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Texte zur Kritik  

Vorarbeiten zu "Ästhetisierung des Politischen", erschienen in: Spezial 103, 1996, Hannover

Theoriefragmente für eine Zustandsbeschreibung
[1995]

Gesellschaft - Individuum - Staat

In einschlägigen empirisch-theoretischen Untersuchungen verschwinden gewöhnlich die Konturen zwischen dem, was in den Begriff des Individuums als Widerspiegelung gesellschaftlicher Verhältnisse eingeht, und den Vermittlungsformen tatsächlich gelebter Individualität des empirischen Individuums. Für Hegel war diese Unterscheidung dagegen zentral. Er verortete im Begriff des Individuums das Wirken des Weltgeistes unter Absehung des Empirischen, dessen höchste Vermittlungsform als Abstraktum sich im Staat materialisierte. Erst als Staatsbürger entsprach das Individuum seinem Begriff. Hierin vollzogen sich Vernunft und Sittlichkeit in ihrer höchsten Form, während sie in qualitativ unentwickelterer Form in der Familie und in den anderen gesellschaftlichen vom Staat geschiedenen Bereichen als logische und tatsächliche Voraussetzung davon angesehen wurden. Und letztlich galten diejenigen, die im und durch den Staat handelten, Hegel als "Geschäftsführer des Weltgeistes". Hegel, der sich damit auf den Standpunkt stellte, den Zusammenhang "Gesellschaft - Individuum - Staat" als Totalität des sich selbstverwirlichenden Weltgeists dialektisch zu begreifen, schuf damit ideengeschichtlich betrachtet die Voraussetzung, die Sache vom "Kopf auf die Füße" zu stellen. Für Marx und Engels war daher der Begriff des Individuums nicht das Zusichkommen einer transzendenten Idee, sondern in der begrifflichen Abstraktion Widerspiegelung einer verarbeiteten empirischen Wirklichkeit. In diesem Sinne ließ sich nun der allgemeine Begriff des Individuums folgendermaßen fassen: "Die Weise, in der die Menschen ihre Lebensmittel produzieren, hängt zunächst von der Beschaffenheit der vorgefundenen und zu reproduzierenden Lebensmittel ab. Diese Weise der Produktion ist nicht bloß nach der Seite hin zu betrachten, daß sie die Reproduktion der physischen Existenz der Individuen ist. Sie ist vielmehr schon, eine bestimmte Art, ihr Leben zu äußern, eine bestimmte Lebensweise derselben. Wie die Individuen ihr Leben äußern, so sind sie. Was sie sind, fällt also zusammen mit ihrer Produktion, sowohl damit, was sie produzieren, als auch damit, wie sie produzieren. Was die Individuen sind, das hängt also ab von den materiellen Bedingungen ihrer Produktion." (MEW3/21 )

Indem in dieser Weise das Individuum als ein Tätiges und die Gesellschaft und vermittelst der selben sich selbst gestaltendes Individuum begriffen wurde, konnte nun die Geschichte endlich als Aktion der Individuen selber und nicht mehr als das Zusichkommen eines Weltgeistes analysiert werden.

Wenn nun aber die Individuen "immer von sich" ausgingen, warum schufen sie sich Verkehrsverhältnisse, über die sie selber nicht diese Bewußtheit erlangten? Die Antwort dazu war wiederum in den gesellschaftlichen Verhältnissen selber zu suchen: "In den bisherigen Surrogaten der Gemeinschaft, im Staat usw. existierte die persönliche Freiheit nur für die in den Verhältnissen der herrschenden Klasse entwickelten Individuen und nur, insofern sie Individuen dieser Klasse waren." (MEW 3/74) Kurzum: die ökonomischen Verhältnisse und die daraufbasierenden Herrschafts- und Machtstrukturen mußten sich auch im allgemeinen Begriff des Individuums abbilden. Oder anders: Das Individuum mußte sich aufspalten in ein persönliches und ein Klassenindividuum.

Diese Spaltung tritt erst in der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer reinsten Form hervor. Unter diesen objektiven Bedingungen (Verkehrsverhältnisse, Teilung der Arbeit) können sich die Menschen nun als persönliches Individuum begreifen. (MEW 3/76). Dies tun sie aber mittels des Eigentums, des Staates, der Religion, also mittels der "Surrogate", die gleichermaßen ihre Bestimmungsgriinde verdunkeln. Und daher wird es erst die bewußte Aktion der "revolutionären Proletarier" sein, die diese "Verselbständigungen" aufhebt. (MEW 3/75)

In den "Pariser Manuskripten" und in dem Aufsatz "Zur Judenfrage" (bzw. Die heilige Familie), die inhaltlich wichtige Vorarbeiten für Marx ( und Engels) waren, finden wir diese Aufspaltung thematisiert als Doppelung des Individuums in die Figur des Citoyen und des Bourgeoie. Marx interessierten dabei, die damit zusammenhängenden Entfremdungen und Verdinglichungen. Marx und Engels nahmen diese Vorarbeiten in die in der "Deutschen Ideologie" entfalteten Argumentation auf und widmeten diesem Zusammenhang einen extra Abschnitt ( Verhältnis von Staat und Recht zum Eigentum, MEW 3/61ff). Und sie betonten ausdrücklich, daß der Staat in der bürgerlichen Gesellschaft eine "besondere Existenz neben und außer der bürgerlichen Gesellschaft geworden" ist.

Wollen wir also einen umfassenden allgemeinen Begriff des Individuums in der bürgerlichen Gesellschaft definieren, welcher von der Gesellschaft als dialektisch-materialistisch begriffenem Ganzen ausgeht, dann müssen wir das persönliche Individuum als ein tätiges (Geschlechtsindividuum) und als ein Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse betrachten, worin es zudem Klassenindivuum Staatsbürger und Marktindividuum ist.

Marx hat mit seinem "Kapital" die ökonomische Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft dechiffriert. Ich denke es ist zulässig, werkimmanent zu behaupten, daß Marx erst durch diese wissenschaftliche Leistung, den allgemeinen Begriff des Individuums, wie er aus den innersten Zusammenhängen der bürgerlichen Gesellschaft strukturiert wird, zustande gebracht hat. Günter Jacob kommt das Verdienst zu, in seiner Arbeit "Kapitalismus und Lebenswelt" (Hamburg 1986) den Nachweis dafür erbracht zu haben.

Ausgehend vom Lohnarbeiter als der (quantitativ) vorherrschenden ökonomischen Figur, an der sich das Klassenverhältnis der modernen bürgerlichen Gesellschaft verifiziert, läßt sich aufweisen, daß sich das persönliche Individuum an der Oberfläche der bürgerlichen Gesellschaft (vermittelst der Verdinglichung/Entfremdungen, wie sie sich im Geldfetisch focussieren) nicht als Klassenindividuum erfährt, sondern als Marktindividuum. Als Warenbesitzer der Geldware. Für diese Ware ist der Revenuefond Lohn die Quelle, deren Zusammenhang zum Wert/Mehrwert in der Zirkulation - also im konsumierenden Warentausch - ausgelöscht erscheint. Wo die Arbeitskraft ihren Gebrauchswert mit dem Kapital gegen Lohn eintauscht, beginnt die Sphäre, wo der innere Zusammenhang zwischen Marktindividuum und Klassenindividuum aufscheint. Jedoch bleibt diese Schnittstelle in der modernen bürgerlichen Gesellschaft durch die Verrechtlichung des Lohnarbeitsverhältnis von der Vorstellung überlagert, wie sie in der Zirkulation bestimmend ist, daß es sich nämlich um einen gleichen Tausch (den Tauschakt gleichberechtigter freier Bürger) handelt. Erst in der unmittelbaren Unterordnung der Lohnarbeiters unter den Prozeß der Naturaneignung, wie er durch das Kapital kommandiert wird, und in der Aneignung des Produkts der Lohnarbeit durch das Kapital selber, wird Klassenindividualität (!!!) beim Lohnarbeiterindividuum erfahrbar.

Diese Erfahrung erlischt - wie zuvor beschrieben - in der Zirkulation. Die damit einhergehende Verarbeitungsform ist eine Individualität, die durch das Nichtwissen ihrer Bestimmungsgründe geprägt ist. Wenngleich die Revenuequelle Lohn den lohnarbeitenden Konsumenten in der Realisierung der persönlichen Interessen begrenzt, so ist es nicht dieser Zusammenhang als solcher, der die klassenmäßige Präformation des (lohnarbeitenden) persönlichen Individuums deutlich werden läßt (lassen kann), sondern die Tatsache, daß alle zirkulativen Handlungen letztlich darauf gerichtet sein müssen, die Ware Arbeitskraft wieder herzustellen bzw. ihre Verkaufsfähigkeit vorzubereiten (Kinder/Jugendliche).

Als Staatsbürger erfährt sich das lohnarbeitende Individuum (bzw. das Individuum mit der Lohnarbeit als Lebensperspektive) nicht mehr auf der Grundlage seiner besonderen durch die Warentauschverhältnisse vermittelten Interessen. Es erkennt im und durch den Staat die Abtrennung des sogenannten allgemeinen Interesses vom privaten an. Hierdurch wird es möglich, daß das lohnarbeitende Individuum in einen die Sonderinteressen begrenzenden politisch-rechtlichen Verkehr mit seinesgleichen und den anderen bürgerlichen Individuen treten kann, die als Kapitalisten die Träger der ökonomischen Verhältnisse sind. Hierdurch werden die im allgemeinen Begriff des Individuums enthaltenen gesamtgesellschaftlichen Bezüge (der Mensch als Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse) vollends verdunkelt. Soziale Auseinandersetzungen bzw. die Formulierung materieller Interessen erscheinen somit in der Oberfläche der bürgerlichen Gesellschaft von ihren zugrundeliegenden Bestimmungsgründen abgetrennt.

In der modernen bürgerlichen Gesellschaft haben sich Tendenzen eines hedonistisch kompensierenden Verhaltens herausgebildet, die es dem bürgerlichen Individuum ermöglichen, mit den in diesen Strukturen wirkenden Widersprüchen umzugehen. Das Erleben und Ausleben dieses Hedonismus hat wiederum seine Ursachen in dem gesellschaftlichen Reichtum, der durch das Individuum als Produzent unter den Bedingungen der modernen Arbeitsteilung und ihrer entfalteten Produktivkräfte geschaffen wurde. Dennoch erscheint dieser Hedonismus nur als subjektive Lebensäußerung und als Eskapade. Müßigang und Genußfähigkeit werden zwar in ihrer ökonomischen Determiniertheit begriffen, aber dieses Begreifen bleibt mit der Oberfläche der Gesellschaft verhaftet, indem der Blick nur auf die Verteilung nicht aber auf das Zustandekommen des gesellschaftlichen Reichtums gerichtet bleibt.

Spiegelt man den allgemeinen Begriff des Individuums gegen seine erlebte/gelebte Individualität, dann scheint die "Gefangenschaft in der Verdinglichung komplett" (Jacobs). In dieser Annahme liegt meines Erachtens (ideologisch betrachtet) die gegenwärtige Unfähigkeit der radikalen Linken begründet, sich mit den Zielvorstellungen ihrer Praxis über das Hier und Jetzt zu erheben. Von daher affirmiert sie die Verhältnisse nur, statt die Realität dahingehend zu untersuchen, wie in den Verarbeitungs- und Vermittlungsformen der Individuen die in ihnen enthaltenen Widerspriiche zwischen Erlebtem und seinem Bestimmungsgrund aufscheinen. Infolgedessen perpetuiert solch eine Alltagspolitik diese als "Gehäuse" (Adorno) betrachtete Verdinglichung und trägt mit dazu bei, daß der erreichte Grad der Vergesellschaftung des Individuums, wie er sich heute in diesen Verdinglichungsformen darstellt, nicht zum Ausgangspunkt einer Aufhebung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft genommen wird.

Eine Theorie, deren aus den Verhältnissen vermittelter Impetus die Aufhebung der warenproduzierenden Gesellschaft ist, muß sich einen zeitgenössischen allgemeinen Begriff des Individuums erarbeiten. Dies trägt die Chance in sich, diese Entfremdungen und Verdinglichungen auch praktisch durchbrechen zu können. Dazu ist es allerdings erst einmal nötig zu untersuchen, wie sich die Formen der Vergesellschaftung im Prozeß der Individuation vergegenständlichen. Zeitgenössische bürgerliche Theoretiker legen dazu empirisches Material en masse vor. Allein ihnen fehlt der Bezug zu einer die Gesellschaft auf den begriffbringenden Theorie bzw. dieser Bezug ist ungenügend bei ihnen entwickelt. Die Methode der Marxschen Kritik der Politischen Ökonomie verfügt über ein angemessenes theoretischen Instrumentarium. Dies gilt es endlich zu nutzen.