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1997

Rubrik
80 Jahre
Oktoberrevolution

Drei Fragen des "Oktobers"

Ein kritischer Rückblick auf die russische Revolution anläßlich des 80. Geburtstages des Oktobers wirft eine Menge Fragen auf, sowohl historischer als auch programmatischer Art. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als um das Verständnis dieses zu Ende gehenden Jahrhunderts, um unsere Fähigkeit, die Vergangenheit vor dem Vergessen zu bewahren, um eine offene Zukunft für ein revolutionäres Handeln zu bewahren.

Von Daniel Bensaid

Selbst bevor man sich die Masse der durch die Öffnung der sowjetischen Archive neu zugänglichen Dokumente vornimmt (die uns zweifellos neue Erkenntnisse und eine Erneuerung der Kontroversen erlauben werden), wird die Diskussion mit den Denkschemata der herrschenden Ideologie konfrontiert, deren Einfluß beispielhaft durch die im Gleichklang erschienen Nachrufe auf Fran‡ois Furet deutlich wird. In dieser Zeit der Konterreform und der Reaktion ist es nicht erstaunlich, daß die Namen von Lenin und Trotzki genauso unaussprechbar werden, wie es die Namen von Robespierre oder von Saint-Just während der Restauration [nach der französischen Revolution] waren.

Wenn man anfängt, das Thema zu ordnen, ist es angebracht, auf drei heute weitverbreitete Vorstellungen einzugehen:

1. Die Oktoberrevolution sei in erster Linie der sinnbildliche Name eines Komplottes oder eines Staatsstreiches einer Minderheit, die von oben ihre autoritäre Konzeption der Gesellschaft zum Vorteil einer neuen Elite durchsetzte.

2. Die ganze Entwicklung der russischen Revolution und ihrer totalitären Entgleisungen seien im Keim - als eine Art Erbsünde - in der revolutionären Idee (oder "Passion" nach Furet) enthalten gewesen: Die Geschichte reduziert sich also auf die Entstehung und die Umsetzung dieser perversen Idee, völlig unabhängig von den wirklichen großen Erschütterungen, der gewaltigen Ereignisse und des ungewissen Ausgangs des ganzen Kampfes.

3. Schließlich sei die russische Revolution zur Entartung verurteilt gewesen, weil sie durch eine geschichtliche Frühgeburt entstanden sei, durch den Versuch, ihr den Kurs und den Rhythmus aufzuzwingen, während die "objektiven Bedingungen" eine Überwindung des Kapitalismus nicht zuließen: Statt so weise zu sein, ihr Projekt "selbst zu beschränken", seien die bolschewistischen Führer die aktiven Agenten dieser Unzeitmäßigkeit gewesen.

1. Revolution oder Staatsstreich?

Die russische Revolution ist nicht das Resultat einer Verschwörung, sondern einer Explosion im Zusammenhang des Krieges und der angestauten Widersprüche durch den autokratischen Konservatismus des zaristischen Regimes. Rußland ist am Anfang des Jahrhunderts eine blockierte Gesellschaft, ein beispielhafter Fall der "ungleichen und kombinierten Entwicklung", ein herrschendes und zugleich beherrschtes Land, wo sich die feudalen Elemente auf dem Lande, wo die Leibeigenschaft erst seit einem halben Jahrhundert offiziell abgeschafft ist, und die Elemente eines konzentrierten städtischen industriellen Kapitalismus vereinigen. Eine Großmacht, die technologisch und finanziell(Anleihen) abhängig ist. Die Beschwerdeschrift des Popen Gapon während der Revolution 1905 ist ein wahrhaftiges Register des Elends im Lande des Zaren. Die Reformversuche wurden schnell blockiert - durch den Konservatismus der Oligarchie, die Halsstarrigkeit des Despoten und die schwankende Haltung einer bereits durch die entstehende Arbeiterbewegung bedrängten Bourgeoisie. Die Aufgaben der demokratischen Revolution fallen so einer Art drittem Stand zu, in dem, im Unterschied zur französischen Revolution, das moderne Proletariat, auch wenn es in der Minderheit war, bereits den treibenden Flügel darstellte.

Aufgrund dieser Umstände bildet das "heilige Rußland" "das schwächste Glied" in der imperialistischen Kette. Der Ausbruch des Krieges legt Feuer an dieses Pulverfaß.

Die Entwicklung des revolutionären Prozesses zwischen Februar und Oktober 1917 zeigt sehr gut, daß es sich nicht um die Verschwörung einer Minderheit von professionellen Agitatoren gehandelt hat, sondern um das beschleunigte Sammeln von politischer Erfahrung auf Massenbasis, einer tiefgreifenden Veränderung des Bewußtseins, einer konstanten Erneuerung des Kräfteverhältnisses. In seiner meisterhaften Geschichte der russischen Revolution analysierte Trotzki minutiös diese Radikalisierung, von Gewerkschaftswahl zu Gewerkschaftswahl, von Gemeindewahl zu Gemeindewahl, bei den Arbeitern, den Soldaten und den Bauern. Während die Bolschewiki nur mit 13% der Delegierten auf dem Sowjetkongreß im Juni vertreten waren, änderten sich die Dinge schnell während der Julitage und dem Putschversuch Kornilows. Im Oktober stellen sie zwischen 45% und 60%. Weit davon entfernt ein durch eine Überraschung erfolgreicher Staatsstreich gewesen zu sein, bedeutete der Aufstand die Lösung und das vorläufige Ergebnis einer Konfrontation, die sich im Verlauf des Jahres zugespitzt hat, und in deren Verlauf das Bewußtsein der plebejischen Massen sich immer links von den Parteien und ihren Stäben, nicht nur der Sozialrevolutionäre, sondern sogar der bolschewistischen Partei oder einem Teil ihrer Führung befunden hat - sogar beider Entscheidung zum Aufstand.

Das erklärt übrigens, warum der Oktoberaufstand im Vergleich zu dem, was man danach geschah, verschwindend wenig Gewalt aufwies und wenige Menschenleben kostete, jedenfalls dann, wenn man eine klare Unterscheidung trifft zwischen den Opferndes eigentlichen Oktobers (auf beiden Seiten) und denen des Bürgerkrieges ab Anfang 1918 - eines Bürgerkrieges der von ausländischen Mächten geschürt wurde, allen voran von Frankreich und Großbritannien.

Wenn man unter Revolution eine von unten, von den wirklichen Bestrebungen des Volkes ausgehende Bereitschaft zur Umwälzung versteht - und auf keinen Fall das Ergebnis irgend eines großartigen Plans, der von einer genialen Elite erdacht wurde - dann besteht kein Zweifel, daß die russische Revolution im vollsten Sinne des Wortes eine solche war. Es reicht, die Gesetze zu betrachten, die in den ersten Monaten und im ersten Jahr durch das neue Regime beschlossen wurden, um zu verstehen, daß es sich um eine radikale Umwälzung der Eigentums- und Machtverhältnisse gehandelt hat, manchmal schneller als vorhergesehen und gewollt, manchmal unter dem Druck der Umstände über das Gewünschte hinaus. Eine Vielzahl von Büchern bezeugt diesen Sprung in der Weltordnung (etwa: 10Tage, die die Welt erschütterten von John Reed) und seinen sofortigen internationalen Widerhall[1].

Marc Ferro unterstreicht[2], daß es zu dieser Zeit nicht viele Leute gab, die das Regime des Zaren bedauerten und dem letzten Despoten nachweinten. Er betont mit Nachdruck die Umkehrung der gesamten gesellschaftlichen Verhältnisse, wie sie für eine Revolution so charakteristisch ist, und zwar bis in die Details des alltäglichen Lebens: In Odessa schreiben die Studenten den Professoren ein neues Geschichtsprogramm vor; in Petrograd zwingen die Arbeiter die Unternehmer "das neue Arbeiterrecht" zu lernen; in der Armee laden die Soldaten den Militärgeistlichen zu ihrem Treffen ein, um "seinem Leben einen neuen Sinn zu geben und in einigen Schulen fordern die Kleinen das Recht auf Boxunterricht, um sich bei den Großen Gehör und Respekt zu verschaffen".

Diesen zündende revolutionäre Elan spürte man noch während der ganzen 20er Jahre, trotz der materiellen Not und der kulturellen Rückständigkeit, und zwar hauptsächlich bei den Initiativen zur Umwandlung der Lebensweise: schulische und pädagogische Reformen, Familiengesetzgebung, städtische Utopien, Kreativität im Bereich der Grafik und des Kino. Das erlaubt, die Widersprüche und Zweideutigkeiten der großen, schmerzhaften Umgestaltung in der Zeit zwischen den Weltkriegen zu erklären, wo sich der Terror der bürokratischen Repression mit der Energie der revolutionären Hoffnung mischte. Niemals hat ein Land eine so brutale Umwandlung unter der Knute einer pharaonenhaften Bürokratie erlebt: Zwischen1926 und 1939 wachsen die Städte um 30 Millionen Einwohner und ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung steigt von 18 auf 33%.Allein während des ersten Fünfjahresplanes betrug das Wirtschaftswachstumsrate 44%, was praktisch dem Zuwachs in der Zeit zwischen 1897 und 1926 entspricht; die Zahl der Lohnarbeiter verdoppelte sich (sie stieg von 10 auf22 Millionen), was eine massive "Verländlichung" der Städte bedeutete und eine enorme Anstrengung zur Alphabetisierung und Bildung nach sich zog sowie eine forcierte Steigerung der Arbeitsdisziplin. Diese große Umwandlung wird von einem Wiederaufleben des Nationalismus begleitet, einem Aufschwungs des Karrierismus und dem Auftauchen eines neuen bürokratischen Sichanpassens. In diesem Durcheinander, ironisiert Moshe Lewin, sei die Gesellschaft im gewissen Sinne "klassenlos" gewesen, denn alle Klassen seien formlos und im Verschmelzen gewesen.[3]

2. Machtstreben oder bürokratische Konterrevolution?

Das Schicksal der ersten sozialistischen Revolution, der Triumph des Stalinismus, die Verbrechen der totalitären Bürokratie, ist ohne Zweifel eines der wichtigsten Ereignisse dieses Jahrhunderts. Der Schlüssel zu ihrer Interpretation ist um so wichtiger. Für einige beruht das Prinzip des Bösen in einer schlechten Veranlagung in der menschlichen Natur, einem ununterdrückbaren Machtstreben, das unter verschieden Masken auftauchen kann, eingeschlossen dem Streben, die Menschen gegen ihren Willen glücklich zu machen. Im Gegensatz dazu wollen wir die Wurzeln und die tiefen Triebfedern dessen, was man manchmal das "stalinistische Phänomen" nennt, in der sozialen Organisation und in den Kräften, die es stützten, und denen, die dagegen opponierten, aufspüren.

Der Stalinismus verweist in seinen konkreten historischen Umständen auf eine generelle Tendenz zur Bürokratisierung, die es in allen modernen Gesellschaften gibt. Sie wird grundsätzlich genährt von der gewaltigen Zunahme der gesellschaftlichen Arbeitsteilung (besonders zwischen Hand- und Kopfarbeit) und durch "die Gefahren der professionellen Machtausübung", die ihr immanent sind. In der Sowjetunion war diese Dynamik um so stärker und schneller wirksam als die Bürokratisierung sich auf der Basis von Zerstörung, Mangel, kultureller Rückständigkeit und dem Fehlen von demokratischen Traditionen entwickelte. Von Beginn an war die soziale Basis der Revolution breit und schmal zugleich. Breit insofern, als sie sich auf ein Bündnis der Arbeiter und Bauern stützte, welche die erdrückende Mehrheit der Gesellschaft darstellte. Schmal insofern, als die Arbeiter, in der Minderheit, sehr schnell durch die Verwüstungen des Krieges und die Verluste im Bürgerkrieg dezimiert wurden. Die Soldaten, deren Sowjets 1917 eine wesentliche Rolle spielten, waren im wesentlichen Bauern, die von der Idee des Friedens und der Rückkehr auf den Hof angetrieben waren.

Unter diesen Umständen, war das Prinzip der umgekehrten Pyramide sehr schnell offensichtlich. Es war nicht mehr die Basis, die die Spitze stützte und vorwärtstrieb, sondern der Wille der Spitze, die sich bemühte, die Basis mitzuschleppen. Woher kam die Mechanik der Substitution: Die Partei ersetzte das Volk, die Bürokratie die Partei, der von der Vorsehung geschickte Mensch alle zusammen. Aber diese Konstruktion setzte sich nur aufgrund des Entstehens einer neuen Bürokratie durch, die Ergebnis des Erbes der alten Regimes und des beschleunigten sozialen Aufstiegs der neuen Führer war. Symbolischerweise hatten nach der massiven Rekrutierung des "Lenin-Aufgebots" die wenigen tausend verbliebenen Aktivisten der Oktoberrevolution kein großes Gewicht mehr im Vergleich zu den Hunderttausenden von neuen Bolschewiken, darunter den Karrieristen, die erst dazugestoßen waren, als der Sieg schon sicher war, sowie den Wendehälsen aus der alten Administration.

Das Testament, das Lenin noch kurz vor seinem Tod schrieb,[4]bezeugt sein tiefgreifendes Bewußtsein dieses Problems. Während die Revolution die Angelegenheit des Volkes und der Menschenmassen ist, war, um sich die weitere Entwicklung vorzustellen, der sterbende Lenin bemüht, die Fehler und Tugenden einer Handvoll von Führern abzuschätzen, von denen von nun an beinahe alles abhing.

Wenn auch die gesellschaftlichen Faktoren und die historischen Umstände eine entscheidende Rolle beim Machtaufstieg der stalinistischen Bürokratie spielten, bedeutet das nicht, daß Ideen und Theorien keine Verantwortung für ihren Machtantritt gehabt hätten. Zweifellos hat insbesondere die seit der Machteroberung im Namen des "schnellen Absterbens" des Staates und des Verschwindens der Widersprüche im Volk gepflegte Konfusion zwischen Staat, Partei und Arbeiterklasse die Verstaatlichung der Gesellschaft vorangetrieben und nicht die Vergesellschaftung der Staatsfunktionen. Das Einüben der Demokratie ist eine lange und schwierige Angelegenheit, die nicht in demselben Rhythmus wie die Dekrete der ökonomischen Reformen verläuft. Man braucht Zeit und Energie. Die einfachste Lösung besteht darin, die Organe der Volksmacht, Räte und Sowjets, einem erleuchteten Vormund unterzuordnen: der Partei. Seit 1918 sah es in einigen Fällen praktisch auch so aus, daß das Prinzip der Wahl und der Kontrolle der Verantwortlichen ersetzt wurde durch ihre Nominierung auf Initiative der Partei. Diese Logik führte schließlich zur Unterdrückung des politischen Pluralismus und der Meinungsfreiheit, die für ein demokratisches Leben unerläßlich sind, sowie zur gewaltsamen Unterordnung des Rechts.

Das Räderwerk war um so unerbittlicher, als die Bürokratisierung nicht nur oder hauptsächlich durch eine Manipulation von oben voranschritt. Sie antwortete zuweilen auch auf eine Art Wunsch von unten, auf ein Bedürfnis nach Ruhe und Ordnung, geboren aus dem Überdruß des Krieges und des Bürgerkrieges, der Entbehrungen und des Verschleißes, so daß die demokratischen Kontroversen, die politische Agitation und die ständige Forderung nach Verantwortung eher lästig waren. Marc Ferro hat in seinen Büchern höchst genau diese schreckliche Dialektik hervorgehoben.

So erinnert er daran, daß seit Beginn der Revolution tatsächlich "zwei Herde - der demokratisch-autoritäre an der Basis und der zentralistisch-autoritäre an der Spitze" existierten, während "es 1939 nur noch einen von ihnen gab." Aber für ihn ist die Frage praktisch schon nach einigen Monaten, 1918 oder 1919, mit dem Verfall oder dem Verschwindender Stadtteil - und der Fabrikkomitees erledigt.[5] In einer analogen Sichtweise kommt der Philosoph Lacoue-Labarthe zu einer noch krasseren Folgerung, wenn er meint, daß der Bolschewismus "ab 1920-21 konterrevolutionär" wurde (also noch vor Kronstadt).[6]

Die Angelegenheit ist von größter Wichtigkeit. Es geht nicht darum, in krasser Schwarz-Weiß-Malerei eine Legende des "Leninismus unter Lenin" dem Leninismus unter Stalin entgegenzustellen, die lichtvollen 20er Jahre den düsteren 30er Jahre, als ob im Lande der Sowjets noch nichts angefangen hätte zu faulen. Natürlich war die Bürokratisierung beinahe sofort von Beginn an da, natürlich hatte die polizeiliche Aktivität der Tscheka ihre eigene Logik, natürlich war das politische Zuchthaus der Solowezkij-Inseln in Betrieb nach dem Ende des Bürgerkrieges und vor dem Tod von Lenin, natürlich war die Pluralität der Parteien tatsächlich unterdrückt und die Meinungsfreiheit beschränkt; die demokratischen Rechte in der Partei selbst waren seit dem zehnten Kongreß von 1921eingeschränkt.

Der Prozeß, den wir bürokratische Konterrevolution nennen, ist kein einfaches, datierbares Ereignis wie der Oktoberaufstand. Er wurde nicht an einem Tag gemacht. Er verlief über Entscheidungen, über Auseinandersetzungen und Ereignisse. Die Akteure selber haben nicht aufgehört über seine Unterteilung in Abschnitte zu debattieren - nicht aus Spaß an der historischen Genauigkeit, sondern um zu versuchen, daraus politische Aufgaben abzuleiten. Die Zeitzeugen wie Rosmer, Eastman, Souvarine, Istrati, Benjamin, Zamiatine und Bulgakow (in ihren Briefen an Stalin), die Gedichte von Majakowski, der Kummer von Mandelstam oder von Ts‚taiva und die Notizbücher von Babel usw. können dazu beitragen, die verschiedenen Facetten des Phänomens, seine Entwicklung, sein Fortschreiten zu klären.

Nichtsdestoweniger bleibt ein Kontrast, ein harter Bruch, in der Innenpolitik wie auch in der internationalen Politik zwischen Anfang der 20er Jahre und den schrecklichen 30erJahren. Wir bestreiten nicht, daß die autoritären Tendenzen viel früher begonnen haben, die Oberhand zu gewinnen, noch bevor die bolschewistischen Führer wie von Panik ergriffen auf den Hauptfeind (der übrigens sehr real war), die imperialistische Aggression und die kapitalistische Restauration, starrten und den "Nebenwiderspruch", nämlich die Bürokratie, übersahen oder unterschätzten - einen Feind, der sie von innen zerrieb und am Ende verschlang. Dieses Szenario war zu jener Zeit noch nie dagewesen und schwierig vorzustellen. Man brauchte Zeit, um es zu verstehen und zu interpretieren, um daraus Konsequenzen zu ziehen. Wenn auch Lenin ohne Zweifel das Alarmsignal, das die Krise von Kronstadt bedeutete, besser verstanden hatte und eine tiefe politische Neuorientierung vorschlug, so gelangte Trotzkis doch erst viel später [1936] in seiner "Verratenen Revolution" dahin, den politischen Pluralismus zu einem Prinzip auch nach der Machtübernahme zu machen - abgeleitet aus der Heterogenität des Proletariats selbst.

Die Mehrzahl der Zeitzeugen und der Studien über die Sowjetunion oder die bolschewistische Partei [7] erlauben es nicht, in der engen Dialektik von Bruch und Kontinuität, die große Wende der dreißiger Jahre zu ignorieren. Der Bruch ist dabei mit Abstand das hervorstechende Kennzeichen, dokumentiert durch Millionen und Abermillionen von Hungertoten, Deportierten und Opfern der Prozesse und der Säuberungsaktionen. Wenn ein solches Ausmaß von Gewalt erforderlich war, um zum "Parteitag der Sieger" von 1934 und zur Festigung der bürokratischen Macht zu gelangen, dann deshalb, weil das revolutionäre Erbe zäh gewesen sein mußte und es nicht leicht war, zum Ziel zu gelangen.

Dies nennen wir eine Konterrevolution, viel massiver, viel sichtbarer, viel niederschmetternder als alle autoritären Maßnahmen, die im Feuer des Bürgerkrieges getroffen wurden - so beunruhigend sie auch gewesen waren. Diese Konterrevolution und ihre Auswirkungen konnte man in allen Bereichen spüren, sowohl in der Wirtschaftspolitik (Zwangskollektivierung, Entwicklung des Gulag in großem Stil), in der internationalen Politik (in China, Deutschland, Spanien), in der Kulturpolitik oder selbst im Alltagsleben, was Trotzki den "häuslichen Thermidor" nannte.

3. "Verfrühte" Revolution?

Nach dem Untergang der Sowjetunion hat unter den Verteidigern des Marxismus, besonders in den angelsächsischen Ländern, eine These wieder Zuspruch gewonnen: Die Revolution sei von Anfang an ein zum Scheitern verurteiltes Abenteuer gewesen, weil sie zu früh kam. In Wirklichkeit ist der Ursprung dieser These sehr früh angesiedelt, nämlich in den Ausführungen der russischen Menschewiki und in den Analysen von Kautsky. Schon1921 schrieb er: "Vier Jahre Blut und Tränen und Ruin hätten die Bolschewiks Rußland erspart, wenn sie die menschewistische Selbstbeschränkung auf das Erreichbare besessen hätten, in der sich der Meister zeigt."[8]

Diese Formulierung ist erstaunlich entlarvend. Hier haben wir jemanden, der gegen die Idee einer Vorhutpartei polemisiert, sich aber im Gegenzug eine allmächtige Partei vorstellt, die als Lehrerin und Pädagogin in der Lage ist, den Gang und den Rhythmus der Geschichte in ihrem Sinne zu regeln. Als ob die Kämpfe und die Revolutionen nicht auch ihre eigene Logik hätten. Sie "selbstbeschränken" zu wollen, während sie sich entwickeln, heißt, sich schnell auf die Seite der etablierten Ordnung zu begeben. Es handelt sich also nicht mehr darum, die Ziele der Partei "selbstbeschränken" zu wollen, sondern schlicht die Bestrebungen der Massen zu beschränken. In diesem Sinne haben sich die Eberts und Noskes, als sie Rosa Luxemburg ermordeten und die bayrischen Räte zerschlugen als die Virtuosen der "Selbstbeschränkung" gezeigt.

In Wirklichkeit führt die Überlegung unvermeidlich zu der Idee einer gut geordneten und geregelten Geschichte, wie ein Uhrwerk, wo alles zu seiner Zeit und gerade rechtzeitig abläuft. Diese Denkweise begibt sich auf das Niveau des platten historischen Determinismus, den man den Marxisten sooft vorgeworfen hat, wonach der Unterbau detailgenau den entsprechenden Überbau bestimmen würde. Man übergeht einfach die Tatsache, daß die Geschichte keine Richtungskraft hat; Ereignisse eröffnen eine Palette von Möglichkeiten , gewiß nicht alle, aber wohl eine bestimmte Bandbreite von Möglichkeiten. Die Handelnden in der russischen Revolution haben sich diese nicht als isoliertes Abenteuer vorgestellt, sondern als das erste Element einer europa- und weltweiten Revolution. Die Niederlagen der deutschen Revolution oder des spanischen Bürgerkrieges, die Entwicklungen der chinesischen Revolution, der Sieg des Faschismus in Italien und Deutschland waren nicht von vornherein festgelegt.

In diesem Zusammenhang von einer verfrühten Revolution zusprechen, läuft darauf hinaus, von der Warte eines historischen Tribunals aus ein Urteil zu verkünden, statt sich der inneren Logik des Konflikts und der sich gegenüberstehenden politischen Richtungen zu stellen. Von diesem Gesichtspunkt aus waren die Niederlagen keine Beweise von Fehlern oder Unrecht, ebenso wenig wie die Siege Beweise der Wahrheit waren. Denn es gibt kein endgültiges Urteil. Es kommt darauf an, für jede große Entscheidung, die getroffen wurde, bei jeder großen Gabelung der Geschichte Schritt für Schritt den Weg einer anderen möglichen Geschichte aufzuzeigen(NEP, Zwangskollektivierung, deutsch-sowjetischer Pakt, spanischer Bürgerkrieg, Sieg des Faschismus). Nur das ermöglicht das Verständnis der Vergangenheit und erlaubt uns, Lehren daraus zu ziehen.

Es gibt eine Reihe anderer Aspekte, die man anläßlich dieses Geburtstages diskutieren könnte. Wir haben uns auf "Drei Fragen des Oktobers" beschränkt, die heute in den Debatten entscheidend sind. Aber das Kapitel der "Lehren des Oktobers" aus strategischer Sicht (revolutionäre Krise, Doppelherrschaft, Verhältnis der Parteien, Massen und Institutionen, Fragen der Ökonomie des Übergangs), ihrer Aktualität und ihrer Grenzen ist selbstverständlich genauso wichtig. Es wäre auch wichtig, gegenüber der Verteufelung, die alles Elend dieses Jahrhunderts auf die Revolution zu schieben beabsichtigt, deutlich auszudrücken, daß die Sowjetunion sicherlich das Land ist, auf dessen Territorium sich in dreißig Jahren die meisten gewaltsamen Todesfälle konzentriert haben, aber man kann sie nicht mir nichts dir nichts der Revolution zuschreiben, darunter die vielen zig Millionen des ersten Weltkrieges, der ausländischen Intervention, des Bürgerkrieges oder des zweiten Weltkrieges. Es wäre genauso unmöglich, der französischen Revolution die Leiden, die durch die Intervention der Monarchien oder die napoleonischen Kriege verursacht wurden, zuzuschreiben. Vielleicht ist es angebracht, in diesen Zeiten der Restauration mit diesen herrlichen Zeilen von Kant zu enden, geschrieben 1795 in der Blütezeit der thermidorianischen Reaktion: ". ein solches Phänomen in der Menschengeschichte vergißt sich nicht mehr, weil es eine Anlage und ein Vermögen in der menschlichen Natur zum Besseren aufgedeckt hat, dergleichen kein Politiker aus dem bisherigen Lauf der Dinge herausgeklügelt hätte, und welches allein Natur und Freiheit, nach inneren Rechtsprinzipien im Menschengeschlechte vereinigt, aber, was die Zeit betrifft, nur als unbestimmt und Begebenheit aus Zufall verheißen konnte. Aber wenn der bei dieser Begebenheit beabsichtigte Zweck auch jetzt nicht erreicht würde, wenn die Revolution, oder Reform, der Verfassung eines Volkes gegen das Ende doch fehlschlüge, oder, nachdem diese einige Zeit gewähret hätte, doch wiederum alles ins vorige Gleis zurückgebracht würde (wie Politiker jetzt wahrsagen), so verliert jene philosophische Vorhersagung doch nichts von ihrer Kraft. - Denn jene Begebenheit ist zu groß, zu sehr mit dem Interesse der Menschheit verwebt, und, ihrem Einfluße nach, auf die Welt in allen ihren Teilen zu ausgebreitet, als daß sie nicht bei den Völkern, bei irgend einer Veranlassung günstiger Umstände, in Erinnerung gebracht und zu Wiederholung neuer Versuche dieser Art erweckt werden sollte."

Nichts ist imstande, das, was in zehn Tagen die Welt erschütterte, für immer auszulöschen.

1 Vgl. La Revolution d'Octobre et le mouvement ouvrier europ‚en, collectif, EDI 1967.

2 In La revoulution de 1917, Albin Michel, 1997, sowie Naissance et effondrement du regime communiste en Russie [Entstehung und Zerfall des komm. Regimes in Rußland], Livre de Poche, 1997.

3 Moshe Lewin: La formation de l'Union Sovietique [Die Gründung der Sowjetunion], Gallimard, 1985.

4 Moshe Lewin: Le dernier combat de L‚nine [Lenins letzter Kampf], Minuit, 1979

5 Marc Ferro: Les soviets en Russie [Die Sowjets in Ruálands], collection Archives.

6 Revue Lignes, Nr. 31 (Mai 1997).

7 Le Moscou sous Lenine [dt.: Moskau zu Lenins Zeiten, ISP- Verlag] von Alfred Rosmer, Le Leninisme sous Lenine [Der Leninismus unter Lenin] von Marcel Liebman, L'Histoire du parti bolchevik [Die Geschichte der bolschewistischen Partei] von Pierre Brou‚, Staline von Souvarine und von Trotzki, sowie die Arbeiten von E.H. Carr, Tony Cliff, Moshe Lewin und David Rousset.

8 K. Kautsky: Von der Demokratie zur Staats-Sklaverei. Eine Auseinandersetzung mit Trotzki, Verlagsgenossenschaft "Freiheit", Berlin 1921, S. 72.

Der Autor lehrt an der Universität Paris-Vincennes. Er ist Autor einer Reihe von Büchern u.a. zu Marx. Er ist führendes Mitglied der Ligue Communiste R‚volutionnaire (LCR), der französischen Sektion der Vierten Internationale, und war einer der Führer der Studentenrevolte vom Mai '68.

Übers.: Erwin Grabowski, Björn Merten

aus: Inprekorr 313 (Internationale Pressekorrespondenz). inprekorr@oln.comlink.apc.org