolschewiki einen schweren Stand hatten. Dort gab es entweder keine Räte, oder sie waren von den Sozialrevolutionären dominiert. Auch in der Ukraine war die Lage für die Bolschewiki problematisch. Unter den ukrainischen Bauern verfügten sie über fast keinen Einfluß, während sich viele zugewanderte russische ArbeiterInnen in der Region um Charkow und im Donezbecken an den Sozialrevolutionären und Menschewiken orientierten. Erschwert wurde die Position der Bolschewiki noch durch ihre schwankende Haltung in der nationalen Frage. Erst das Umschwenken von einer einfachen Angliederung an den russischen Rätestaat hin zu einer unabhängigen Sowjetukraine konnte die politische Grundlage für den Sieg der "Roten" in der Ukraine schaffen. Erschwerend (und anfänglich entscheidend) kam hinzu, daß die ukrainischen Reformsozialisten und Nationalisten, die sich in der "Rada" ein eigenes Parlament geschaffen hatten, von den Deutschen unterstützt wurden. Den Bolschewiki war es am 3.12.1917 gelungen, das alte zaristische Hauptquartier bei Mogilew auszuheben. Der ehemalige Oberkommandierende, General Duchonin, war von Soldaten ermordet worden. Zu dieser Zeit war die russische Armee wohl die demokratischste Streitmacht, die es je gegeben hatte. Alle Offiziere waren wählbar, sämtliche Rangabzeichen wurden abgeschafft. Für größere Einsätze auf Seiten der Sowjetregierung war sie allerdings auch nicht mehr zu gebrauchen.

BÜRGERKRIEG IN DER UKRAINE

Nach dem Tod Duchonins setzte sich der Kosakenhetman Kaledin an die Spitze der gegenrevolutionären Teile der alten Armee und sammelte am Don und in Kiew bewaffnete Anhänger. Dieser gewann allerdings kein großes Gewicht. Die "Roten" riefen am 29.12.1917 eine ukrainische Gegenregierung zur "Rada" ins Leben und nahmen am 9.2.1918 Kiew ein. Die "Rada" verbündete sich nun ihrerseits am 10.2.1918 mit den Mittelmächten. Die Militärhilfe des deutschen Kaisers erwies sich zunächst als entscheidend. Der Bürgerkrieg in der Ukraine, an dem sich nicht nur Räteanhänger, weiße Generäle und Nationalisten, sondern auch anarchistische Partisanen unter Nestor Machno beteiligten, wurde extrem blutig geführt. Die von Weißen und Nationalisten verübten Judenpogrome des Jahres 1919, denen mehr als 100.000 Menschen zum Opfer fielen, können in mehr als einer Hinsicht als Generalprobe zum Holocaust gesehen werden. Am Don sammelten sich die alten zaristischen Generäle, auf deren Seiten ein Teil der Kosaken stand. Mit Hilfe deutscher Truppen konnten auch sie zunächst ihre "roten" Gegner schlagen. Der schwerste Schlag in den ersten Monaten der Räteherrschaft ging wiederum vom deutschen Kaiserreich aus. Nachdem der Versuch, sich dem Krieg mit Deutschland einfach zu entziehen, gescheitert war, mußte die Räteregierung am 3.3.1918 dem Frieden von Brest-Litowsk zustimmen. Der Preis war enorm hoch, jedoch gingen die Mehrheiten der Bolschewiki und des Rätekongresses davon aus, daß ein weiterer Vormarsch der deutschen Heere die gesamte Revolution zerschlagen würde. Der russische Staatsverband verlor ca. 60 Millionen oder 1/3 seiner Einwohner, 80% seiner Eisenvorräte und 90% seiner Kohle, dazu die "Kornkammer" der Ukraine. Dabei wiesen auch die BefürworterInnen des Friedensschlusses auf seinen provisorischen Charakter und die Möglichkeit hin, ihn nach dem zu erwartenden Zusammenbruch der Mittelmächte zu annullieren. Hinzu kam, daß Brest-Litowsk zum Bruch des Bündnisses zwischen linken Sozialrevolutionären und Bolschewiki führte. Wie eine Minderheit der Kommunistischen Partei Rußlands (Bolschewiki), KPR (B), setzten sie sich für einen revolutionären Krieg, notfalls mit den Mitteln des Partisanenkampfes, ein. Die drei Sozialrevolutionäre im "Rat der Volkskommissare" traten zurück. Jedoch waren die Linken Sozialrevolutionäre (LSR) weiterhin in vielen Sowjets und in der im Dezember 1917 gegründeten Tscheka (Außerordentliche Kommission, Geheimpolizei) tätig.

Vermehrt wurden die Schwierigkeiten der Räteregierung durch den wirtschaftlichen Zerfall. Die Produktivität der Industrie sank weiter. Ein Teil der KPR befürwortete eine vom Staat gelenkte, "staatskapitalistische" Wirtschaft, während die "Linken Kommunisten" die Arbeiterselbstverwaltung vorantreiben wollten. Es wäre falsch, diese Auseinandersetzungen als Grundlagenstreit zwischen Autoritären und Libertären im Bolschewismus zu verabsolutieren. Beide Seiten betraten politisches Neuland und es kam ein Kompromiß zustande. Am 28.6.1918 wurde das Dekret über die Nationalisierung der Großindustrie erlassen. Die ehemaligen Kapitalisten wurden enteignet und konnten allenfalls als "bürgerliche Spezialisten" weiterarbeiten. Gleichzeitig wurden die Fabrikkomitees in die Gewerkschaften eingegliedert. Im vorwiegend agrarischen Rußland war die Frage des Bodens von größter Bedeutung. Die Räteregierung hatte den Großgrundbesitz enteignet und auf der Grundlage der Nationalisierung des Bodens (Verbot von Verkauf und Pacht) das Land den Bauern zur Bewirtschaftung überantwortet. Damit waren die "wilden" Enteignungen der zweiten Jahreshälfte 1917 nur legalisiert worden. Eine z.B. von Rosa Luxemburg geforderte Kollektivierung oder ein anderer ernster Eingriff in die Aktionen der Bauern und Bäuerinnen wären den Bolschewiki nicht möglich gewesen. Schließlich waren sie eine Partei der IndustriearbeiterInnen, die auf dem Lande zu Beginn der Revolution nur über 4.000 Mitglieder verfügte, also z.B. gegenüber den Sozialrevolutionären nicht existent war. In bezug auf die Bauernschaft entwickelten sich schnell zwei Problemfelder. Einerseits waren die neu entstandenen kleinen Produktionseinheiten zu klein, um der Masse der Bauernschaft ein wirklich ausreichendes Einkommen zu sichern. Andererseits waren die vorhandenen Getreideüberschüsse von den hungernden Städten nicht aufzukaufen, da in diesen die Produktion fiel und somit keine Tauschwaren bereitstanden. Um Abhilfe zu schaffen, versuchte man seitens der Bolschewiki, durch die seit dem 11.6.1918 ins Leben gerufenen "Komitees der Dorfarmut", den Klassenkampf in die immer noch sozial gespaltene Bauernschaft zu tragen. Der Erfolg war aber gering und die einsetzenden gewaltsamen Requisitionen von Getreide führten schnell zu Zerwürfnissen zwischen Stadt und Land. In dieser angespannten Lage konnten die gegenrevolutionären Kräfte neue Hoffnung schöpfen. Im Mai 1918 brach der Konflikt mit der "Tschechoslowakischen Legion", die seit 1914 auf Seiten Rußlands gegen die Mittelmächte gekämpft hatte, offen aus. Den kampferfahrenen und disziplinierten Tschechoslowaken hatten die Räte wenig entgegenzusetzen. Große Landesteile entlang der sibirischen Eisenbahn fielen in ihre Hände. Auf die äußere Bedrohung reagierte die Räteregierung mit innerer Disziplinierung. Im Juni wurden rechte Sozialrevolutionäre und Menschewiki aus dem Zentralen Exekutivkomitee der Sowjets ausgeschlossen. Der Konflikt mit den linken Sozialrevolutionären führte im Juli 1918 zur bewaffneten Konfrontation. Am 6.7.1918 ermordeten LSRs den deutschen Botschafter Mirbach und versuchten mittels der von ihnen dominierten Moskauer Tscheka einen Aufstand. Beides hatte jedoch keinen Erfolg. Der Aufstand wurde niedergeschlagen und das Kaiserreich ließ sich durch den Mord an Mirbach nicht zur Wiederaufnahme der Feindseligkeiten bewegen. Im Sommer 1918 schien das Ende der Räteherrschaft gekommen. Am 6.8.1918 fiel Kazan in die Hände der Weißen. Der Einnahme folgte ein Blutbad unter der örtlichen Arbeiterschaft. Am 30.8. verübten Sozialrevolutionäre Attentate auf Uritzki und Lenin, woraufhin der Rat der Volkskommissare den Roten Terror erklärte.

GEGENOFFENSIVE UND KONSOLIDIERUNG

Den verschiedenen gegenrevolutionären Kräften gelang mit der Bildung der "Allrussischen Staatskonferenz" in Ufa vom 8.9.1918 eine Bündelung der Kräfte. Sie wurden von intervenierenden französischen, englischen und amerikanischen Truppen unterstützt. Das Mißtrauen der Bauern gegenüber den weißen Generälen und der erfolgreiche Aufbau einer "Roten Armee" halfen den Bolschewiki zusammen mit einschneidenden sozialen Maßnahmen jedoch, die weiße Offensive abzuwenden. Am 10.9.1918 konnten "rote" Einheiten Kazan zurückerobern. Die Entspannung der Situation für die Rätegebiete führte zu einer Lockerung der politischen Disziplinierung auf dieser Seite der Barrikade im Winter 1918/19. Am 30.11.1918 wurden die Menschewiken und am 25.2.1919 die Sozialrevolutionäre wieder legalisiert. Die "Komitees der Dorfarmut" wurden als Fehlschlag bilanziert und seit November 1918 aufgelöst. Die Übernahme der Forderung nach einer unabhängigen Sowjetukraine führte zum Übergang der "Volkskommunisten" zu den Bolschewiki.

Auf der anderen Seite ereignete sich das genaue Gegenteil. Am 18.11.1918 entmachtete General Koltschak die "Staatskonferenz". Auflösungserscheinungen unter den alliierten Interventionstruppen und Behinderungen der Versorgung durch Streiks der Seeleute führten zusammen mit der Konsolidierung des Rätestaates zur Ablehnung des "Kreuzzugsplanes" des französischen Marschalls Foch. Dennoch wurden die "Weißen" weiterhin materiell unterstützt. Im Sommer 1919 kam es zur letzten "weißen" Großoffensive. Wie unklar deren Ausgang war, zeigte sich z.B. am Angriff General Judentischs auf Petrograd. Der Vormarsch von ca. 14.000 gut ausgerüsteten und erfahrenen Berufssoldaten löste in der Stadt Panik aus. Gregori Sinowjew, der anfänglich die Verteidigung leiten sollte, ließ sich ebenfalls von Panik ergreifen. Erst die Entsendung Trotzkis führte zu einer effektiven Verteidigung und der Angriff lief sich in den Vororten der Stadt fest. Doch die Fähigkeit der Regierung, auf eine existenzbedrohende Situation richtig zu reagieren, ist nur die eine Seite der Medaille. Die Affäre zeigt schlaglichtartig auf, wie angeschlagen die Räte waren. An der Spitze waren sie von Anfang an in eine nicht genau geklärte Beziehung zur eher traditionellen Regierung, dem "Rat der Volkskommissare" getreten, der sich weitgehend auf die alten Ministerialapparate stützte. Während des Bürgerkrieges waren die Räte auf zentraler Ebene nicht ausschlaggebend, spielten allerdings regional weiter eine wichtige Rolle. Notgedrungen waren sie wohl eher eine Organisation der politisch aktiven SozialistInnen als von der Masse der Lohnabhängigen gewählte Körperschaften. Mangel und Anforderungen der Verteidigung hatten ihnen viele Aktive entzogen. Die Panik angesichts des "weißen" Vormarsches auf Petrograd ist nicht anders zu erklären als durch die Aushöhlung der Räte. Schließlich lag es auf der Hand, daß die kleine Streitmacht Judenitschs ihre professionelle Überlegenheit im Straßenkampf kaum ausspielen konnte. Offenbar kam niemand in Petrograd auf die Idee, Sinowjew kurzerhand abzuwählen und durch eine oder mehrere fähige Personen zu ersetzen. Die Konzentration politischer Macht im Bürgerkrieg war durchaus nicht nur effektiv. Sie konnte auch das genaue Gegenteil bewirken.

Freilich waren die Bolschewiki gewillt, die Räte nach der Abwehr der "weißen" Großoffensive wieder zu stärken. Angesichts der desolaten sozialen Lage war dies keine leichte Aufgabe, fehlte doch mittlerweile in vielen Regionen die Basis für eine funktionierende Sowjetdemokratie. Andererseits erkannte man, daß ein einseitiges Setzen auf die existierenden funktionierenden Strukturen - Armee, Partei und Tscheka - die Gefahr einer weiteren Entpolitisierung in sich barg.

Im Winter 1919/20 entspannte sich die Lage erneut. Der VII. Allrussische Rätekongreß erweiterte auf seiner Tagung vom 5.-9.12.1919 die Rechte der Räte, eine Maßnahme, die vom Zentralen Exekutivkomitee auf seiner ersten Sitzung seit Juli 1918 am 2.2.1920 ausgebaut wurde. Am 17.1.1920 wurde die Todesstrafe aufgehoben.

Der Entspannung folgte eine weitere Umgruppierung in der russischen Arbeiterbewegung. Im April 1920 traten die Mehrheit der "Sozialrevolutionäre-Maximalisten" und des jüdischen "Bund" der KPR(B) bei. Der erneute Aufschwung der Rätebewegung und politische Freiheiten, die es für die Masse der Bevölkerung damals in der kapitalistischen Welt nicht gab, zeigten, daß trotz vorhandener Exzesse der Tscheka und der schwierigen wirtschaftlichen Situation im Winter 1919/20 reale Chancen bestanden, das Regime von innen heraus zur radikalen Demokratie des Oktober 1917 zurückzuführen.

ANGRIFF POLNISCHER TRUPPEN

Jedoch fielen am 25.4.1920 polnische Truppen mit französischer Hilfe in Sowjetrußland ein und eroberten schon am 7.5.1920 Kiew. Die Gegenoffensive der Roten Armee war allerdings ebenso erfolgreich. Der hastige Rückzug der polnischen Truppen warf die Frage auf, ob die Sowjettruppen bis auf polnisches Staatsgebiet nachsetzen sollten. Nach internen Auseinandersetzungen entschied man sich für den weiteren Vormarsch. Die Entscheidung sollte sich als katastrophal erweisen. Die polnische Arbeiterklasse versuchte keinen Aufstand zur Unterstützung der Roten Armee. Militärische Fehler wie die Überanstrengung der Nachschublinien und eine zersplitternd wirkende Diversion auf Lemberg sowie politische Fehler wie die Ernennung des Tscheka-Vorsitzenden Dserschinski zum Vorsitzenden der provisorischen polnischen "Räte"regierung taten das übrige. Die Offensive brach am 14.8.1920 an der Weichsel vor Warschau zusammen. Der folgende Waffenstillstand vom 12.10.1920 war für Sowjetrußland ungünstig. Dennoch gelang es im folgenden Monat einer Koalition von Roter Armee und anarchistischen Partisanen um Machno, die letzten weißen Truppen unter Baron Wrangel zu besiegen. Dieses Bündnis brach allerdings schnell auseinander und schon am 26.11.1920 bekämpften sich beide Seiten. Die genauen Umstände des Ausbruchs der Auseinandersetzungen sind wie oft in solchen Situationen unklar. Dennoch scheint deutlich zu sein, daß es hier nicht wie beim Bruch zwischen LSRs und Bolschewiki anläßlich des Friedens von Brest-Litowsk um unauflösbare Widersprüche oder gar das nackte Überleben ging. Die Niederschlagung der "Maschnowtschina" kann durchaus als Anzeichen für Bürokratisierung der Rätemacht und Militarisierung des Denkens auf Seiten der Bolschewiki gesehen werden.

Im Zuge des polnischen Krieges war nicht nur die Wirtschaft weiter zu Boden gegangen. Auch waren mehr und mehr KommunistInnen in Armee und Tscheka aufgesogen worden, noch mehr klassenbewußte und kritikfähige ArbeiterInnen gefallen oder ermordet worden. Hinzu kam, daß ca. 40.000 ehemalige zaristische Offiziere zu den roten Fahnen gerufen oder gezwungen worden waren. Diese verteidigten Rußland gegen den polnischen "Erbfeind". Internationalisten waren sie sicher nicht - und schon gar keine bewußten Befürworter lebendiger Arbeiterräte.

Wirtschaftlicher Zerfall und Erstarrung des Staatsapparates führten Anfang 1921 zu vermehrten Bauernaufständen. Diese hatte es auch schon während des eigentlichen Bürgerkrieges gegeben, ja sie verdienen mehr als der Kampf gegen die "weißen" Armeen die Bezeichnung Bürgerkrieg. Sie richteten sich in erster Linie gegen die Requirierung von Getreide und wurden auf beiden Seiten mit äußerster Brutalität geführt. Bauern schnitten Kommunisten den Bauch auf und legten danach symbolisch Getreide hinein. Die Rote Armee und Kampfeinheiten der Tscheka metzelten ihrerseits ganze Dörfer nieder.

GEORGIEN, KRONSTADT

Der polnische Angriff hatte das Gefühl für die Einkreisung und permanente Bedrohung unter den AnhängerInnen der Räteherrschaft verstärkt. Apathie und Frustration im Lande kamen hinzu. Am 25.2.1921 marschierten sowjetische Truppen in Georgien ein und stürzten die dortige menschewistische Regierung. Hierbei handelte es sich um eine rein "geostrategische" Entscheidung, die den Einfluß der Alliierten dort beenden sollte. Dem Prinzip nationaler Selbstbestimmung schlug die Aktion ins Gesicht. Der letzte und tragischste Akt des Bürgerkrieges begann im Februar 1921, als Streiks und Demonstrationen in Petrograd gegen die desolate wirtschaftliche Lage und die Übergriffe von Kommissaren und Tscheka einsetzten. Sie gipfelten im März 1921 im Aufstand der Flottenbasis Kronstadt. Auch hier spielte die "strategische" Frage der Basis bei der Beurteilung durch die bolschewistische Führung die wichtigste Rolle. Sie hätte, nach Einsetzen des Tauwetters uneinnehmbar geworden, als Brückenkopf für englische Flotteneinheiten dienen können. Daß die "Kronstädter" dies nicht wollten und es bis heute keine Beweise für eine ernste "weiße" Gefährdung unter den Revoltierenden gab, spielte damals keine Rolle. Zu stark war das Gefühl der Bedrohung und zu sehr hatte man sich daran gewöhnt, Widerstand als "konterrevolutionär" zu sehen. Am 18.3.1921 wurde die Basis unter furchtbaren Verlusten der Roten Armee und einem folgenden Gemetzel an den Verteidigern eingenommen. Wie sehr zu diesem Zeitpunkt aus der Not eine Tugend gemacht wurde, zeigte sich an dem makaberen Schauspiel der Siegesparade der Roten Armee, deren Militärmusik "Brüder zur Sonne zur Freiheit" anstimmte.

Ein abschließendes Urteil über den Kronstädter Aufstand wird wohl nie möglich werden. Festzuhalten bleibt, daß die Bolschewiki wohl insofern recht hatten, als eine erfolgreiche Erhebung das Signal zu anderen Aufständen hätte werden können, die auch unter den KommunistInnen AnhängerInnen gefunden hätten. Aus einem entsprechenden Zerfallsprozeß wären aber wahrscheinlich andere, rechtsgerichtete Kräfte als Sieger hervorgegangen. Diese These müßte allerdings vor dem Hintergrund einer genauen Untersuchung der real vorhandenen linken und rechten Alternativen zum Bolschewismus kritisch überprüft werden.

Die ungerechtfertigte Verdammung der Kronstädter als "Konterrevolutionäre" und die Erschießung von hunderten Gefangenen sind ihrerseits nicht zu entschuldigen oder wegzuerklären. Das Sowjetregime war bereits an einem Punkt angelangt, wo eine Änderung der politischen Strukturen nur über Massenbewegungen und größere soziale Kämpfe zu erreichen war. Anstatt diesen Tiger zu reiten, was nach der militärischen Niederlage des Märzaufstandes zumindest denkbar gewesen wäre, entschloß sich die KPR (B) zu einer Kombination von wirtschaftlicher Liberalisierung und politischer Disziplinierung. Nicht nur blieben andere Parteien aus den Räten ausgeschlossen, auch innerhalb der KPR wurde ein Fraktionsverbot verhängt. Die Hungersnot Mitte 1921, der mehrere Millionen Menschen zum Opfer fielen, tat ihr übriges, um eine rätedemokratische Entwicklung weiter zu verunmöglichen.

MILITARISIERUNG UND ENTDEMOKRATISIERUNG

Es ist sehr schwer, eine Bilanz des Bürgerkrieges zu erstellen. Zu schnell werden eigene Vorstellungen auf die damalige Zeit übertragen oder wirkliche Fehler den objektiven Gegebenheiten zugerechnet. Zur Frage der Demokratie ist in dieser Zeitschrift genug gesagt worden. Fraktionsverbot und Entdemokratisierung der Sowjets waren massive Fehler, aber auch Ausdruck einer nur schwer zu bekämpfenden Militarisierung des politischen Denkens. Diese ging als Erbsünde auch in die 1919 gegründete Kommunistische Internationale ein und hat sich bis heute in Form des Lagerdenkens in der sozialistischen Linken gehalten.

Die Zerwürfnisse zwischen Stadt und Land, die zu den schlimmsten Exzessen im Bürgerkrieg geführt haben, waren politisch nur begrenzt beeinflußbar. Nachgedacht werden sollte allerdings über die Frage, ob das Verständnis als reine Arbeiterpartei vor der Revolution und der nicht vorhandene Aufbau unter den Bauern hier Fehler vergrößert haben. Für die sicher noch lange nicht abgeschlossene Debatte um die Erfahrungen der ersten sozialistischen Revolution wäre es bei aller Sympathie sinnvoll, sie aus der Tagespolemik herauszunehmen und als Sprung ins Ungewisse zu betrachten, den wir kritisch bilanzieren müssen, um die folgende tödliche Landung in Form der stalinistischen Gegenrevolution in Zukunft zu vermeiden.

aus: Inprekorr 313 (Internationale Pressekorrespondenz). inprekorr@oln.comlink.apc.org