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KOMMUNISTISCHE STREITPUNKTE - Zirkularblätter - Nr. 7 - 20.03.2001 - Onlineversion

Eva D. Abendroth

Ohr an der Plattform

Zu Hans-Jürgen Ohrs

Anmerkungen zur „Plattform“ der 'Übergänge zum Kommunismus'



Erst eine Seite vor Schluß, erfährt die geduldige Leserin (der Leser), was diese Anmerkungen mit der Plattform der Übergänger zu tun haben könnten. Zitiert werden auf Seite 7 der achtseitigen Anmerkungen plötzlich und unerwartet folgende Zeilen daraus:

Bloßlegung des bürgerlichen Privilegs zu arbeitsloser Existenz, das den wirklichen Zwang zur Arbeit in ein scheinbar zufällig-individuelles Schicksal verkehrt. Verteilung der gesellschaftlich notwendigen Arbeit auf alle arbeitsfähigen Mitglieder der Gesellschaft, d.h. Abschaffung jenes Privilegs des Besitzes.

Sonst hat den Autor der Anmerkungen an dieser Plattform offensichtlich nichts weiter erregt oder betrübt, denn er verliert buchstäblich kein Wort über den näheren oder weiteren Zusammenhang, in dem diese Zeilen stehen.

Was den näheren Zusammenhang betrifft, so wäre mit der Fortsetzung des obigen Zitats geklärt, daß es den Übergängern nicht um die Albernheit geht, „ein paar faule Bourgeois“, wie Hans-Jürgen Ohr sie sieht, „aus ihrem Lotterbett und von ihren ewigen Ferieninseln in die Fabrik“ zu treiben. Vielmehr heißt es im Plattformzusammenhang an dieser Stelle weiter: Nur so wird für alle die gesellschaftlich notwendige Arbeit und ihr vernünftiges Maß transparent und damit soweit reduzierbar, daß uns Zeit zur freien Entfaltung unserer individuellen „produktiven Triebe und Anlagen“ (Marx) zuwächst, die Arbeit daher überhaupt ihren Zwangscharakter verlieren und sich in unser „erstes Lebensbedürfnis“ (Marx) verwandeln kann. Hierzu raunt HJ. Ohr nur dunkel: „Mit dem Aufruf nach allgemeinen Arbeitszwang enthüllt sich nicht der ideologische Schleier der bürgerlichen Verkehrsverhältnisse..“

Die von ihm zitierten wenigen Zeilen interpretiert Hans-Jürgen Ohr im Übrigen vollkommen richtig, wenn er die Worte Verteilung der gesellschaftlich notwendigen Arbeit auf alle arbeitsfähigen Mitglieder der Gesellschaft durch „allgemeinen Arbeitszwang“ ersetzt, was einer Stelle im Kommunistischen Manifest entspricht, wo es lapidar „Gleicher Arbeitszwang für alle“ heißt. Indem er aber den ganzen inhaltsreichen Gedanken auf einen angeblichen „Aufruf nach allgemeinen Arbeitszwang“ reduziert, um der Plattform Provokation zu antisemitischen Ressentiments zu unterstellen, landet er in blanker Demagogie. Durch die von uns als kommunistische Programmatik ins Auge gefaßte Verteilung der gesellschaftlich notwendigen Arbeit auf alle Arbeitsfähigen, die er zum aktuellen „Appell an die ‚arbeitende Klasse‘“ umdeutet, sieht er die „sozial Niedergehaltenen“, die „zu kurz gekommenen Kleinbürger“, die „Masse der Degradierten“, welche für jede Simplifizierung ihres Elends empfänglich seien (S.7) zum Antisemitismus angestachelt. Von jenem gebildeten kleinbürgerlichen Pack, das von je her antisemitisch war und ist, aber nicht als geistiger Brandstifter geoutet werden will, scheint er nichts wissen zu wollen, aber uns warnt er vor einem „Spiel mit dem Feuer“ (S.8).

Allerdings, provokant sind die Eckpunkte der Plattform schon mit voller Absicht angelegt, und daß die Provokation da ankam, wo sie hin sollte, führt Hans-Jürgen Ohr mit seinen Anmerkungen zur Plattform der Übergänge zum Kommunismus geradezu exemplarisch vor. Dabei kommt eine Art grandioses Selbstmißverständnis des linken Kleinbürgers, bzw. der kleinbürgerlichen Linken heraus.

Aufgeschreckt durch Eckpunkt Nummer 1 sorgt sich H.J. Ohr zunächst seitenlang um die besondere Existenzberechtigung speziell des gebildeten Kleinbürgertums und sucht sich von Marx über Brecht, Lukacs, Horkheimer und Sohn-Rethel bis zu Negt prominente Zeugen für scheinbar ewige Unentbehrlichkeit der kleinbürgerlichen Intelligenz zusammen, z.B. Brecht: „Für was brauchen die Arbeiter die Intellektuellen? – Zur Ideologiezertrümmerung“. Den im Gegensatz zum alten Marx allseits beliebten „jungen Marx“ zitierend, reklamiert er als Argument für sich dessen (leider nicht belegte) Aussage: „Das Herz der Revolution ist das Proletariat, ihr Kopf die Philosophie“. Aber, falls das so wirklich von Marx stammt, hat er da was von den Philosophen gesagt?

Wenn, wie es nach dem zur Debatte stehenden programmatischen Eckpunkt anzustreben ist, alle Menschen über genügend Zeit zur freien Entfaltung ihrer individuellen produktiven und kreativen Anlagen verfügen, wird es auch Sache individueller Entscheidungen sein, zu philosophieren oder sich sonstwie intellektuell zu betätigen. Eine der Voraussetzungen dafür ist allerdings, daß der heute noch bezahlte Philosoph von Profession seinerseits zu verschiedenen und wechselnden gesellschaftlichen Tätigkeiten übergeht, wobei er möglicherweise zunächst noch zu der ein oder anderen verbleibenden gesellschaftlich notwendigen, aber weniger attraktiven Arbeit gedrängt, d.h. auch „gezwungen“ werden muß (mann sehe sich als relativ harmloses Beispiel die für Männer bereits allzu unbequemen Forderungen der jüngst entschlafenen Frauenbewegung an). Noch dazu werden gerade hauptberufliche Philosophen zu den entbehrlichsten intellektuellen Figuren der Zukunft gehören, bzw. sind es bereits, wie dies Friedrich Engels u.a. mit folgenden Worten erkenntnistheoretisch einleuchtend dargelegt hat: „Sobald an jede einzelne Wissenschaft die Forderung herantritt, über ihre Stellung im Gesamtzusammenhang der Dinge und der Kenntnis von den Dingen sich klarzuwerden, ist jede besondre Wissenschaft vom Gesamtzusammenhang überflüssig. Was von der ganzen bisherigen Philosophie dann noch selbständig bestehen bleibt, ist die Lehre vom Denken und seinen Gesetzen – die formelle Logik und die Dialektik. Alles andre geht auf in die positive Wissenschaft von Natur und Geschichte“ (MEW Bd. 19, S. 207).

Unfreiwillig komisch wird Ohr, wenn er, auf Horkheimer gestützt, allen Ernstes versucht, „das Bündnis des Proletariats mit dem Kleinbürgertum“ (S.3) als letzten Ausweg nahezulegen: „Wenn das Proletariat aus psychischen Gründen handlungsunfähig ist, durch die ‚geistige Aktion‘ (Karl Korsch), das historisch aufgehäufte Elend der Menschheit zu beenden, welche gesellschaftlichen Kräfte sollten ihm zur Seite stehen?“ Ja wenn – da könnte wohl wirklich nur noch ein ganzes Heer von akademisch geschulten Psychiatern helfen.

Der Proletarier, den H.J. Ohr uns vorführt, ist ein einziges Bild des Jammers, aber – fast möchte frau ausrufen: Göttin sei Dank! – seine Klasse bildet, nach Ohr, nur noch den proletarischen Rest in der beschleunigten technologischen Entwicklung der Wissensgesellschaft (letztere, sowie der „proletarische Rest“ von Ohr vorsichtshalber in distanzierende Anführungszeichen gesetzt). Indem er den Arbeiter „in seiner Entmenschlichung zur Ware“ auffaßt, statt an ihm die bürgerliche Freiheit des Warenbesitzers wahrzunehmen, der seine Arbeitskraft als Ware zu Markte trägt und ständig gezwungen ist, deren Qualität den revolutionierten Anforderungen des Arbeitsmarktes anzupassen und damit neue Fähigkeiten zu entfalten, verbaut Ohr sich jeden Ausblick auf eine Umwälzung jener „bourgeoisen Daseinsweise“, von der in der Einleitung der Plattform die Rede ist. Während diese weiterhin am Proletariat bzw. „der Masse der proletarisierten Individuen“ als Subjekt dieser Umwälzung festhält, das einen ersten großen Anlauf zum revolutionären Sturz der Weltherrschaft des Kapitals bereits hinter sich gebracht hat, meint Ohr daß das Proletariat „in den zwanziger und dreißiger Jahren wie heute“ als „die geschurigelte Klasse im Grunde nur reaktiv agierte“. Darüber ließe sich an Hand des historischen Materials streiten, aber unserem Kritiker geht es bei seinen Anmerkungen gar nicht um genauere Kenntnis der wirklichen Geschichte des Übergangs zum Kommunismus. Vielmehr spricht aus dem Horrorbild, das er sich vom Proletariat entwirft (als „subalterne Klasse“ „apathisch, stumm und defätistisch“, „am stärksten unter der Feindseligkeit der bürgerlichen Gesellschaft“ leidend und von ihm zur „aufzuklärenden und zu aktivierenden Klientel“ gemacht), die pure, durchaus berechtigte Angst des Kleinbürgers, selbst als Intellektueller aus jener „Wissensgesellschaft“ endgültig ins Proletariat abzusinken, wobei er an der proletarischen Existenz nichts außer Stumpfsinn und Elend wahrzunehmen vermag. Ich kann Hans-Jürgen Ohr nur dringend raten sich dort, wo er vermutlich längst angekommen ist, im Proletariat, mit offenen Augen umzusehen und dadurch schon mal bei sich selbst mit der Zertrümmerung der kleinbürgerlichen Ideologie zu beginnen, statt sich weiterhin darin zu verlieren. Als hilfreiche Lektüre, um sich ein Bild vom modernen Proletariat zu machen, empfiehlt sich u.a. die Sondernummer der Übergänge „Selbstverwirklichung als Flop“ von Robert Schlosser. Obwohl bald sechs Jahre alt, ist diese wie Ohrs Anmerkungen zeigen, noch immer brandaktuell.

Wenn sich Ohr der von ihm entworfenen armseligen Karikatur der revolutionären Klasse dennoch als Bündnispartner andient, so nicht zuletzt, weil ihm auf der anderen Seite auch der Begriff der Bourgeoisie, d.h. der Kapitalistenklasse, abhanden gekommen ist. Diese war (war!), nach Ohr, „in den Gründerzeiten noch Subjekt ihrer gesellschaftlichen Reproduktionsbedingungen“, was er als von wem auch immer verliehenes „Vorrecht“ bezeichnet. Seither wirkt statt ihrer eine „soziale Kraft“ (ich erspare mir hier ihre verwirrende und auch noch Marx in die Schuhe geschobene Herleitung), die sich – wer hat das jetzt nicht erwartet? – als das berühmt berüchtigte „automatische Subjekt“ entpuppt, welches, hervorgerufen durch angeblichen Formwandel der kapitalistischen Produktionsweise von der formellen zur reellen Subsumtion, „sukzessive alle menschlichen Bereiche sich einverleibt und unterordnet“.

Das läuft alles in allem auf Leugnung der Klassenkonfrontation zwischen Bourgeoisie und Proletariat hinaus, deren Konturen Ohr bis zur Unkenntlichkeit verwischt, zugunsten seiner düsteren Vision von den vereinzelten Einzelnen, die allesamt leiden. Dem armen Bourgeois „höhlt sich“, unter der Knute des automatischen Subjekts, „seine Kultur dadurch aus, wie sie dem kapitalistischen Imperativ der ‚Plusmacherei‘ folgt und in einer Weise durch die Organisation und Vernutzung fremder Arbeit beansprucht wird, daß ihm Kontemplation und Muße (trotz Ferieninsel und Lotterbett) als die rekreativen Momente bürgerlichen Lebens schlechthin, zusehends abhanden kommen“.

Damit sind wir die beiden Subjekte des tatsächlichen Geschehens – obwohl Ohr sie auch mal die bestimmenden Klassen nennt – los und können uns endlich ungestört dem Hauptsorgenkind dieser vorgeblichen Anmerkungen zur Plattform zuwenden, denn, sagt Hans-Jürgen Ohr: „Obwohl es im Machtgefüge der beiden bestimmenden Klassen scheinbar eine subalterne Position einnimmt, ist die Funktion des Kleinbürgertums keinesfalls zu vernachlässigen“ („Wohl wahr!“ rufen die Volksparteien).

„Diese Spezies“, schreibt Ohr, „stellt im eigentlichen, ökonomiekritischen Sinne keine Klasse dar, fehlen ihr doch die Produktionsmittel, um als ‚kaufende Gewalt‘ der Arbeit des Proletariats sich zu bemächtigen. Soziologisch umfaßt der Begriff des Kleinbürgers im wesentlichen Selbständige (Freiberufler wie Ärzte, Rechtsanwälte etc.), kleine Kaufleute, aber auch Lehrer, Journalisten und verschiedene andere Dienstleister“. Abgesehen davon, daß er die Bauern und Handwerker als traditionelle Mittelständler vergessen hat, auch den meisten der von ihm Genannten fehlt es nicht an Produktionsmitteln zwecks Ausbeutung fremder Arbeitskraft. Das ist ja das Charakteristikum all jener kleinen Bürger, daß sie mit unermüdlichen Bienenfleiß an der bürgerliche Daseinsweise festhalten und nach jeder Krise stets aufs Neue damit beginnen, Arbeit und Kapital – meist geliehenes – zusammenzuführen, zu Unternehmungen (Arzt- oder Rechtsanwaltspraxen, Nachrichten- oder Werbeagenturen, Öko-Bauernhöfe oder Öko-Institute, High-Tech-Entwicklung pipapo), in denen, neben allem beabsichtigten Guten, aus investiertem Kapital stets mehr Kapital – und sei es nur für die Banken – produziert werden muß. HJ.Ohr unterschätzt die Potenz der kleinbürgerlichen Schichten, als ergänzender Teil der bürgerlichen Seite der Gesellschaft neue Großbourgeoisie hervorzubringen (prominentes Beispiel Bill Gates). Die kleinen Bürger mit ihren kleinen Kapitalanteilen bilden eine offenbar unzertrennliche Begleiterscheinung der kapitalistischen Entwicklung. Rosa Luxemburg beschrieb ihre Funktion für technische Revolutionen und die Schaffung immer neuer ausbeutbarer Produktionszweige einst in ihrer Polemik gegen Bernstein (Bd.1/1, S.386/87). Nur wenige Kleinbürger erreichen die bourgeoisen Höhen und können sich dort, wo ihr ganzes Streben sie hinzieht, als echte Bourgeois auf Dauer etablieren. Die allermeisten stößt die Konkurrenz früher oder später in die Masse der Eigentumslosen hinab. Luxemburg vermerkte „ein periodisches Abmähen der Kleinkapitale, die dann immer wieder rasch aufkommen, um von neuem durch die Sense der Großindustrie abgemäht zu werden".

Damit hat die Bourgeoisie natürlich gleichzeitig ein politisches Problem am Hals, denn – anders als Ohr es sieht und gerade aufgrund historischer Erfahrung – bleibt sie gefaßt auf erneuten revolutionären Ansturm der proletarisierten Massen und versucht diese u.a. mit ökonomischer Prävention, d.h. mit Subventionen und Krediten zwecks Existenzgründungen als mittelständisches Potential zu reaktivieren.

Auch H.J. Ohr möchte die kleinbürgerliche Daseinsweise verewigen, vor allem aber die besondere Figur des Intellektuellen. Um solches zu bewerkstelligen, vernebelt er den Marxschen Begriff der abstrakten Arbeit, unterteilt diese in (konkret) ausführende und (konkret) planende und fährt fort: „Vor der Zukunft der rasanten Verwissenschaftlichung des Produktions­prozesses (Robotik, Nanotechnologie, Gentechnologie) gewinnt der von Alfred Sohn-Rethel gemachte Einwand, daß das in der unmittelbaren Produktion beschäftigte Proletariat aufgrund der wissenschaftlichen Komplexität der industriellen Fertigung ohne die ‚wissenschaftliche Intelligenz‘ nicht in der Lage wäre, zu produzieren, an Gewicht. Dieser Einspruch soll nicht dafür herhalten, daß die in der Produktion Beschäftigten vor der planerischen Leistung der ‚erstklassigen Köpfe‘ noch mehr zu Kreuze kriechen …“ (aber doch auch nicht weniger in Ewigkeit Amen). Nach diesem Plädoyer für den Fortbestand der Teilung von Kopf- und Handarbeit verwandelt Ohr etwas abrupt die wissenschaftliche Intelligenz in jene paar faulen Bourgeois, die angeblich wir von Lotterbetten und Ferieninseln in die Fabrik treiben wollten, um unserer Plattform eine Tendenz zum Antisemitismus anzudichten. Das war’s: Der ins Demagogische gewendete Aufschrei des vereinzelten einzelnen Planers, der einer von der kapitalistischen Produktionsweise in Gang gesetzten und rasant beförderten Aufhebung abgesonderter Kopfarbeit nicht ins Auge zu sehen wagt, woraus dagegen schon das kommunistische Manifest die politischen Konsequenzen des gleichen Arbeitszwangs für alle zog, bis schließlich wissenschaftliche Intelligenz sowenig wie Philosophie noch Sache einer besonderen menschlichen Spezies sein wird. PS: Mit dem Überflüssigwerden aller abgesonderten politischen Planer, das ebenfalls die Schmerzgrenze der kleinbürgerlichen Linken heftig strapaziert, befaßt sich der vierte Eckpunkt.

 

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