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Texte, Beiträge und Diskussionen zum Thema: Chiapas und die Linke

Postmoderne Aufstände

Das 20.Jahrhundert endete am 31.Dezember 1993 in Chiapas, wie die mexikanischen Historiker Antonio und Liza García de León bemerkt haben. An diesem Tag beschloß die Bevölkerung der Region Chiapas, ein mexikanischer Bundesstaat etwa von der Größe Bayerns, "dem Imperium keinen Tribut mehr zu zahlen", wie es in einem der späteren Kommuniqués heißt, und begann den Aufstand. Ihre bewaffnete Organisation, die zapatistische Befreiungsarmee EZLN, besetzte die wichtigsten Ortschaften und erlangte die militärische Kontrolle über das Gebiet, die sie bis heute nicht wieder verloren hat. Dies ist vor allem dem Umstand zu verdanken, daß es bereits in den ersten Tagen des Aufstands zu Massendemonstrationen in Mexico City kam, die gegen den Einsatz der mexikanischen Armee protestierten, und daß sich die mexikanischen Intellektuellen mit der Aufstandsbewegung solidarisierten - mit wenigen Ausnahmen wie etwa dem Schriftsteller Octavio Paz, der um die Zukunft der Moderne bangte. Zwei Wochen nach Aufstandsbeginn bot die mexikanische Regierung den ersten Waffenstillstand an. Seither befindet man sich, immer wieder von Kampfhandlungen begleitet, in Verhandlungen.
Der Aufstand in Chiapas ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert. Die Politik der EZLN, der soziale Aufbruch der zapatistischen Bevölkerung, die nationale Solidarität und die internationale Reaktion verbinden sich zu einem Phänomen Chiapas, das nicht zu Unrecht als "postmoderne Revolution" bezeichnet worden ist. Die EZLN hat den Aufstand mit politischen Offensiven für eine demokratische Umgestaltung Mexicos verklammert und ihre eigene Rolle als Katalysator dieser Umgestaltung definiert, nicht als ihr alleiniges Sprachrohr und schon gar nicht als Hüter der einzigen Wahrheit. Im Verlauf der Auseinandersetzung hat sie sich ein Marketing geschaffen, das wenig auf kämpferische Parolen und viel auf Höflichkeit, Selbstbewußtsein und Ironie setzt. Sie ist weder an einer militärischen Entscheidung interessiert, noch hat sie bisher ein konkretes eigenes Forderungsprogramm vorgelegt. Sie verfolgt nicht das klassische Ziel, den Staatsapparat zu übernehmen und eine gesellschaftliche Neuordnung "von oben" nach ihren Vorstellungen durchzusetzen. Stattdessen appelliert sie an die mexikanische Bevölkerung, sich ihre eigenen Gedanken zu machen und ihre eigenen Vorstellungen in eine politische Umgestaltung einzubringen.
Der Aufstand in Chiapas ist die erste Revolution jenseits des 20.Jahrhunderts, weil sie nicht mehr das Ziel verfolgt, das Projekt der Modernisierung und Entwicklung zu vollenden, sondern es zu beenden. Nicht von ungefähr hat die Aufstandsbewegung die Einführung der nordamerikanischen Freihandelszone (NAFTA) als Datum für den Aufstand gewählt. Die EZLN ist keine antimodernistische Gegenbewegung, die zurück zu traditionellen Verhältnissen will. Sie steht nur jenseits der Moderne und ihren hohl gewordenen Versprechungen. Sie verspricht sich nichts mehr von der Entfesselung der Produktivkräfte, sondern eher von deren vernünftiger Begrenzung; sie will ein Ende des "Krieges", als den der mexikanische Autor Gustavo Esteva die staatliche Entwicklungspolitik bezeichnet hat. Der Aufstand in Chiapas ist eng mit den Strukturen der indigenen Selbstorganisation verbunden und benutzt deren Sprache und Bilderwelt. Aber die Organisation der EZLN ist eine progressive Alternative zur patriarchalen Sozialordnung der indigenen Gemeinden, was ihr vor allem den Zulauf der Jungen und insbesondere der Frauen gebracht hat. Die EZLN verteidigt die Autonomie der dörflichen Gemeinden und ihre wirtschaftlichen Subsistenzstrukturen gegen die "Modernisierung" und "Entwicklung". Aber sie findet auch, daß es in Chiapas mehr Fernseher geben sollte.
Bei näherem Hinsehen zeigt sich, daß der postmoderne Aufstand auch in anderen Regionen stattfindet. Die Entwicklung in Nigeria zum Beispiel weist mit der in Mexiko verblüffende Ähnlichkeiten auf. Das nigerianische Chiapas ist das Niger-Delta. Es ist die am wenigsten "erschlossene" und industrialisierte Region, die zugleich am meisten ausgeblutet, ökologisch und sozial ruiniert wird. Aber für die soziale, politische und ökologische Umgestaltung des Landes ist das Niger-Delta die Avantgarde. Wie in Chiapas gibt es dort Öl, das hier in großem Stil u.a. von Shell gefördert wird, mit verheerenden Konsequenzen für die ansässige Bevölkerung. Die Bevölkerung des Niger-Deltas besteht aus ethnischen Minderheiten, die sich vor einigen Jahren in der Ogoni-Bewegung zusammengeschlossen haben. Die Ogoni-Bewegung wendet sich mit Massenkundgebungen und zivilem Widerstand gegen Vertreibung, Morde und Plünderung und gegen die ökologische Zerstörung ihres Landes und ihrer Felder.
Die Ogoni-Bewegung besaß mit dem im November 1995 von der nigerianischen Regierung ermordeten Schriftsteller Ken Saro-Wiwa eine charismatische Führungspersönlichkeit, der einen eigenen Medienkonzern dirigierte, eine landesweite Fernsehsendung produzierte und seine Schriften bewußt nicht im lokalen Dialekt, sondern in "rotten English" veröffentlichte - der einzigen Sprache, in der alle NigerianerInnen sich miteinander verständigen können. Der MOSOP, der politische Dachverband der Ogoni, verfolgt eine gleichermaßen radikale wie pragmatisch-undogmatische Politik. Er fordert regionale Autonomie und Mitsprache bei der demokratischen Umgestaltung des gesamten Nationalstaates, Schutz für die lokale Subsistenzwirtschaft und Beteiligung an den Erdöl-Einnahmen. Er beruft sich auf ethnisch-kulturelle Traditionen und bedient sich gleichzeitig völlig selbstverständlich der modernsten Formen einer medienorientierten Politik. Er bildet keine ideologische Einheit und findet seinen gemeinsamen Nenner in der Forderung nach regionaler Selbstbestimmung und nach Deeskalation der politisch-militärischen Situation im Land.
Abwicklung und postmoderne Revolte
Es gibt einen Typus der postmodernen Revolte, der alle Aussichten hat, zum prägenden Modell für künftige Auseinandersetzungen um eine emanzipatorische Lösung der globalen sozial-ökologischen Krise zu werden. Sein Organisationsprinzip läßt sich am besten mit der von Esteva verwendeten Terminologie beschreiben. Der postmoderne Aufstand beruht primär auf autonomen sozialen Basisorganisationen, die nicht in einer straffen Organisation zentralistisch verbunden sind, sondern ein lockeres Netzwerk bilden. Diese Vernetzung ist so wenig institutionalisiert wie möglich, weshalb Esteva von diesem Netz als der "Hängematte" spricht: man kann sie benutzen, wenn man sie braucht, aber wenn man sie nicht braucht, hat sie so gut wie kein Gewicht. Man kann sie überallhin mitnehmen und überall aufhängen. Diese gemeinsame soziale Praxis der Basisorganisationen, der solidarische Raum, den sie schaffen, braucht allerdings einen "Schutzschirm" nach außen. Was dieser Schutzschirm ist, ist je nach der politischen und gesellschaftlichen Situation ganz verschieden. Er kann darin bestehen, sich pragmatisch der herrschenden Institutionen und Organisationen zu bedienen, um die Freiräume der Bewegungen und Basisorganisationen zu schützen und Interventionen gegen sie zu behindern. In Chiapas ist der Schutzschirm die bewaffnete regionale Selbstverteidigung durch die EZLN, aber auch die Solidarität großer Teile der mexikanischen Zivilgesellschaft. Der Schutzschirm ist jedoch ein nachgeordnetes Element, ein Notnagel; er kann Räume freihalten, aber er kann sie nicht selbst gestalten.
Die postmoderne Revolte ist sich darüber im klaren, daß sie die rein militärische Konfrontation gegen den staatlichen Gewaltapparat immer verlieren würde. Deshalb ist ihre Militanz defensiv und regional, aber ihre Politik offensiv und national, sogar international. Indem sie ihre Sache mit der Forderung nach einer innergesellschaftlichen "Abrüstung" und Deeskalation verbindet, gelingt es ihr, die an sich ungünstigen Kräfteverhältnisse zu überspringen.
Die postmodernen Aufstände sind Aufstände im Zeichen der Abwicklung. Sie haben keine einheitliche ideologische Grundlage. Was sie zusammenhält, ist der Gedanke eines "Breaks", einer Unterbrechung der zerstörerischen gesellschaftlichen Entwicklungslogik. Sie verweigern sich der herrschenden Logik, die sozial-ökologischen Krisenerscheinungen durch eine immer schnellere Entwicklung, durch immer wahnsinnigere Wechsel auf eine unsichere Zukunft lösen zu wollen. Ihr Nährboden ist eine weitverbreitete Stimmung, daß die gesellschaftliche Situation in einen Zustand der Überspannung, der Exaltiertheit, der wahnhaften Risikobereitschaft geraten ist. Ihr Slogan ist das "Ya Basta" der EZLN. "Es reicht". Nicht noch mehr vom Selben. Nicht noch mehr schreckliche Illusionen zu einem immer unbezahlbareren Preis. Genug, Schluß, Aufhören. Keine Superman-Politik mehr. Bilanzziehen und Neuordnen. Die Maschine herunterfahren, die Verkrampfungen lösen, die Brutalität abrüsten.
Die postmoderne Revolte ist das genaue Gegenteil der herrschenden Öko-Panik, die schnell noch weitere Mega-Strukturen und Technikprojekte aufbauen will, um die angeblich so drängenden, ganz großen Probleme zu lösen. Das Programm der postmodernen Aufstände ist die Abwicklung: nicht intervenieren, nicht auf die globalen Geschäfte setzen, mit der sozialen Neuordnung von unten beginnen. Ihre ökologische Philosophie ist nicht die intelligente Optimierung, sondern das "calming down", das Herunterfahren. Ihre emanzipatorische Philosophie zielt nicht darauf, die "gute Gesellschaft" ein für alle mal einzuführen. Die Philosophie der postmodernen Revolte im Zeichen der Abwicklung ist: Die bestehende Gesellschaft von innen übernehmen, indem man sie nach außen begrenzt. Der Selbstorganisation Raum verschaffen, indem die Verwicklung in den globalen Entwicklungskrieg zurückgenommen wird.
Die postmodernen Aufstände unterscheidet sich auch diametral von der modischen Politik des "Alternativen", des "jeder kehre vor seiner eigenen Tür". Sie beharren darauf, daß die Probleme nur gemeinsam gelöst werden können. Sie gestalten nicht Nischen, sondern wollen ein Gesamtprogramm stoppen. Sie predigen nicht die individuelle alternative Verrenkung, sondern schaffen eine Situation, die die Verrenkung überflüssig macht. Sie formulieren keine individuelle Lebenshilfe, sondern einen alternativen Entwicklungsweg für eine ganze Region einschließlich der dafür notwendigen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Regionen in diesem Sinne sind nicht isolierte Landstriche oder kleine alternative Flecken. Die kritische Größe liegt in der Größenordnung von Bundesländern bzw. Bundesstaaten.
Radikale regionale Autonomie
Es versteht sich von selbst, daß postmoderne Aufstandsbewegungen innerhalb der nördlichen Industriestaaten sich weitgehend von denen in Ländern der "Dritten Welt" unterscheiden werden. Aber es steht außer Frage, daß es sie geben wird. Sie werden vielleicht in hohem Maße im Rahmen zivilgesellschaftlicher Auseinandersetzungen stattfinden können und sich bestehender Institutionen als Schutzschirm bedienen. Aber sie werden ihr "Break", ihr "es reicht", mit einer massiven gesellschaftlichen Mobilisierung formulieren. Sie werden die Spielregeln verändern. Sie werden Lösungen der Abwicklung für Regionen suchen und sie werden der Solidarisierung außerhalb dieser Region bedürfen, um bestehen zu bleiben. Sie werden nicht heute und nicht morgen beginnen, aber in ein paar Jahren.
Die postmoderne Revolte im Norden wird dort stattfinden, wo die sozial-ökologische Krise die bisherige Rechnung der Modernisierung und Entwicklung am ehesten zunichte macht. Man kann sich an fünf Fingern ausrechnen, daß dies in Deutschland zuerst auf dem Gebiet der ostdeutschen Bundesländer der Fall sein wird. Die Rechnung, einen sozialen und ökologischen Aufbau im Rahmen der bisherigen kapitalistischen Orientierung bewerkstelligen zu wollen, ist jetzt schon aberwitzig.
Nehmen wir die ehemalige Industrieregion um Dessau und Bitterfeld. Seit der Stillegung der dort ansässigen Großbetriebe bewegt sich die Arbeitslosigkeit in schwindelerregender Höhe, und es gibt keinerlei Aussichten, daß sich daran etwas ändern wird. Einerseits findet also ein erheblicher Finanztransfer in diese Region statt, in Form von Mitteln aus der Bundesanstalt für Arbeit und aus dem Länderfinanzausgleich. Dieses Geld verschwindet auf der anderen Seite wieder aus der Region, da die Kaufkraft weitestgehend für Produkte ausgegeben werden muß, die nicht in der Region hergestellt werden. Im Lauf der Zeit führt das dazu, daß den Menschen ihre Region buchstäblich nicht mehr gehört, weil die interessanteren Ressourcen und Flächen ausverkauft werden und der Rest tendenziell wertlos ist. Wer sich aufraffen kann und will, verschwindet; wer bleibt, findet sich mit der depressiven Situation ab. Die Region liefert also weiterhin per Migration Menschen in andere, reichere Gegenden: mobile, junge Frauen und Männer für den Arbeitsmarkt im Westen oder für den westlichen Heiratsmarkt. Die Region selbst wird zum Standort für Naturschutzgebiete oder für Truppenübungsplätze. Sie verkauft ihre Natur, Arbeit und Fläche, ohne sich aus ihrer trostlosen Lage befreien zu können.
Prinzipiell wäre es also äußerst naheliegend, das Geld, das in die Region fließt, zum Aufbau einer regional bezogenen Produktion zu verwenden. Dies ist aber unter den herrschenden Bedingungen unmöglich. Eine gezielte industrielle Subventionspolitik ist nach den Regeln der nationalen und europäischen Marktliberalisierung schlicht illegal. Eine staatliche Förderung und Bevorzugung von landwirtschaftlichen Produkten aus der eigenen Region, die Voraussetzung für den Aufbau einer regionalen Versorgungswirtschaft wäre, scheidet aus den gleichen Gründen aus. Die finanziellen Zuwendungen aus nationalen Förderprogrammen fließen in die Taschen von Unternehmen und Institutionen, die ihren Hauptsitz im Westen haben und die Region nur als Verschiebebahnhof benutzen.
Dabei wäre die Bereitschaft in der Region, einen regional bezogenen ökonomischen und kulturellen Aufbau zu unternehmen, groß. Es gibt eine Reihe von Projekten, die Vorstellungen in diese Richtung entwickelt haben. Aber so, wie die Dinge liegen, kann man nichts machen. Dafür wäre ein Programm der radikalen regionalen Autonomie notwendig, das den globalen Sektor weitgehend hinauswirft und sich das Recht nimmt, Preise, Eigentumsrechte und äußere Austauschbeziehungen der Region in einem hohen Maße zu kontrollieren und zu gestalten.
Die Situation trifft auf verschiedene Regionen zu, in anderen europäischen Ländern genauso. Es kann gar nicht anders sein, als daß in einigen dieser Regionen eines Tages eine alternative, regional bezogene Rechnung aufgemacht wird und versucht wird, sie durchzusetzen. Und dies wird etwas ganz anderes sein als die Förderung von alternativen Landkommunen, wie sie die Regierung Biedenkopf (auf Initiative von Rudolf Bahro übrigens) derzeit betreibt: eine typische "alternative" Politik der Abfederung, die eine Art Reservate schafft, aber an der Entwicklungslogik nichts ändert, die die Regionen verarmen läßt. Konflikte mit der herrschenden Marktliberalisierung und abhängigen Zurichtung von Regionen werden unvermeidlich sein. Es werden Konzepte einer radikalen regionalen Autonomie artikuliert werden, die sich nicht damit zufriedengeben, eine Region sozialpolitischer Kostgänger zu sein, ob "alternativ" (geförderte Landkommune) oder "klassisch" (arbeitslos zuhause). Diese Konzepte werden nur funktionieren, wenn sie sich mit einer gesellschaftlichen Debatte um die Abwicklung der wahnwitzigen nationalen Standortpolitik verbinden und die daraus abgeleitete regionale Zurichtung, also die moderne Produktivitäts-Apartheid zwischen den Regionen, radikal in Frage stellen.
Kulturen des Widerstands
Der postmoderne Aufstand der Regionen, der für eine Lösung der sozial-ökologischen Krise durch die Abwicklung der wirtschaftlichen Hochrüstung eintritt, wird häufig als ethnozentrisch oder provinziell mißverstanden. Der Bezug der EZLN auf die indigene Tradition hat zu Diskussionen geführt, daß eine Übertragung ihrer politischen Anliegen auf die nördlichen Industrieländer daran scheitern müsse, daß ein derartiges Konzept hier notwendigerweise rassistisch oder chauvinistisch ausfallen würde ("Wir in Bayern" usw.).
Dies ist ein Irrtum. Das Mißverständnis liegt darin, daß der Bezug auf die regionale Tradition in Wahrheit kein ethnischer, sondern ein kultureller und geschichtlicher Bezug ist. Die Bevölkerung von Chiapas bildet keineswegs eine ethnische Einheit. Am Beispiel Nigerias ist ebenfalls offensichtlich, daß die regionale Identität "Ogoni" ein politisches Konstrukt ist, das eine ganze Reihe von Gruppen verbindet, die sich bis dahin als selbständige Ethnizität definiert hatten. Das "Zapotekische" oder das "Ogonische" beziehen sich nicht auf eine wie auch immer geartete ethnische Identität. Das, woran die EZLN oder die Ogoni-Bewegung anknüpfen, sind spezifische Kulturen des Widerstands. Es sind die geschichtlichen Erfahrungen, gegenseitigen Verpflichtungen und erlernten Fähigkeiten zum Widerspruch, was damit gemeint ist.
Die postmoderne Revolte im Norden wird ebenfalls an ihre jeweiligen Kulturen des Widerstands anknüpfen müssen. Sie wird ihre historischen Erfahrungen auswerten und aneignen müssen: die gescheiterten Versuche, die gehegten Hoffnungen, das Repertoire alternativer Vorstellungen von Werten, Selbstbewußtsein und Würde. In unserem Fall sind das nicht so sehr irgendwelche mittelalterlichen Zunftaufstände oder die kulturelle Wiederaneignung des pfälzischen Saumagens. Es ist die Aneignung der Geschichte der sozialen Gegenbewegung von 1968 bis jetzt, in ihrer ganzen Breite: als politische und kulturelle Geschichte, als Männer- und Frauengeschichte, als Bezugspunkt für hiesige Erfahrungen und für Erfahrungen von Leuten, die aus anderen Ländern zugewandert sind. Es war die erste große Infragestellung. Die ideologischen Grundlagen, politischen Zielvorstellungen und Organisationsphilosophien dieser Zeit sind heute weitgehend unbrauchbar geworden. Aber es ist unsere spezifische Kultur des Widerstands.
Diese Kultur kann nicht zelebriert werden. Als gemeinsamer Bezugspunkt ist sie die Voraussetzung, daß sich verschiedene Stränge und Teile der sozialen Gegenbewegung überhaupt gegenseitig erkennen und verstehen können. Sie ist das "rotten English" dieser Bewegung. Auf ihre Attraktivität kann man sich allerdings ebensowenig verlassen, wie auf die Attraktivität der zapotekischen Dorfgemeinschaft. Es bedarf des Aufbaus von neuen Organisationsformen, die sich in der Tradition dieser Kultur des Widerstands sehen, aber gleichzeitig eine progressive, antipatriarchale Alternative dazu darstellen. Mit den Dorfältesten der '68er-Bewegung kann man sich jedenfalls keine gesellschaftliche Mobilisierung vorstellen. Möglicherweise sind wir bereits in diesem Prozeß der Neufindung attraktiver, antipatriarchaler Organisationsformen - mit Sicherheit allerdings erst am Anfang dieses Prozesses. Die EZLN hat zehn Jahre in Chiapas gebraucht, um das dialektische Spannungsverhältnis zwischen traditioneller Kultur des Widerstands und progressiver Organisations-Alternative auszubalancieren. Ich glaube nicht, daß wir schneller sind.

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