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Texte zur Kritik  

Vorarbeiten zu "Ästhetisierung des Politischen", erschienen in: Spezial 103, 1996, Hannover

Theoriefragmente für eine Zustandsbeschreibung
[1995]

Neue Mittelschichten

Mitte der 80er Jahre kamen die Modernisierungsprozesse der kapitalistischen Industriegesellschaft insoweit zu ihrem vorübergehenden Abschluß als die damit zusammenhängenden Umschichtungen in der Klassenstruktur durch die sogenannten neuen Mittelschichten empirisch signifikant wurden. Das Heer der Sozialarbeiter, der Lehrer und Psychologen, die technische Intelligenz der Datenverarbeiter, die Selbstausbeuter der Öko-Betriebe und nicht zu vergessen das Beraterpersonal der Verbände (incl. Gewerkschaften) - sie alle bildeten eine diffus erscheinende mit dem zuvor positivistisch verhunzten Begriffsapparat der Kritik der politischen Ökonomie nicht mehr abbildbare Sozialstruktur. Mit den neuen Mittelschichten war ein politisch-kulturelles Milieu entstanden, in dem sich der (scheinbar) eigene Habitus, die eigene Geschmacksstruktur und Lebensweise ausdrückten. In reziproker Umkehrung begannen sich die klassischen sozialen Milieus des Proletariats zu atomisieren. Hierin widerspiegelten sich die durch die Umorganisation des Arbeits- und Verwertungsprozesses hervorgerufenen Ausdifferenzierungsprozesse innerhalb und entlang der unmittelbaren Produktion. Selbst in den klassischen Industrieregionen bilden heute die neuen Mittelschichten gegenüber den unmittelbaren Produzenten statistisch nachweislich die Mehrheit.

Dieser ökonomisch-politische und kulturelle Umbauprozeß, der sich Mitte der 60er durch die Propagierung der Parole vom "Bildungsnotstand" ankündigte, trieb zwei aufeinanderfolgende und miteinander verflochtene soziale Bewegungen hervor, die diesem Prozeß die spezifische Gestalt verliehen.

Die 68er repräsentierten eine gesellschaftliche Bewegung bestimmter Teile der Mittelschichten, in der es darum ging, abzuklären und durchzusetzen, welche Stellung und welchen Machteinfluß man bei dem anstehenden Umbau des Kapitalismus zugestanden bekommen würde. Zur politischen Symbolik dieses Partizipationskampfes gehörte auch der mechanistische Rückgriff auf Konzepte, Symbole, Rituale und Muster der revolutionären Arbeiterbewegung. Lukács´ Konzept des inviduellen Klassenverrats stand Pate und verdeckte im subjektiven Erleben, daß dies nicht mehr war als nur eine wortradikale Variante und spezifische Attitude sozialer Interessenartikulation. Letztlich blieb der Bezug auf das Proletariat politisch literarisch und ging bis auf wenige individuelle Ausnahmen vollends verloren. Betrachtet man die Sache vom historischen Resultat her, d.h. von den klassenmäßigen Umschichtungen, die sich in der BRD bis heute vollzogen, so erschien die Abkehr vom Proletariat als objektiv vermittelte logische Konsequenz und machte das Ende dieser Eskapade plausibel.

Dem Scheitern der K-Gruppen Ende der 70er Jahre entsprach das Anwachsen der sogenannten neuen sozialen Bewegungen, in denen Alt68er ihre neue politische Identität und damit gleichsam ihre Welt entdeckten, so sie sich nicht sozialdemokratisch-gewerkschaftlich zu betätigen begannen. Die literarisch-politische Aufarbeitung dieser Metamorphose spiegelte sich in den einschlägigen Periodika wieder, als da waren: das "Kursbuch", das "Argument" und "Ästhetik und Kommunikation". Es dominierten Themen wie: Sinnlichkeit, Alltag, Medien, Therapie und vor allem Ökologie, Abrüstung und Frieden. Desweiteren gab es sozusagen eine Theorieetage höher eine Gramsci-Diskussion von den Kräften, die sich durch die Diskussion ihrer Schichtgenossen mit der Nase auf theoretische Versäumnisse gestoßen fühlten. Und gleichsam einen Sprengsatz gegen das aus der Geschichte der Arbeiterbewegung rezipierte und gescheiterte Politikverständnis bildete das sprunghafte Entstehen der Frauenbewegung. Auf den Zug dieser sich immer mehr verknäulenden Selbsterfahrungsdiskussion der neuen Mittelschichten sprangen auch spinnerte Denker, die die Tür zu Mystizismus und Okkultismus aufstießen und damit ideologische Brücken zum Denken der Neuen Rechten schlugen. Trotz dieser Heterogenität gab es eine Trennungslinie, die sich an der Frage, Politik um der Sache willen oder Politik (als Coming out) der ersten Person?, auswies. Als Antipoden figurierten hier die Grünen und die Autonomen. Während die Grünen sich seit Ende der 80er Jahre im BRD-Parteienspektrum konsolidieren konnten, taumelte das autonome Lager von Kampagne zu Kampagne, bis es schließlich in einem unaufhaltsamen Erosionsprozeß landete.

Der Beitritt der DDR-Staatsbürger zur BRD im Wege der Liquidation ihres Staates, wodurch unter Beweis gestellt wurde, wer von beiden Staaten sich historisch erfolgreicher als Vaterland bzw. Nation halluzinieren konnte, führte zu spezifischen Modifizierungen der gesamtdeutschen Klassenstruktur. Ein rasanter Deindustriealisierungsprozeß und flächendeckender Austausch des politischen Personals sollte den "Osten" in Richtung "Westen" verändern. Jedoch gelangen bisher im Beitrittsgebiet weder die vom Kapitalstandpunkt historisch notwendigen Ausdifferenzierungen von unmittelbar produktiver Lohnarbeit, noch vollzog sich eine flächendeckende die Privatisierung der staatlich erbrachten Dienstleistungen und Zirkulationstätigkeiten. Die Transformation in die soziale und politisch-kulturelle Heterogenität der spätbürgerlichen BRD-Gesellschaft scheiterter bisher aber auch an der Konsistenz der sozialen Milieus, die nur, wie anhand der PDS nachweisbar ist, mittels DDR-Nostalgie ihre soziale Interessen wahrnehmbar zu formulieren in der Lage sind. So ist die PDS ein Sammelbecken von Unternehmer- und Grundbesitzerverbänden bis hin zur Kommunistischen Plattform, organisiert vom ehemaligen politisch-ideologischen DDR-Führungspersonal der mittleren Ebene. Dieses bildete in der DDR quasi den Transmissionsriemen für einen politischen-kulturellen Block, der die Gesellschaft homogenisierte. Als diese ideologische Hegemonie Mitte der 80er brüchig wurde, Selbstzweifel und Reformkonzepte für den Staatssozialismus thematisiert wurden und politisch-kulturelle Anleihen bei den sozialen Bewegungen der BRD nicht mehr vollends unschicklich erschienen, begann ein inhaltlicher Paradigmenwechsel, der im Kladderadatsch der legendär friedlichen Revolution von 1989 endete und zum würdelosen Abgang der Staatssozialisten von der historischen Bühne führte.

In diesen politischen, sozialen und kulturellen Umbauprozessen der letzten drei Jahrzehnte verblieben für die Linke, so sie denn noch von der Aufhebung der warenproduzierenden Gesellschaft in eine freie Assoziation freier Produzenten ausgeht, lediglich gesellschaftliche Nischen und folglich keine öffentlich relevanten politisch-sozialen Milieus. Als historisches Kind der (neuen) Mittelschichten, ohne diese jedoch politisch repräsentieren zu wollen, hat sie sich selber genügend zum Bezugspunkt. Die Bilanz ist niederschmetternd: es dominiert der innere Monolog. Soll Außenwirkung erzeugt werden, reicht es nur zum Ekel vor dem, wie die eigenen "Klassengenossen" bei den Grünen, beim DGB, in "Bürger"bewegungen fürs menschlich Gute, in SPD und PDS persönlich reüssieren.

Heute, Mitte der 90er Jahre, nachdem sich die neuen Mittelschichten klassenmäßig in ihrer Heterogenität konsolidiert haben und unverhohlen mit ihren sozialen Milieus einen politisch-kulturellen Hegemonieanspruch formulieren - man denke nur an die grüne Parole: "Wir sind nicht rechts, wir sind nicht links, wie sind vorn!" - stehen diejenigen, die sich in Fragen der Gesellschaftsanalyse theoretisch auf die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie beziehen vor einer Reihe von Fragestellungen, wo die Wahrheiten vermutlich nur mühsam zu finden sein werden. Sich auf diese einzulassen, erfordert - um einmal wieder Theorie und Praxis in einen dialektischen Zusammenhang zu bringen - die bewußte Abkoppelung von den täglichen Notwendigkeiten und Handlungzwängen einer kollektiven politischen Praxis.