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Texte zur Kritik  

Vorarbeiten zu "Ästhetisierung des Politischen", erschienen in: Spezial 103, 1996, Hannover

Theoriefragmente für eine Zustandsbeschreibung
[1995]

Alltag als sozialer Zwang

Die formale Scheidung zwischen Arbeitszeit und Nichtarbeitszeit, sowie deren Aufspaltung in Freizeit und zur Reproduktion notwendige Zeit konnte überhaupt nur mit der Entfaltung der Produktivkkräfte hervorgetrieben werden. Und diese Entwicklung verlief unter dem Diktat der Kapitalverwertungsinteressen. Innerhalb dieses Prozesses fand überhaupt erst der Begriff "Alltag" seinen Zugang in theoretische Reflektionen. Noch im vorigen Jahrhundert galt der Begriff als eine Vokabel der Umgangssprache (siehe Grimms Wörterbuch der deutschen Sprache). Aus dieser Zeit stammend hängt dem Begriff "Alltag" der Geruch des Privaten, des Persönlichen an, obgleich für jeden erfahrbar, daß auch die Gestaltung der alltäglichen Nichtarbeitszeit dem Tauschverhältnis, dh. den Warenbeziehungen unterworfen ist. Wenn Marx in seinen "Theorien über den Mehrwert" erklärt, daß der Gesang einer Sängerin "auf eigene Faust verkauft" unproduktive Arbeit ist, dagegen als eine Veranstaltung im Auftrage einer Agentur - also zum Zwecke der Kapitalakkumulation betrieben - produktive Arbeit wird, dann haben wir hier den methodischen Schlüssel für die Dechiffrierung der ideologischen Rauchvorhänge, die den kapitalistischen Alltag drapieren. Denn die Dienstleistung - hier der Gesang - bleibt für den Konsumenten die gleiche, doch die Arbeit, die damit verbunden ist, dient nun zur Vermehrung des in der Agentur befindlichen Kapitals.

Und so wie sich heute der Kunstgenuß nur noch mit den kapitalistischen Krücken fortbewegen kann, so ergeht es allen Lebensäußerungen. Sie sind durch das Kapitalverhältnis vermittelte Erscheinungen. Nur das politische Alltagsdenken folgt nicht dieser Vermittelheit, sondern bleibt auf der Oberfläche in den Empfindungen verhaftet. Das stiftet Plausibilität für eine Kette von Vorurteilen und macht aus realen Ängsten individualisierbare psychische Erkrankungen. Der Alltag ist heute vornehmlich circensisch larvierter sozialer Zwang. Gearbeitet wird im Technologiepark, Kaufen wird zum Erlebnis im Überfluß des Überflüssigen, Wohnen und Leben werden von der Ästhetik der Raum-, Verkehrs- und Kommunikationsökonomie geformt. Die Fähigkeit zur Reflektion aus der Distanz , das Begreifen des Gegenwärtigen im historischen Kontext, die Pflege eines kollektiven Gedächtnis verbrauchen sich in diesen Strukturen. Geschmack, Vorlieben, Bedürfnisse werden gleichsam zu klassenunspezifischen Erscheinungen, weil der damit verbundene Habitus seiner Revenuequellen entledigt zur Kenntnis genommen wird. Es ist unwichtig, warum die Sängerin singt, sondern bedeutsam ist der Gesang. Er muß meinem Geschmack entsprechen. Und warum ich diesen Geschmack habe, hängt nicht von meinen Einkünften ab, sondern von meiner als frei empfundenen individuellen Entscheidung.

Diese Verarbeitungsform des Alltäglichen ist von einem Heer kulturpessimistischer Zeitgenossen zum Anlaß genommen worden, sich selber die Erleuchtung und den Massen die Dummheit zu attestieren. Die Marxisten sehen in der Tatsache, daß sich das Alltagsdenken nicht von den Erscheinungen löst, keine Unfähigkeit der handelnden Subjekte, sondern gerade darin den Ausdruck des gesamten Entfremdungszusammenhangs, der mit einer Warengesellschaft einhergehen muß, wo die Produkte scheinbar nur Gebrauchswerte tragen und wo die in ihnen entäußerte menschliche Arbeit als Wertfaktor im Geldfetisch verschwindet.