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KOMMUNISTISCHE STREITPUNKTE - Zirkularblätter - Nr. 6 - 10.10.2000 - Onlineversion

Hans-Jürgen Ohr

Anmerkungen zur

"Plattform" der 'Übergänge zum Kommunismus'



Die Zeitschrift 'Übergänge' versteht sich - innerhalb einer in der "neuen Unübersichtlichkeit" dissoziierten Linken - einer strengen Marxphilologie verpflichtet. Eine wesentliche Ursache von Revisionismus resp. Reformismus, Kulturalismus, Moralismus etc. sehen ihre Autoren in einer zunehmenden Entfernung, wenn nicht Substitution vorherrschender linker Strömungen und Parteien von den bzw. der Marxschen Kategorien der 'Kritik der politischen Ökonomie'. In diesem Verständnis erscheint eine Sozialkritik, welche den von Marx als grundlegend erkannten Antagonismus von Kapital und Arbeit ignoriert, als absurd und wirkungslos. Schließlich vollzieht sich der Übergang von der kapitalistischen Produktionsweise hin zu einer kommunistischen Gesellschaft nicht naturwüchsig, ohne Willen und Bewußtsein der „vereinzelten Einzelnen“; vielmehr ist er Prozeß und Resultat von vielfältigen alltäglichen Formen des Klassenkampfes. Indem das bürgerliche Individuum sein Selbst außerhalb der Kategorien von Kapital und Arbeit begreift, rationalisiert es sein Leben, Erfolge wie Mißerfolge, Glück und Leid als dem persönlichen Vermögen oder dem Zufall geschuldet. Die Marxschen Kategorien sind in sofern die unabdingbare Voraussetzung zum Verständnis des Einzelnen ob der Mechanismen und Prozesse, die ihn vergesellschaften. Arbeit ist für Marx die "Fundamentalkategorie" der Vergesellschaftung schlechthin; in den Bänden des 'Kapital' rekonstruiert er die soziale Logik und Eigendynamik, den Formwandel, welcher der Produktion und Reproduktion menschlichen Lebens durch Arbeit entspringt. Welche kognitive Hilfestellung vermögen die Marxschen Kategorien als "objektive Gegenstände" der Darstellung der ökonomischen Prozesse den verschiedenen Einzelnen zur Erklärung der sozialen Wirklichkeit heute zu geben? Gelingt es mittels dieser Begriffe den sich einander Verschließenden eine Verbindung zwischen ihrem Leben und den gesellschaftlichen Verhältnissen herzustellen?

1. Der Marxismus als Kritik der bürgerlichen Gesellschaft

Marx erhebt den Anspruch in seiner 'Kritik der politischen Ökonomie' die grundsätzliche Ursache der sozialen Ungleichheit in der bürgerlichen Gesellschaft entdeckt bzw. wissenschaftlich auf den Begriff gebracht zu haben.

Jede ihm voraufgehende Sozialkritik insbesondere der Frühsozialisten resp. Anarchisten - blieb im Idealismus und Voluntarismus stecken, wie sie den gesellschaftskonstitutiven Gegensatz von Kapital und Arbeit ignorierte. Indem Marx die Mehrwertproduktion, d.h. den ungleichen Tausch, zwischen den Produzenten einerseits und dem Besitzer von Produktionsmitteln andererseits, als den materiellen Grund des Herrschaftsverhältnisses zwischen Proletariat und Bourgeoisie entdeckte, entmystifizierte und entmoralisierte er zugleich die Sozialkritik. Nicht aus reiner Willkür und bloßem Herrschaftsdünkel tat das sich von der politischen Bevormundung des Adels befreite Bürgertum gut daran, die Freiheit auf ihre Klasse zu beschränken. Durch die Aneignung fremder Arbeit und der ausschließlichen Bezahlung der kreatürlichen Unterhaltskosten des Arbeiters sicherte es sich einen nicht unerheblichen quantitativen Überschuß, von Marx als Mehrwert bezeichnet. Die Funktionsweise dieses asymmetrischen sozialen Verhältnisses ist folglich an die einander antagonistisch gegenüberstehenden Klassen Bourgeoisie und Proletariat gebunden. Der Gegensatz von Produktionsmitteleignern und auf den Verkauf ihrer Arbeitskraft Zurückgeworfenen wird differenziert durch eine dritte Kategorie sozialen Daseins, das Kleinbürgertum. Diese Spezies stellt im eigentlichen, ökonomiekritischen Sinne keine Klasse dar, fehlen ihr doch die Produktionsmittel, um als "kaufende Gewalt" der Arbeit des Proletariats sich zu bemächtigen. Soziologisch umfaßt der Begriff des Kleinbürgers im wesentlichen Selbständige (Freiberufler wie Ärzte, Rechtsanwälte etc.), kleine Kaufleute, aber auch Lehrer, Journalisten und verschiedene andere Dienstleister. Obwohl es im Machtgefüge der beiden bestimmenden Klassen scheinbar eine subalterne Position einnimmt, ist die Funktion des Kleinbürgertums im Klassenkampf keinesfalls von zu vernachlässigender Bedeutung.

Gegenüber den voraufgehenden Gesellschaften klassifiziert Marx die bürgerliche als eine von sozialer Dynamik bestimmte, getrieben von einem permanenten Spannungsverhältnis zwischen den Produktivkräften bzw. dem technologischen Entwicklungsstand des menschlichen Arbeitsvermögens einerseits und den Produktionsverhältnissen, also den Eigentums- resp. institutionalisierten Herrschaftsverhältnissen andererseits. Diese soziale Kraft, innerhalb der jeder mit jedem im ökonomischen Konkurrenzkampf steht, läßt die Klassen und Zwischenschichten weder qualitativ noch quantitativ zur Ruhe kommen: ein depossedierter Bourgeois findet sich neben einem proletarischen Parvenü zwischen den Fronten wieder. Seit die bürgerliche Gesellschaft Gegenstand der Marxschen Analyse war, hat sie sich - nicht in grundsätzlichem Widerspruch zu seinen Prognosen - qualitativ verändert. Dieser Formwandel der kapitalistischen Produktionsweise, von der "formellen" zur "reellen" Subsumtion, verschärft das Leben jedes Einzelnen dadurch, wie das Kapital als "automatisches Subjekt" wie "selbstverwertender Wert" sukzessive alle menschlichen Bereiche sich einverleibt und unterordnet. War die Bourgeoisie in den Gründerzeiten noch Subjekt ihrer gesellschaftlichen Reproduktionsbedingungen, so büßt sie dieses Vorrecht durch das wachsende Eigenleben von geronnener, "verdinglichter" menschlicher Arbeit, Kapital, ein. Obgleich das Bürgertum seine führende soziale Stellung nicht verliert, höhlt sich doch seine Kultur dadurch aus, wie sie dem kapitalistischen Imperativ der "Plusmacherei" folgt und in einer Weise durch die Organisation und Vernutzung fremder Arbeit beansprucht wird, daß ihm Kontemplation und Muße als die rekreativen Momente bürgerlichen Lebens schlechthin, zusehends abhanden kommen. Die wachsende Kapitalkonzentration hat zur Folge, daß die Verfügungsgewalt von Produktionsmitteleignern durch Aktiengesellschaften und angestellte Manager eingeschränkt wird. Ein Abtreten der Entscheidungsbefugnis über Inhalt und Form der Produktion an bezahlte Spezialisten führt nicht zu einer Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise und der ihr komplementären Herrschaftsform. Allerdings ändert sich dadurch die Klassensoziologie des Kapitalismus. Allein aus quantitativen Gründen ist das Wirtschaftsbürgertum (aktuell repräsentiert es weit weniger als ein Zehntel der Bevölkerung) gezwungen, nennenswerte Teile des Kleinbürgertums mit der Verwaltung seiner Geschäfte zu betrauen; obwohl jene formal, als Produktionsmittellose, dem Proletariat zuzuordnen sind, agiert diese "Funktionselite" im Sinne des Kapitals. Damit ist nicht die Marxsche Klassenbestimmung obsolet, eine aktualisierte Sozialkritik hat sich nun auf die zunehmende Heterogenität des Kleinbürgertums zu konzentrieren.

2. Zur Sozialpsychologie des Kapitalismus

Die kapitalistische Produktionsweise ist geprägt von einer eigentümlichen Verdoppelung und Entzweiung der gesellschaftlichen Kräfte. Diese Verdoppelung zeigt sich nicht nur im dialektischen Materialismus, als Spannungsverhältnis von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen resp. Ökonomie und Politik, sie teilt selbst die Produktivkräfte in 'objektive' und 'subjektive' Faktoren. Unter dem Begriff des subjektiven Faktors faßt sich die lebendige menschliche Arbeit, mit ihren sozialen und psychischen Implikationen; hinter dem objektiven Faktor verbirgt sich das Kapital, dessen Artefakt hinter der geschichtlichen und gesellschaftlichen Verdinglichung verschwindet. Bedingen sich Kapital und Arbeit als gleichsam genuine Momente des mehrwertbestimmten Produktionsprozesses, so entspringt ihre analytische Trennung, innerhalb einer an Marx orientierten Sozialkritik, primär einer Krise der Revolution. Indem das Proletariat der von Marx erhofften historischen Praxis, der Beendigung der bürgerlichen Klassenherrschaft, als der politischen Voraussetzung zur Verwirklichung der sozialen Revolution einer kommunistischen Gesellschaft, nicht nachgekommen war, konzentrierte sich zuvorderst die die philosophischen Gehalte Marx' wiederbelebende Strömung des "westlichen Marxismus" (Lukács, die Kritische Theorie, etc.) auf die subjektive Seite der ökonomischen Totalität. Es ging - in den zwanziger und dreißiger Jahren wie heute - um die Kardinalfrage, weshalb die von der Bourgeoisie und dem Kleinbürgertum geschurigelte Klasse in Grunde nur reaktiv agierte. Allein der Sozialpaternalismus der Sozialdemokratie als "einer Vereinigung zum Verbrauch revolutionärer Energie" (Karl Kraus), welcher aus Arbeitern "gleichberechtigte Staatsbürger" formen wollte, war keine hinreichende Erklärung.

Schließlich, nach der sprichwörtlichen Überrumpelung und Vereinnahmung der Arbeiterbewegung durch den Nationalsozialismus, wurde die bereits in den zwanziger Jahren aufgestellte Forschungsprämisse der Kritischen Theorie, zur Erhellung des gesellschaftlichen Irrationalismus psychologische Theoreme hinzuzuziehen, aufs fatalste bestätigt. Ensprechend äußert sich Max Horkheimer in seinem Aufsatz „Geschichte und Psychologie“:

„Je mehr das geschichtliche Handeln von Menschen und Menschengruppen durch Erkenntnis motiviert ist, um so weniger braucht der Historiker auf psychologische Erklärungen zurückzugreifen ( ... ). Je weniger das Handeln aber der Einsicht in die Wirklichkeit entspringt, ja, dieser Einsicht widerspricht, desto notwendiger ist es, die irrationalen zwangsmäßig bestimmten Mächte als psychologische aufzudecken“.

Wenn das Proletariat aus psychischen Gründen handlungsunfähig ist, durch die "geistige Aktion" (Karl Korsch), das historisch aufgehäufte Elend der Menschheit zu beenden, welche gesellschaftlichen Kräfte sollten ihm zur Seite stehen? Hier weist bereits der junge Marx durch ein prägnantes Diktum den Weg: „Das Herz der Revolution ist das Proletariat, ihr Kopf die Philosophie.“ Brecht hat diese soziale Vorgabe prosaischer formuliert: „Für was brauchen die Arbeiter die Intellektuellen? - Zur Ideologiezertrümmerung“. Repräsentiert der Typus des „proletarischen Intellektuellen“ aus sozialen Gründen eine Marginalie, bleibt nur das Bündnis des Proletariats mit dem Kleinbürgertum. Diese überaus schillernde Sozialkategorie, welche „mit Verspätung den Weg der Bourgeoisie zurücklegt“ (Roland Barthes), besteht zum geringsten Teil aus über den „zweiten Bildungsweg“ intellektualisierten Arbeitern, sie ist gleichsam ein Zerfallsprodukt des 19. Jahrhunderts, bedingt durch die Trennung von Besitz und Bildung innerhalb des Bürgertums, während der Dynamik der wirtschaftlichen „Gründerzeit“ (der sozialen Genealogie zufolge war Marx ein Kleinbürger par excellence). Innerhalb der Kulturgeschichte stellt der Marxismus, als 'Kritik der politischen Ökonomie', die intellektuell avancierte Form des Klassenverrats dar. Als Teil der bürgerlichen Kultur ist die Marxsche Theorie Quintessenz und radikale Kritik, im Sinne ihrer Aufhebung, zugleich. Die Frage nach der politischen wie sozialen Handlungsfähigkeit der gegenwärtigen Linken, im Sinne einer - notwendig - intellektuellen Zerstörung sämtlicher ideologischer Fetisch- bzw. Verschleierungsformen des gesellschaftsübergreifenden Kapitalverhältnisses verweist auf die Sozialpsychologie des Kleinbürgertums.

2.1 Zur Sozialpsychologie des Kleinbürgertums

War allein sein Terminus in politischen Debatten der 68er Verdikt zur Denunziation, ist es der sozialen Euphorie wie der intellektuellen Anstrengung jener „Nichtklasse“ zu verdanken, daß im, Umfeld jener Generation den Schriften insbesondere von Marx und anderen radikalen Kritikern resp. Häretikern des bürgerlichen Wissenschaftsbetriebes überhaupt Aufmerksamkeit, über marginale akademische Lesezirkel hinaus, zuteil wurde. Der damalige soziale Überschwang angehender Akademiker schien es zunächst nahezulegen, daß es zu mehr als einem politischen „Strohfeuer“ zwischen Intellektuellen und Arbeitern kommen konnte.

Im Zeitraffer der Geschichte erscheinen die seitdem vergangenen drei Jahrzehnte zunehmend als von theoretischer Zersetzung, gesellschaftlicher Regression und psychischem Defätismus bestimmt. Konnten einige der im Zuge der Studentenbewegung Politisierten sich mit Marx und Freud als Forschungsvorgabe akademisch etablieren, so wurde die den Klassenkampf fundierende 'Kritik der politischen Ökonomie' bereits Ende der 70er Jahre zu einem Teil des wissenschaftlichen Pluralismus. Der 1968ff. unter dem Begriff „Neue Linke“ organisierte Versuch, an die vom Faschismus zerschlagene Arbeiterbewegung in kritischer Revision anzuknüpfen, hatte sich innerhalb nur eines Jahrzehnts erschöpft. Im "Marsch durch die Institutionen", der Bemächtigung bürgerlicher Strukturen zu deren proklamierter Auflösung bzw. sozialistischer Transformation, konnte der kleinbürgerliche Charakter auf seine sozialisierten Tugenden der Anpassungs- und Leistungsfähigkeit sowie eines ausgeprägten Sendungsbewußtseins mit Gewinn zurückgreifen. Weil die politisierten Protagonisten auch im Staatsdienst nicht von ihrer Gesinnung lassen wollten (mit Ausnahme von Parteimitgliedschaften es auch nicht mußten), zerstreute sich die bundesrepublikanische Linke in ein „weites Feld“, das Marxsche Theoreme der 'Kritik der politischen Ökonomie' nur noch in Spurenelementen enthielt. Als pluralistisch veranlagter deutscher Linker konnte man sich - inspiriert und animiert durch die französische Avantgarde der „Meisterdenker“ des Antikommunismus - mit Foucault, Derrida oder Lyotard ebenso einlassen wie auf Adorno und Horkheimer berufen. Der kleinbürgerliche Kulturmensch hatte nicht nur begriffen, daß der Marxismus einen Teil der bürgerlichen Kultur vorstellt, in seiner kulturellen Rezeption war er außerdem ohne soziales Risiko und von hohem geistigen Unterhaltungswert, wenn er nicht gar Geld einbrachte. So konnte es - nicht zuletzt aus Gründen des Selbstschutzes - nicht ausbleiben, daß der Antagonismus von Kapital und Arbeit durch vielerlei „Nebenwidersprüche“ relativiert wurde (einige Beispiele: Mann-Frau, „Erste Welt“- „Dritte Welt“, unbezahlte Hausarbeit-Lohnarbeit). Diese „neue Unübersichtlichkeit“ schärfte weniger den Blick für das Elend der Welt; sie erfüllte ein Verlangen des kleinbürgerlichen Sentiments: sie machte die Welt in ihrer Heterogenität „spannend“. Das Proletariat war inzwischen „aus den Augen und aus dem Sinn“, wenn man nicht professionell, als Lehrer oder Sozialarbeiter, mit seinem sozialen Elend zu tun hatte.

2.2 Das Elend des Proletariats

Trennt man von der Masse der abhängig Beschäftigten die Kleinbürger, verbleibt der „proletarische Rest“. Die beschleunigte technologische Entwicklung der „Wissensgesellschaft“ und die ihr komplementäre Soziologie suggeriert einen Begriff von gesellschaftlicher Arbeit, bei dem die unmittelbar körperliche wie repetitive Tätigkeit bald der Vergangenheit angehört und durch Computer bzw. Robotern ersetzt wird. Aus produktionstechnischen Gründen würde die Basis der klassischen industriellen Arbeit, die Rohstoffgewinnung und Verarbeitung, zu einem subalternen Sektor der gesellschaftlicher Arbeit (welche Konsequenzen daraus für die Mehrwertproduktion folgen, soll hier unerörtert bleiben). Jenseits der quantitativen Bestimmung des gesamtgesellschaftlichen Produktionsquerschnitts nach industrieller und handwerklicher Arbeit sowie der unterschiedlichen Sektoren der Dienstleistungen, läßt sich die "abstrakte Arbeit" (Marx) nach ausführender und planerische scheiden; subalterne Tätigkeit bleibt unter den dienstleistenden Gehaltsempfängern keine Ausnahme.

Bestimmt, in einem emphatischen Verständnis, Entfremdung jede Form von Arbeit unter dem Kapitalverhältnis, als kognitive Reduktion wie psychische Dissoziation (Lukács hat diesen Aspekt in seiner klassenspezifischen Differenz treffend herausgearbeitet), so kann es keinen Zweifel darüber geben, daß die dem Kommando des Planers untergeordnete proletarische Arbeit in einem besonderen Maße Entmenschlichung hervorbringt, die Georg Lukács in „Geschichte und Klassenbewußtsein“ entsprechend beschreibt:

„Die Quantifizierung der Gegenstände, ihr Bestimmtsein von abstrakten Reflexionskategorien kommt im Leben des Arbeiters unmittelbar als ein Abstraktionsprozeß zum Vorschein, der an ihm selbst vollzogen wird, der seine Arbeitskraft von ihm abtrennt und ihn dazu nötigt, diese als eine ihm gehörige Ware zu verkaufen.“

Lukács' Hoffnung, daß aus der Selbsterkenntnis des Arbeiters in seiner Entmenschlichung zur Ware die Erkenntnis der Notwendigkeit der Revolution zur Rettung der individuellen und der kollektiven psychischen wie sozialen Integrität reife, hat sich bis jetzt nicht erfüllt. Die respektvolle sozialpsychologische Betrachtung der ökonomisch gepreßten Kategorie Proletariat hat sich seit Lukács nachgerade ins Gegenteil verkehrt. Wenn nicht der Zwang der Reproduktion es erfordert, meidet die kleinbürgerliche Linke (von marginalen Fraktionen des Parteikommunismus abgesehen), den unmittelbaren Kontakt mit den sozial Deklassierten.

2.3 Zur aktuellen Lage der Linken

Zwischen dem unverbindlichen Postulat nach „sozialer Gerechtigkeit“ und „revolutionärer Ungeduld" bewegt sich die Verfassung der deutschen linken Parteien, Strömungen und theoretischen Zirkel. Hingegen bleiben jene Menschen, welche am stärksten unter der allgemeinen Feindseligkeit der bürgerlichen Gesellschaft leiden, das ausgebeutete Proletariat wie die wachsende „industrielle Reservearmee“, apathisch, stumm und defätistisch. Diese soziale Erstarrung resp. Objektivierung folgt nicht nur der soziologischen Erkenntnis, daß es in einer bürgerlichen Gesellschaft keine proletarische Öffentlichkeit geben könne. Die Öffentichkeit, in welcher die Sache der subalternen Klasse verhandelt wird, ist notgedrungen durch bürgerliche Kultur und Ideologeme vermittelt. Bewegen sich die überwiegend akademisch sozialisierten Linken „wie ein Fisch im Wasser“ in den Medien der öffentlichen Darstellung und Propaganda (deren Teil sie repräsentieren), hält sich hartnäckig das „Problem der Vermittlung“ gegenüber der aufzuklärenden und zu aktivierenden Klientel. In der Tat ist eine Klasse, die durch ihre soziale Genese und Reproduktionsbedingungen sich zwischen - vor allem im Arbeitsprozeß abverlangerter - Fügsamkeit und Feindseligkeit bewegt, in der unmittelbaren Konfrontation wenig „kooperativ“, wie es im Herrschaftsdeutsch der Bourgeoisie euphemistisch heißt.

Konnte man in der „spätkapitalistischen Industriegesellschaft“ noch nie von einer verbreiteten Herzlichkeit zwischen Proletariat und klassenverräterischem Kleinbürgertum sprechen, so hat sich dieses Verhältnis, seit dem Zusammenbruch der realsozialistischen Staaten, weiter verschlechtert. Mit Ausnahme von benebelnden Lippenbekenntnissen etablierter Parteien, welche die „vereinzelten Einzelnen“ als bloßes Stimmvieh zur Aggregation und Legitimation der Staatsgewalt betrachten, sind die von Dissoziation und Verzweifelung bestimmten Handlungen der sozial Subalternen (Rassismus, Faschismus, Gewaltdelikte) vermehrt Gegenstand einer Sozialpathologie gegenarbeitenden Ideologiekritik (die Frage, inwiefern gesamtdeutscher Rassismus und Faschismus pervertierte Formen des Klassenkampfes indizieren, will ich hier ausklammern). Durch die verschärfte internationale Konkurrenz des kapitalistischen Warenverkehrs (im Jargon der bürgerlichen Ideologie „Globalisierung“ genannt), ist der Pegel der die bürgerliche Gesellschaft durchziehenden allgemeinen Menschenfeindlichkeit weiter angestiegen.

Wie erbärmlich und ratlos „der stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse“ selbst sozialpaternalistisch gesonnene Poltiker vorführt, zeigt das Beispiel eines ausgewiesenen Linken der SPD: auf die Frage, was er unter sozialer Gerechtigkeit verstehe, antwortete der Abgeordnete von Larcher, daß jeder sich einen Kühlschrank und eine Waschmaschine leisten könne. Es drängt sich schließlich eine Revision der Frage: Weshalb ist das Proletariat weder willens noch in der Lage zur Abschaffung des Kapitalismus - dahingehend auf, ob die Linke, in ihrer Heterogenität wie Desorientierung, mehr als nützlicher Idiot wie „Juniorpartner“ der Bourgeoisie fungiert, denn als intellektueller Sekundant im alltäglichen Klassenkampf resp. „Waffe der Kritik“.

Mit Ausnahme von versprengten Resten theoretisierender Gruppen erscheint der öffentliche Diskurs auf einem geistigen Niveau, welches Georg Lukács im Sinn gehabt haben muß in dem Diktum: in Zeiten einf acher Totalität platzt die Kruste vor innerer Leere. Beschäftigt in entfremdungsarmen Nischen des Dienstleistungssektors und wohlbehütet durch eine „mentale Verfassung“, welche den Namen „innere Leere“ verdient, beteiligen sich wachsende Teile einer ehemals von Marx berührten Linken an einem in Mode gekommenen Phänomen der Kulturalisierung und Psychologisierung von Gesellschaftskritik. Diese Individuen haben sich kommod in den Verhältnissen eingerichtet bzw. etabliert, daß sie Marxsche Theoreme als Versatzstücke zur Anreicherung der ständig gelangweilten bürgerlichen Kultur mißbrauchen (prominentes Beispiel ist der PDS Politiker Gregor Gysi, der als Pausenclown der Bourgeoisie auftritt). Die Trivialisierung, um nicht zu sagen soziale Verkommenheit dieser pseudokritischen Öffentlichkeit läßt sich exemplarisch an der Diskussion des Arbeitsbegriffs vorführen.

2.4 Arbeit und Herrschaft

Daß Arbeit konstitutives Element jeder Gesellschaft ist - welche sich von der unmittelbaren Naturverfallenheit gelöst hat -, bedarf keines wissenschaftlichen Arguments (deshalb ist die Zeitgeistschöpfung von der „Arbeitsgesellschaft“ blanker Unsinn). Marx' Sozialkritik richtet sich denn auch hauptsächlich gegen die sozial depravierte Form der Arbeit, die Lohnarbeit. Ist Arbeit Substanz und Notwendigkeit menschlichen Lebens, erlangt sie gesellschaftliche Dominanz erst mit dem Aufkommen der kapitalistischen Produktionsweise. Wohl hat die Bourgeoisie die Arbeit nicht erfunden, sie aber in ihrer kulturentwickelnden und profitmaximierenden Art und Weise zum Lebenselexier erklärt. Der wissenschaftliche Nachweis der sozialen Asymmetrie von Kapital und Arbeit durch Mehrwertaneignung der Kapitalisten intendiert bei Marx zunächst weder eine grundsätzliche Kritik von Arbeit als Anthropozentrik gegenüber der Natur, noch läßt sich daraus der Standpunkt ableiten, daß das Bürgertum nicht arbeitet. Umfang und philologische Feinheiten wie Mehrdeutigkeiten des Marxschen Oeuvres führen, neben politischer Instrumentalisierung, in Gegenwart und Geschichte des Marxismus immer wieder zu unterschiedlichen Akzentuierungen und Interpretationen des Begriffs Arbeit.

Die Kritische Theorie, besonders Adorno, markiert durch ihre politische Reserviertheit wie durch ihre Distanz zum Praktizismus des „Arbeiterbewegungsmarxismus“ gewissermaßen einen Strukturbruch in der Geschichte des Marxismus. Was revolutionär Ungeduldige am „Adornismus“ abstößt, der scheinbare Attentismus, wird oft vorschnell als das „Einerseits-Andererseits“ des sozial indolenten Kleinbürgers denunziert. Als Abkömmling jener im Umfeld der Bourgeoisie sich behauptenden Zwischenklasse hat Adorno hingegen sehr genau die selbstherrlichen Momente, welche sich hinter der gesellschaftlichen „Fundamentalkategorie“ Arbeit (Lukács) verbergen, erkannt.

In der „Dialektik der Aufklärung“ unterziehen Adorno und Horkheimer den Produktivkraftoptimismus und -fetischismus einer nicht nur politischen Revision:

"Die wiederkehrenden, ewig gleichen Naturprozesse werden den Unterworfenen ( ... ) als Rhythmus der Arbeit nach dem Takt von Keule und Prügelstock eingebläut. ( ... ) Noch die deduktive Form der Wissenschaft spiegelt Hierarchie und Zwang. Wie die ersten Kategorien den organisierten Stamm und seine Macht über den Einzelnen repräsentierten, gründet die gesamte logische Ordnung, Abhängigkeit, Verkettung, Umgreifen und Zusammenschluß der Begriffe in den entsprechenden Verhältnissen der sozialen Wirklichkeit, der Arbeitsteilung. ( ... ) Die Arbeitsteilung, zu der sich die Herrschaft gesellschaftlich entfaltet, dient dem beherrschten Ganzen zur Selbsterhaltung. ( ... ) Die Herrschaft tritt dem Einzelnen als das Allgemeine gegenüber, als die Vernunft in der Wirklichkeit.“

Die Kritik der Kritischen Theorie avanciert folgerichtig zur Selbstkritik auch einer der kapitalistischen Produktionsweise entgegenstehenden Bewegung, wie diese - notgedrungen - Teil der bürgerlichen Gesellschaft ist und sich zudem affirmativ auf die bürgerlichen Fetischformen der umfassenden Naturbeherrschung, Technik und Wissenschaft, die dem Kapital untergeordneten Funktionen, bezieht. Vor der Zukunft der rasanten Verwissenschaftlichung des Produktionsprozesses (Robotik, Nanotechnologie, Gentechnologie) gewinnt der von Alfred Sohn-Rethel gemachte Einwand, daß das in der unmittelbaren Produktion beschäftigte Proletariat aufgrund der wissenschaftlichen Komplexität der industriellen Fertigung ohne die "wissenschaftliche Intelligenz" nicht in der Lage wäre, zu produzieren, an Gewicht. Dieser Einspruch soll nicht dafür herhalten, daß die in der Produktion Beschäftigten vor der planerischen Leistung der "erstklassigen Köpfe" noch mehr zu Kreuze kriechen. Er zielt auf das Postulat:

„Bloßlegung des bürgerlichen Privilegs zu arbeitsloser Existenz, das den wirklichen Zwang zur Arbeit in ein scheinbar zufällig-individuelles Schicksal verkehrt. Verteilung der gesellschaftlich notwendigen Arbeit auf alle arbeitsfähigen Mitglieder der Gesellschaft, d. h. Abschaffung jenes Privilegs des Besitzes.“1

Wenn die historisch geronnene Inhumanität der bürgerlichen Gesellschaft dadurch sich überwinden ließe, daß man ein paar faule Bourgeois (schließlich ist der Anteil der Produktionsmitteleigner ein gesellschaftlich geringer Prozentsatz) aus ihrem Lotterbett und von ihren ewigen Ferieninseln in die Fabrik triebe, wäre der Klassenkampf mehr eine sportive Angelegenheit. Mit dem Aufruf nach allgemeinen Arbeitszwang enthüllt sich nicht der ideologische Schleier der bürgerlichen Verkehrsverhältnisse, stattdessen werden bei den sozial Niedergehaltenen wie den zu kurz gekommenen Kleinbürgern jene Ressentiments geweckt, die sich gegenwärtig die Bevölkerung immer weniger veranlaßt sieht zu unterdrücken.

In sozialer Konsequenz provoziert dieser Appell an die „arbeitende Klasse“ das Auf- wie Ausleben des antisemitischen Ressentiments des Einkommens ohne Arbeit der zur Masse Degradierten, welche für jede Simplifizierung ihres Elends - durch die im Geschichtsprozeß verschleierten und ideologisierten Kategorien des kapitalistischen Produktionsprozesses - empfänglich sind (die konstitutiven Voraussetzungen wie die kognitive Not dieser Flucht der „vereinzelten Einzelnen“ in die soziale Katastrophe hat Moishe Postone aufgezeigt). Nicht nur vor dem Hintergrund der sozialen Verrohung bzw. staatlichen Zerfallsprozesse im ehemaligen Jugoslawien, der untergegangenen Sowjetunion und anderen Teilen des ehemaligen "Ostblocks" ist dieser "Eckpunkt" ein Spiel mit dem Feuer. Wenn man das Proletariat und die ihm benachbarten Unterklassen nicht nur mit der sozialpathalogischen Brille (Rassismus, Faschismus) betrachten bzw. es auf das revolutionäre Abstellgleis manövrieren will, gibt es besseres als ihr Verlangen nach sozialer Denunziation zu wecken. Die Gemeinsamkeit im Ressentiment mag zeitweise eine Gruppe, vielleicht auch eine Klasse zusammenhalten, letztendlich vergiftet sie das soziale Leben, ohne die durch tiefsitzende Angst um ihren Verstand Gebrachten und durch Herrschaftsallüren auf Rache Versessenen hochzubringen. Die humane „Pädagogik“ des Proletariats, kein anmaßender Sozialpaternalismus eitler Intellektueller, fordert im ganzen Maß die Tugenden des Revolutionärs, „Geduld und Ironie“. Oskar Negt hat ernsthafte Versuche dazu bereits in den 60er Jahren unter der Leitlinie der Vermittlung von "soziologischem Denken" für die Arbeiterklasse angedacht; vielleicht läßt sich daran anknüpfen (hat der untergegangene Staatssozialismus doch in aller Traurigkeit und Tragik vorgeführt, wenn die kommunistische Partei die politische Macht erlangt, ohne sie sozial transformieren zu können).

Gehen die affektiven wie intellektuellen Entäußerungen der Linken am überwiegenden Teil des Proletariats vorbei, wäre es andererseits eine ideologiekritische Übung wie eine politische Notwendigkeit, sich jener kulturalistischen Linken anzunehmen, welche Arbeit nicht unter dem Gesichtspunkt von Entfremdung bzw. psychischer Dissoziation zur Kenntnis nimmt - geschweige denn einen Begriff von Zwang und Elend der Lohnarbeit hat, sondern, in bürgerlich positivistischer Manier von quantitativ variablen „Arbeitsmodellen“ (frei nach der faschistischen KZ-Losung: „Jedem das Seine“) schwadroniert. Dabei lohnte sich der Frage nachzugehen, inwieweit einzelne Linke beispielsweise eine intellektuelle wie moralische Patenschaft gegenüber ausbeutungsdysfunktionalen Proletariern eingehen, als gleichsam funktionale Transmissionsriemen des „Staats des Kapitals“, speziell in Beschäftigungsgesellschaften des „zweiten Arbeitsmarktes“.

Für Arbeitswillige hat der bürgerliche Staat, bei aller scheinbaren Finanznot, immer Gratifikationen bereit.

Etablieren sich innerhalb der Linken „Elemente der Dekomposition“, kommen sie überwiegend aus einer „randständigen“ Position der Gesellschaft, nicht völlig vereinnahmt von der geist- und nervtötenden Lohnarbeit. Sie leben deshalb, wie kein Mensch, nicht außerhalb dieser Verhältnisse, allerdings fern der materiellen Privilegien und sozialen Dünkel des modernisierten Kleinbürgertums, der „Neuen Mitte“.

 

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1Anmerkung der Redaktion: Aus „Plattform der Übergänge zum Kommunismus“