Cajo Brendel
Kritik des Leninschen Bolschewismus
(Die Arbeiten "Kritik der Leninschen Revolutionstheorie" sowie "Lenin als
Stratege der bürgerlichen Revolution" sind der gleichnamigen Broschüre des
adcom-verlages Braunscheig, 1958 entnommen; der Artikel "Rätedemokratie statt
Parteidiktatur. Kommunismus als Gegensatz zum Bolschewismus" wurde in
"Sklaven" Nr. 4/5, Berlin, 1992 veröffentlicht)
Kritik der Leninschen Revolutionstheorie
im August-September 1917, nur wenige Wochen bevor die Bolschewiki in Rußland am Ruder
standen, verfaßte Lenin in Helsingfors anhand ausführlicher Aufzeichnungen, die er
während seines Aufenthalts in der Schweiz gemacht hatte, seine berühmte Schrift
"Staat und Revolution". im Untertitel war von "Aufgaben des Proletariats in
der Revolution" die Rede, was, mehr als irgend etwas anderes, den eigentlichen Gegen
stand bildete, da von einer wirklichen systematischen, insbesondere auch methodischen
Darlegung der Marxschen Staatstheorie doch wohl kaum gesprochen werden konnte. Gleich am
Anfang, auf der ersten Seite des ersten Kapitels, liest man: "... angesichts der
unerhörten Verbreitung, die die Entstellungen des Marxismus gefunden haben, besteht
unsere Aufgabe in erster Linie in der Wiederherstellung und der wahren Marxschen Lehre vom
Staat".1) Und gleich hier schon - die Auseinandersetzungen des Autors haben noch
nicht einmal angefangen - gibt es von marxistischer Sicht aus einiges zu bemerken.
Wenn nämlich Lenin dort, wo er in den polemischen Teilen seines Buches sich näher mit
den Entstellungen und deren Urhebern (wie Kautsky und Bernstein) beschäftigt, letzteren
eine unrichtige Interpretation des Marxismus und dessen Fälschung vorwirft, so vergißt
er, daß keine Kritik damit fertig wäre, diese Marx-Interpretation bloß als unrichtig
und die Interpreten als "Verräter" oder "Renegaten" zu
charakterisieren. Denn auf diese Weise begeht er denselben Fehler, den Marx in seiner
"Deutschen Ideologie" den Jung-Hegelianern vorwirft. Sie versäumten, nach dem
Zusammenhang der deutschen Philosophie mit der deutschen Wirklichkeit, nach dem
Zusammenhang ihrer Kritik mit ihren eigenen materiellen Verhältnissen zu fragen, und sie
bekämpften die wirkliche Welt durchaus nicht, solange sie nur die Phrasen dieser Welt
entlarvten. Worauf es ankommt ist, die jeweiligen Interpretationen dadurch zu erklären
und somit zu verstehen, daß man ihre Ursachen darlegt. Lenin tut das nicht!
An sich besagt das Wort "Entstellungen" nichts, trägt eine eventuelle
Beweisführung, daß es sich tatsächlich darum handelte kaum zu einer tieferen Einsicht
bei. Darauf hinzuweisen hat seine guten Gründe. Wir wollen hier den Beweis erbringen,
daß Lenin, wenn nicht durch dieselben, dennoch durch ähnliche Ursachen ebenfalls die
Marxschen Auffassungen, sei es auf ganz andere Weise als die von ihm angegriffenen
Schriftsteller, falsch verstanden und daß seine Revolutionstheorie mit dem Marxismus
nichts zu tun hat. Das aber liegt, ebenso wenig wie bei jenen, weder an etwa ungenügenden
intellektuellen Fähigkeiten noch daran, daß auch er ein "Fälscher" wäre. Es
waren die gesellschaftlichen Verhältnisse Rußlands und die daraus hervorgehenden
Probleme der russischen Revolution, die ihn und die bolschewistische Partei zu einer
bestimmten Auffassung des Marxismus führten, die wir hier kritisieren möchten.
in schroffem Gegensatz zu der Behauptung Lenins, es gäbe "ohne revolutionäre
Theorie keine revolutionäre Praxis", haben die sozialen und politischen Ereignisse,
nicht nur die in Rußland, die dort aber auf spezifische Weise eindeutig nachgewiesen,
daß es keine ganz bestimmte revolutionäre Theorie gibt, ohne daß ihr eine ganz
bestimmte revolutionäre Praxis zugrunde liege. Und weil es sich bei der menschlichen
Praxis immer um entweder materielle oder geistige Bedürfnisse handelt, hat der junge Marx
schon zu Beginn seiner Arbeit, als er verstand, daß Revolutionen eine materielle
Grundlage nicht entbehren können, den Satz geprägt: "Die Theorie wird in einem
Volke immer nur so weit verwirklicht, als sie die Verwirklichung seiner Bedürfnisse
ist" 2)
Was nun die Leninsche Theorie betrifft, so hat einst Pavel Axelrod, als sie noch
Parteigenossen waren, ihm aber schon die Gegensätze ihrer Anschauungen dämmerten, Lenin
in Bezug auf seine Theorie einen "J a k o b i n e r" gescholten. Er tat es, ohne
daß er auch nur die geringste Ahnung davon oder das Verständnis dafür gehabt hätte,
daß die herannahende russische Revolution eben Jakobiner brauche und diese somit
heranwuchsen. Lenin seinerseits war weder beleidigt noch empört. Aus seiner im Jahre 1902
veröffentlichte Schrift "Was tun?" geht klar hervor, daß er ein Jakobiner sein
wollte und sich selbst als solcher und als einer, der den Geist des Volkstribunen in sich
hatte, verstand. Und als er das Wort "Jakobiner" oder "Volkstribun"
fallen ließ, da soll er wohl der Reihe nach an Robespierre und an Auguste Blanqui gedacht
haben. Freilich wußte er genau anhand seiner Lektüre, daß Marx infolge weiter
entwickelter gesellschaftlicher Verhältnisse, und infolge veränderten Bedingungen des
Klassenkampfes, sich weit von diesem Blanqui entfernt hatte und über ihn hinaus gegangen
war. Jedoch vermochte dieses rein theoretische Wissen, wie wir noch zeigen werden, nicht
zu verhinderten, daß Lenin, was er selber auch geglaubt haben mag, praktisch mehr oder
weniger bei ihm gerade stehengeblieben ist, und zwar deshalb weil im Anfang des
Jahrhunderts in Rußland die Verhältnisse einigermaßen jenen ähnlich waren, die
seinerzeit von Blanqui vorgefunden wurden. Zu ihrer weiteren Entwicklung war in Rußland
eben eine Revolution eine unbedingte Voraussetzung.
II.
Gegen Mitte des 19. Jahrhunderts war die bürgerliche Revolution in England (mit der
Parlamentsreform von 1832) kaum, in Frankreich, trotz ihrer politischen Bedeutung, noch
lange nicht vollendet. in den deutschen Ländern mußte sie erst noch anfangen. in
Frankreich, von Deutschland ganz zu schweigen, waren die wirtschaftliche Lage und die
Klassenverhältnisse höchstens die des Frühkapitalismus, keineswegs jene einer modernen
Industriegesellschaft. Als 1848 das "Kommunistische Manifest" erschien, trugen
darin die Auseinandersetzungen - sei es direkt, sei es indirekt - von alledem deutlich die
Spuren. Es hieß dort zum Beispiel:
"... der erste Schritt in der Arbeiterrevolution (ist) die Erhebung des Proletariats
zur herrschenden Klasse, die Erkämpfung der Demokratie. Das Proletariat wird seine
politische Herrschaft dazu benutzen, der Bourgeoisie nach und nach alles Kapital zu
entreißen, alle Produktionsinstrumente in den Händen des Staates, das heißt des als
herrschende Klasse organisierten Proletariats, zu zentralisieren und die Masse der
Produktionskräfte möglichst rasch zu vermehren".3)
Fast gleich darauf folgten die bekannten 10 Punkte eines nach heutigem Maßstab an sich
durchaus nicht so radikalen Reformprogramms.
Daß Marx und Engels an dieser Stelle den Staat dem "als herrschende Klasse
organisierten Proletariat" gleichstellen, an einer anderen Stelle "die (moderne)
Staatsgewalt" als "Ausschuß", der die gemeinschaftlichen Geschäfte der
ganzen Bourgeoisieklasse verwaltet" 4) definieren, muß nicht als ein Widerspruch
verstanden werden. Der Staat, identisch mit einem die bürgerlichen Interessen
verwaltenden Ausschuß, und der Staat, identisch mit dem "als herrschende Klasse
organisierten Proletariat", sind im "Kommunistischen Manifest" ganz
deutlich zwei unterschiedene Begriffe, zwei verschiedene Phasen der gesellschaftlichen
Entwicklung, welche von einander getrennt sind durch den gewaltsamen Umsturz aller
bisherigen Ordnung. Und das versteht sich von selbst aus den Ansichten heraus, welche sie
in dieser Schrift verkündeten.
Marx und Engels vertraten 1848 die Meinung, daß die Arbeiterklasse, nachdem sie die Macht
erobert hätte, den Charakter des Staates ändern könnte, daß es ihr möglich wäre, ihn
von einem Werkzeug der Bourgeoisie in ein Werkzeug der Proletarier umzuwandeln. Das ist
eine, damals auch von Blanqui vertretene, jakobinische Auffassung, und das geht auch
daraus hervor, daß sie die Erhebung der Arbeiterklasse und ihre Organisation als
herrschende Klasse als die Erkämpfung der Demokratie betrachteten.
Die sozialdemokratischen Politiker, die von Anfang an gar nicht die Interessen der
Arbeiter vertraten, aber in der politischen Arena auch nicht mehr die Wortführer des
emporkommenden (jakobinischen) Bürgertums waren, sondern für einen moderneren
Kapitalismus als den des 19. Jahrhunderts kämpften, bezogen ihren bürgerlichen
Anschauungen gemäß, insofern auch sie eine Zentralisierung (gewisser)
Produktionsinstrumente in den Händen des Staates anstrebten, das selbstverständlich auf
den bürgerlichen Staat. Vom 'Jakobiner' Lenin wurden sie deswegen getadelt, weil Lenin
für den wesentlichen Charakter der westeuropäischen Sozialdemokratie überhaupt kein
Verständnis hatte und deshalb ihre Politik als eine "falsche Politik verräterischer
Renegaten" betrachtete.
Lenin verstand seine 'Kritik' an dieser Sozialdemokratie als eine Wiederherstellung des
Marxismus. Das aber war ein Irrtum! Dieser Anspruch läuft nur darauf hinaus, daß er
gewisse Teile des Marxismus von 1848, Teile, von denen Marx bereits kurz nach der
Niederlage der französischen Februarrevolution sich zu distanzieren an fing und die er
später völlig ablehnte, zum Kernpunkt seiner Revolutionstheorie machte. Was er
wiederherstellte, war nicht der Marxismus, sondern; der 'Marxismus' wie er ihn zu
verstehen glaubte, wie er ihn aufgrund der ihm bekannten gesellschaftlichen Wirklichkeit
verstehen mußte Zwar wußte er ganz genau, daß Marx und Engels, als sie im Juni 1872 ein
Vorwort zur unveränderten neuen deutschen Ausgabe des Kommunistischen Manifestes
schrieben, darin nicht nur gewisse Stellen als veraltet bezeichneten, sondern auch
nachdrücklich erklärten, daß "die Arbeiterklasse nicht die fertige Staatsmaschine
einfach in Besitz nehmen und sie für ihre eigenen Zwecke in Bewegung setzen kann".5)
Jedoch konnte er damit nichts anfangen. Die Klassenkampferfahrungen, woraus diese
Schlußfolgerung gezogen wurde, fehlten in Rußland, in dem, wie er selbst wiederholt
bezeugt hatte, die bürgerliche Revolution, sei es eine bürgerliche Revolution, die
"als Sieg der Bourgeoisie" unmöglich war,6) noch bevorstand.
Genau darum hat Lenin mit allen Stellen, an denen Marx und mit unter auch Engels von der
"Zerschlagung" der alten Staatsmaschine und vom "Absterben" des
Staates reden, immerfort die größten Schwierigkeiten und Probleme.
III
Wo Lenin sich mit den betreffenden Stellen im Kommunistischen Manifest befaßt, weist er
zwar darauf hin 7) , daß Marx und Engels den Staat dem "als herrschende Klasse
organisierten Proletariat" gleichstellen, aber er sieht nicht, daß daraus
hervorgeht, daß sie 1848 noch auf dem später widerrufenen Standpunkt standen, daß die
siegreiche Arbeiterklasse tatsächlich die gegebene Staatsmaschine einfach in Besitz
nehmen und benutzen konnte; er sieht nicht, daß ihre damalige Ansicht eine Folge davon
ist, daß sie 1848 die Eroberung der jakobinischen Demokratie immer noch als den ersten
Schritt in der Arbeiterrevolution betrachteten; Lenin sieht es nicht, weil ihm der Unter
schied zwischen Marxismus und Jakobinismus, wenn man will: zwischen Marxismus und
Blanquismus, entgeht. Er hält seine blanquistischen oder jakobinischen Auffassungen für
marxistische, interpretiert umgekehrt aus oben erwähnten Gründen den Marxismus als
Jakobinismus. Lenin betrachtet also 1917 (!) das, was zu diesem Punkt im Kommunistischen
Manifest steht, immer noch als die erste Aufgabe der Arbeiterklasse und behauptet, das sei
die wahre Auffassung Marxens, trotz einer eindeutigen Erklärung von Engels, daß die
Geschichte Marxens frühere Ansicht als eine Illusion entlarvt hat.
Es ist richtig, daß in "Staat und Revolution" irgendwo bemerkt wird, daß Marx
und Engels anläßlich der Erfahrungen der Pariser Kommune das Manifest korrigiert
haben.8) Trotzdem heißt es dort: "Das Proletariat braucht die Staatsgewalt, eine
zentralisierte Organisation der Macht, eine Organisation des Zwanges, sowohl zur
Unterdrückung des Widerstandes der Ausbeuter als auch zur Leitung der ungeheuren Masse
der Bevölkerung: der Bauernschaft, des Kleinbürgertums, der Halbproletarier, um die
sozialistische Wirtschaft 'in Gang zu bringen'... 'Der Staat, das heißt das als
herrschende Klasse organisierte Proletariat' - diese Marxsche Theorie ist mit seiner
ganzen Lehre von der revolutionären Rolle des Proletariats in der Geschichte
unzertrennlich verbunden. Die Krönung dieser Rolle bildet die proletarische Diktatur, die
politische Herrschaft des Proletariats".9)
Lenin versteht somit unter der Diktatur des Proletariats: den Staat, der das als
herrschende Klasse organisierte Proletariat ist. So verstanden es auch Marx und Engels,
aber ... 1848! Wenn später Engels dem deutschen Philister klarmachen will, was denn
eigentlich die proletarische Diktatur sei, so weist er auf die Pariser Kommune hin, die
gerade zeigte, daß der bürgerliche Staat nicht ohne weiteres in ein Werkzeug der
Arbeiterklasse verwandelt werden konnte. Weil sich die Diktatur des Proletariats so, wie
sie 1848 verstanden wurde, als eine Illusion erwiesen hatte, bekommt dieser Begriff bei
Marx und Engels 1848 einen anderen Inhalt. Von diesem Begriffswechsel hat Lenin nichts
gemerkt, obwohl man paradoxerweise in "Staat und Revolution", neben den manchmal
etwas doppeldeutigen Darlegungen von Engels, die in reicher Fülle zitiert werden, dann
und wann auch jene sehr klare von Marx findet. Mit dem Inhalt des neuen Begriffs hat Lenin
gerungen, ohne die Sache bewältigen zu können.
IV.
Bei Lenin besteht der bürgerliche Staat vor, das was er den 'proletarischen Staat' nennt,
nach der proletarischen Revolution. Die von ihm angeführten Worte von Engels über das
Absterben des Staates beziehen sich nach Lenin auf das Absterben des 'proletarischen
Staates' dort, wo Marx oder Engels von der Zerschlagung des Staates oder der Aufhebung des
Staates sprechen, sei der bürgerliche Staat gemeint.10)
Von diesem Unterschied zwischen einem bürgerlichen Staat, der zerschlagen werden soll,
und einem an seine Stelle tretenden 'proletarischen Staat', der absterben wird, ist bei
den reiferen Marx und Engels keine Rede. Für sie ist die Zerschlagung des bürgerlichen
Staates der Bourgeoisie zugleich eine Umänderung der gesellschaftlichen Verhältnisse,
nämlich die Verwandlung der Produktionsmittel in gesellschaftliches Eigentum. Dort, wo es
Privateigentum gibt, hat die Gesellschaft die bestimmte Form des Staates. Sind aber die
Produktionsmittel gesellschaftliches Eigentum geworden, so wird - so sagt Engels -
"das Eingreifen einer Staatsgewalt in gesellschaftliche Verhältnisse auf einem
Gebiet nach dem anderen überflüssig und schläft dann von selbst ein".
Unmittelbar danach heißt es: "An die Stelle der Regierung über Personen tritt die
Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen. Der Staat wird nicht
'abgeschafft', er stirbt ab."11)
Der Jakobiner Lenin hat keine Schwierigkeiten damit, daß Engels nur wenige Zeilen vorher
davon geredet hat, daß "das Proletariat (bei seiner Umwälzung der Gesellschaft) die
Staatsgewalt ergreift und die Produktionsmittel in Staatseigentum verwandelt".12) Das
ist für ihn eine Selbstverständlichkeit. Probleme hat er, wenn Engels darauf in einem
Atemzug folgen läßt: "Aber damit hebt es sich selbst als Proletariat, damit hebt es
alle Klassenunterschiede und Klassengegensätze auf, und damit auch den Staat als
Staat." Und Probleme hat er erst recht, wenn Engels das dann in dieser Weise
präzisiert, daß "der erste Akt, worin der Staat wirklich als Repräsentant der
ganzen Gesellschaft (also nicht länger als Repräsentant der Bourgeoisklasse - C.B.)
auftritt..., zugleich sein letzter selbständiger Akt als Staat ist".13)
Die Tatsache, daß Engels in diesem Zusammenhang den Staat "eine besondere
Repressionsgewalt" nennt, veranlaßt Lenin zu der Schlußfolgerung, daß die eine
besondere Repressionsgewalt (der Bourgeoisie) ersetzt werden soll durch eine andere
besondere Repressionsgewalt (der Arbeiterklasse). Das steht im Widerspruch mit der
Engelsschen Ansicht, daß, sobald der Staat sich selbst "überflüssig" gemacht
hat, "es nichts mehr zu reprimieren gibt".14) Letzteres gibt Lenin dies
übrigens an einer anderen Stelle zu, wo es bei ihm heißt: "Wenn... die Mehrheit des
Volkes selbst ihre eigenen Bedrücker unterdrückt, so ist eine besondere
Repressionsgewalt schon nicht mehr nötig"15). "in diesem Sinne beginnt der
Staat abzusterben", fügt er hinzu. Aber das Absterben bezieht sich bei ihm
natürlich doch wieder auf den 'proletarischen Staat', denn so etwas wie das Absterben des
zerschlagenen bürgerlichen Staats bleibt für ihn das große Hindernis.
Dieses Hindernis zeigt sich ganz klar dort, wo Lenin auf "so eine interessante
Erscheinung, - wie die Beibehaltung des 'engen bürgerlichen Rechtshorizonts' während der
ersten Phase des Kommunismus"16) hinweist. im Lichte der Marxschen Auffassungen ist
das leicht zu verstehen. im Gegensatz zu jenen Juristen, die da behaupten, der Staat
bestimme die Rechtsnormen, erklärt Marx, daß "sowohl die politische wie die
bürgerliche Gesetzgebung nur das Wollen der ökonomischen Verhältnisse proklamieren und
protokollieren".17) in seiner Verteidigungsrede im Kommunistenprozeß zu Köln im
Jahre 1849 formulierte er seine Ansicht in dieser Weise, daß "die Gesellschaft nicht
auf dem Gesetze beruht", sondern das Gesetz auf der Gesellschaft.
Das heißt also, daß Änderungen in der Produktionsweise zu neuen sozialen Verhältnissen
und diese ihrerseits zu neuen Rechtsformen führen. Einige alte Rechtsnormen, die zur
früheren Gesellschaftsstruktur gehörten, verschwinden. Sie sind nicht mehr nötig zur
juristischen Formulierung einer sozialen Beziehung, welche infolge der gesellschaftlichen
Strukturänderung aufgehoben ist. Aber sie verschwinden nicht sofort! Sie bestehen öfters
weiter inmitten der übrigen Normen, die schon ganz übereinstimmen mit den neuen
Verhältnissen. So gibt es noch feudale Normen im Zeitalter des Kapitalismus, und so wird
auch der Kommunismus während seiner ersten Entwicklungsstufe noch nicht alle Traditionen
oder Spuren des Kapitalismus losgeworden sein. Aber das Gebiet, in dem diese bürgerlichen
Rechtsschnurren im Zeitalter des Kommunismus noch wirken, wird immer kleiner, diese Normen
bekommen immer weniger Gültigkeit. Das ist es, was man bei den Worten "der Staat
stirbt ab" zu verstehen hat.
Lenin weist auf diese Erscheinung hin, versteht sie aber nicht als das Absterben des
bürgerlichen Staates. Er schreibt: "Das bürgerliche Recht.... setzt natürlich auch
den bürgerlichen Staat voraus, denn das Recht ist nichts ohne einen Apparat, der imstande
ist, die Einhaltung der Rechtsnormen zu erzwingen".18) Also hängt nach Lenin das
Recht vom Staat ab, anstatt daß Recht und Staat beide aus der Gesellschaft abgeleitet
werden. Keinen Moment gibt Lenin sich davon Rechenschaft, daß sich die juristischen
Beziehungen der Menschen untereinander langsamer verändern als die sozialen
Verhältnisse, die sie widerspiegeln. Das führt bei ihm zu einer merkwürdigen
Konsequenz. Obwohl er verneint, daß es der bürgerliche Staat wäre, der abstirbt - weil
dieser schon zerschlagen wurde -, heißt es: "Unter dem Kommunismus bleibt nicht nur
das bürgerliche Recht eine gewisse Zeit bestehen, sondern sogar der bürgerliche Staat -
ohne Bourgeoisie".19).
Für Marx und Engels ist die proletarische Revolution eine gesellschaftliche Umwälzung:
die Verwandlung der Produktionsmittel in gesellschaftliches Eigentum. Durch diese
Umwälzung wird der Staat zerschlagen, indem die gesellschaftlichen Verhältnisse, deren
Produkt der Staat ist, aufgehoben werden, und eben dadurch stirbt er ab.
Anders bei Lenin! Für ihn bedeutet die proletarische Revolution, daß der bürgerliche
Staat in den 'proletarischen Staat' verwandelt wird. Die Aufgabe des 'proletarischen
Staates' wäre "bis zum Eintritt der 'höheren' Phase des Kommunismus".... die
strengste Kontrolle über das Maß der Arbeit und das "Maß der Konsumtion",
eine Kontrolle, die "beginnen muß mit der Expropriation der Kapitalisten und
durchgeführt werden soll... durch den Staat der bewaffneten Arbeiter".20)
Nach Lenin soll, wie man sehen kann, die Enteignung der Kapitalisten durch den
'proletarischen Staat' geschehen, und zwar nach der Revolution, die also ein rein
politischer Akt ist. Das ist die alte, im Kommunistischen Manifest verkündete Auffassung,
daß das Proletariat seine politische Herrschaft dazu benutzen soll, der Bourgeoisie
"nach und nach alles Kapital zu entreißen". in der zweiten Hälfte des
vergangenen Jahrhunderts haben Marx und Engels eine ganz andere Auffassung entwickelt, die
so zusammengefaßt werden kann, daß die Revolution die Aufhebung der Arbeiterklasse ist.
Davon hat Lenin nichts verstanden, weil die russische, wesentlich vorkapitalistische
Wirklichkeit, ihm dem Jakobiner, das Verständnis dafür erschwerte.
Wie weit er vom Marxismus entfernt war, das wird aus verschiedenen Stellen in "Staat
und Revolution" ersichtlich, obwohl viele gerade in dieser Schrift seine radikalsten
Standpunkte gefunden zu haben glauben. Er macht da zum Beispiel einen Unterschied zwischen
dem bürgerlichen Staat, "der nur durch die Revolution aufgehoben werden kann"
und "dem Staat überhaupt", der nur absterben kann.21) in Wirklichkeit besteht
der Staat nur als die historische Erscheinungsform bestimmter Gesellschaften: der Staat
der Sklavenhalter, des Feudaladels, der Bourgeoisie.22)
Wenn man ein anderes Beispiel will: Lenin spricht mehrmals von der Lehre vom Klassenkampf,
von der er weiß, daß sie "nicht von Marx, sondern vor ihm von der Bourgeoisie
geschaffen worden" ist.23) Aber so eine Lehre vom Klassenkampf gibt es nicht, weder
bei den intellektuellen Vertretern der emporkommenden Bourgeoisie, noch bei Marx. Der
Klassenkampf wird nicht gelehrt, sondern es gibt ihn; er existiert als eine Tatsache
sowohl in früheren Gesellschaften wie im Kapitalismus und ist dort eine unter unseren
Augen vor sich gehende geschichtliche Bewegung.
An einer der betreffenden Stellen behauptet Lenin: "die Lehre vom Klassenkampf ist,
allgemein gesprochen, für die Bourgeoisie annehmbar", die Diktatur des Proletariats
aber sei für die Bourgeoisie unannehmbar. Das stimmt aber insofern nicht, als das
Bestehen des Klassenkampfes nicht im allgemeinen, sondern nur solange von der Bourgeoisie
anerkannt wurde, wie sie noch eine revolutionäre Klasse war. Weiter haben gewisse
Vertreter der jungen Bourgeoisie, nämlich die Jakobiner, sehr wohl eine Diktatur
anerkannt, die zwar keineswegs eine Herrschaft der Arbeiter darstellte, aber genau damit
über einstimmte, was Lenin die "Diktatur des Proletariats" nannte.
Hiermit sind wir wieder bei dem angelangt, worauf wir schon mehrfach hingewiesen haben:
die unbestreitbare Tatsache, daß Lenin, wie er auch wollte, ein Jakobiner war, daß es
sich in seiner Revolutionstheorie um eine rein politische Umwälzung drehte, in der nicht
die Verwandlung der Produktionsmittel vom Privateigentum in gesellschaftliches Eigentum
24) dasjenige ist, worauf es in erster Stelle ankommt, sondern worin "die Frage der
Staatsgewalt die Hauptfrage einer jeden Revolution"25) bildet.
Völlig in Übereinstimmung hiermit ist es, daß Lenin 1917 mit einem
radikal-demokratischen, wenn man will kleinbürgerlichen, immerhin kapitalistischen
Wirtschaftsprogramm in die Oktoberrevolution hineingegangen ist, ein Programm,26) das die
Grundfragen einer nicht-kapitalistischen Gesellschaftsordnung überhaupt nicht berührt.
Kurz vor dem Oktober schrieb er: "Außer dem hauptsächlich 'unter drückenden'
Apparat des stehenden Heeres, der Polizei und der Beamtenschaft gibt es im modernen Staat
einen Apparat, der besonders eng mit den Banken und Syndikaten verbunden ist, einen
Apparat, der eine große Kontroll- und Registrierungsarbeit leistet.... Dieser Apparat
darf und soll nicht zerschlagen werden. Man muß ihn seiner Unterordnung unter die
Kapitalisten entreißen, die Kapitalisten und alle Fäden ihres Einflusses abschneiden
...".27)
Etwas weiter heißt es: "Ohne die Großbanken wäre der Sozialismus nicht zu
verwirklichen. Die Großbanken sind jener 'staatliche Apparat', den wir für die
Verwirklichung des Sozialismus brauchen und den wir vom Kapitalismus fertig
übernehmen.... Diesen 'staatlichen Apparat' (der im Kapitalismus nicht durchweg staatlich
ist, der aber bei uns, im Sozialismus (!), durchweg verstaatlicht sein wird) können wir
übernehmen und mit einem Schlag, mit einem Befehl 'in Gang setzen' ... Durch einen
einzigen Erlaß der proletarischen Regierung können und müssen diese Angestellten in die
Stellung von Staatsangestellten versetzt werden ..."28) Mit anderen Worten: Wenn man
nur das stehende Heer, die Polizei und das Beamtentum unschädlich macht, kann man den
gegebenen Staatsapparat "für Zwecke der Arbeiter in Bewegung setzen".
Alle Ausführungen von Lenin können nicht verwischen, daß es bei dem, was er 'den
bürgerlichen Staat' und den 'proletarischen Staat' nennt, nicht um zwei, sondern um bloß
einen Staat geht, dessen politische Führung, wie auch teilweise seine Beamten, seine
ehemaligen Heerführer und seine militärische Disziplin man übernommen hat. Man kann
fragen, inwiefern und bis zu welchem Zeitpunkt es sich dabei um Selbsttäuschung handelte
und seit wann die Täuschung anderer, d. h. der immer noch ausgebeuteten und
unterdrückten Arbeiterklasse, anfing. Aber wie die Antwort auch lauten mag, an dem
gesellschaftlichen Charakter seiner Revolution ändert sie durchaus nichts!
1922 erklärte Lenin: "Wir haben den alten Staatsapparat übernommen. Das war unser
Unglück!"*) Diese Worte stellen das unbeabsichtigte, aber deutlichste und vielleicht
vernichtendste Urteil über seine Theorie und über die bolschewistische Praxis dar. Die
Kritik aber soll darauf hinweisen, daß die rückständigen, feudalen oder halb-feudalen
Verhältnisse in Rußland während der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, wie auch
das Fehlen einer kräftigen und selbstbewußten Bourgeoisie sowohl für Lenins
Revolutionstheorie als für die Praxis der Bolschewiki eine Erklärung bilden.
Anmerkungen
*) Der Autor gibt hier keine Quelle an. Das Zitat findet sich in Lenin Werke, Bd. 33, S.
414, Berlin 1962 (der Scanner).
1.Sperrungen sind Hervorhebungen im Originaltext. Wo es Unterstreichungen gibt, rühren
sie vom Verfasser dieser Arbeit her. 2.Marx, "Einleitung der Kritik der Hegelschen
Rechtsphilosophie", MEW, Bd. 1, S.386 3.NEW, Bd. 4, S. 481 4.MEW, Bd. 4, S. 464
5.MEW, Bd. 4, S. 574 6.Lenin, Gesammelte Werke, Bd. XI, l. Teil, S. 28 ff. 7.Lenin,
Sämtliche Werke, Bd. XXI, S. 484 8.Ebenda. S. 497 9.Ebenda. S. 486 10.Lenin, Sämtl.
Werke, Bd. XXI, S. 485 11.Engels, MEW, Bd. 20, S. 262 12.MEW, Bd. 20, S. 261 13.Ebenda, S.
262. 14.Ebenda, S. 262 15.Lenin, Sämtl. Werke, Bd. 20, S. 502. 16.Lenin, Sämtl. Werke,
Bd. 20, S. 554 17.MEW, Bd. 4, S. 109. 18.Lenin, Sämtl. Werke, Bd. III, S. 554 19.ebenda
20.ebenda, S. 552 21.Lenin, Sämtl. Werke, Bd. XXI, S. 479 22.Auf die an sich berechtigte
Frage, ob es nach so einer Revolution wie der russischen, in der die Produktionsmittel
verstaatlicht wurden, der Kapitalismus also nicht aufgehoben wurde und anstatt der
Bourgeoisie eine Bürokratie oder ein Managertum zur herrschenden Klasse wurde, noch von
einem bürgerlichen Staat die Rede sein kann, qehen wir hier nicht ein. Sie gehört nicht
zu unserem eigentlichen Gegenstand. 23.Lenin, Sämtl. Werke, Bd. XXI, S. 493 24.Man achte
darauf, daß Vergesellschaftung der Produktionsmittel etwas ganz anderes ist als deren
Verstaatlichung! 25.Lenin, Sämtl. Werke, Bd. XXI, S. 178 26.wir meinen die Broschüre
"Werden die Bolschewiki die Staatsmacht behaupten?", Sämtl. Werke, Bd. XXI (ein
Seitenangabe fehlt; Der Scanner) 27.sämtl. Werke, Bd. XXI, S. 330
Lenin, Sämtl. Werke, Bd. XXI, S. 330/331
N. Lenin als Stratege der bürgerlichen Revolution
KRITIK DES BOLSCHEWISMUS ANHAND EINER ANALYSE VON LENINS SCHRIFT ÜBER DIE SOGERANNTE
"LINKE KINDERKRANKHEIT"
Die verhältnismäßig kleine Schrift von Lenin über den "linken Radikalismus"
als "die Kinderkrankheit im Kommunismus"1) nimmt einen - auf den ersten Blick
merkwürdigen, bei näherer Betrachtung gar nicht so überraschenden - Sonderplatz in
seinem ganzen Schrifttum ein. Viele Jahre hindurch wurde sie, namentlich in den
westeuropäischen Ländern, häufiger zitiert und eifriger studiert und diskutiert als
jedes andere Leninbuch. Zudem wurde sie auch heftiger angegriffen.
Sie war weder die erste Arbeit Lenins, die außerhalb Rußlands eine Kritik am
Bolschewismus auslöste, noch die letzte. Jedoch war sie diejenige, welche den größten
Widerhall fand und das natürlich keineswegs zufällig, sondern aus bestimmten
historischen und politischen, das heißt also gesellschaftlichen Gründen.
Lenin griff, als er sie schrieb, nicht in russische Fragen ein, sondern in solche, die
damals in Westeuropa auf der Tagesordnung standen. Was er unternahm, war ein Versuch, die
Strategie und Taktik der bolschewistischen Revolution als grundlegend für den
proletarischen Klassenkampf im Kapitalismus darzustellen. Damit wurde praktisch eine Frage
aufgerollt, die theoretisch schon um 15 Jahre früher eine Rolle gespielt hatte, als Rosa
Luxemburg 1904 in den Spalten der "Iskra" und der "Neuen Zeit" das
Leninsche Organisationsprinzip kritisierte.2)
Worum es sich 1920 handelte war jene niemals mehr von der Bildfläche verschwundene Frage,
inwiefern die russische Revolution "internationale Bedeutung" habe.
"ich spreche hier von internationaler Bedeutung nicht im weiten Sinne des Wortes: im
Sinne der Einwirkung unserer Revolution auf alle Länder sind nicht einige, sondern alle
ihre Grundzüge und viele ihrer sekundären Züge von internationaler Bedeutung. Nein, ich
spreche davon im engsten Sinne des Wortes, d.h., versteht man unter internationaler
Bedeutung, daß das, was bei uns geschehen ist, internationale Geltung hat oder sich mit
historischer Unvermeidlichkeit im internationalen Maßstab wiederholen wird, so muß man
einigen Grundzügen unserer Revolution eine solche Bedeutung anerkennen."
Gerade so formulierte es Lenin selbst buchstäblich gleich am Anfang seiner Schrift (S.
393). Die Absichten, welche er beim Schreiben vor Augen hatte, waren damit aufs genaueste
präzisiert. Seine Schrift sollte - wie die meisten seiner Publikationen - einen
handgreiflichen Zweck erfüllen, einem Bedürfnis entgegenkommen, das vom faktischen,
durch ihre Klassenlage bedingten Verhalten der westeuropäischen Arbeiter wachgerufen
wurde. Deren Praxis vertrug sich schlecht mit den taktischen Schemata des Bolschewismus.
Sie ließ bei westeuropäischen Marxisten Zweifel an der Allgemeingültigkeit dieser
Schemata aufkommen. 3) Schon tauchte dahinter die Frage auf, ob denn die
bolschewistischen, Ansprüche auf die Führung der "Weltrevolution" - ob man sie
nun in "nicht ferner Zukunft" (Lenin, S. 394) zu erwarten habe, oder nicht -
wirklich berechtigt seien.
Lenin machte es sich zur Aufgabe, jene Zweifel zu zerstören. Das Ergebnis seiner
Bemühungen war gerade das Gegenteil. Nach der Veröffentlichung seiner Schrift brach in
den Kreisen der europäischen Linken die Kritik am Bolschewismus - so dürftig sie damals
auch nur sein konnte - erst recht los. Als Gorter die Schrift als einer der ersten
angriff, warf er Lenin vor, er habe mit ihr - allerdings für Westeuropa - "sein
erstes schlechtes Buch" geschrieben. 4)
in seiner Gegenschrift verwirft Gorter die Leninsche Strategie deshalb, weil sie für die
westeuropäischen Verhältnisse ungeeignet sei, keineswegs den Forderungen der
westeuropäischen Praxis im allgemeinen, der deutschen Revolution insbesondere,
entgegenkomme, von falschen Prämissen ausgehe und sodann zu unrichtigen
Schlußfolgerungen gelange. Seine ganze Gegenargumentation basierte Gorter auf die
damalige Lage, auf die vorhandene Situation. Lenin, so könnte man Gorters Standpunkt
zusammenfassen, schätze sie falsch ein, weil er eine falsche, eine russische Brille
aufgesetzt habe. Mit diesem Prädikat "russisch" gab sich Gorter einstweilen
zufrieden. An die Frage, was das denn eigentlich für eine Brille sei, kam er 1920 kaum
heran.
Otto Rühle, auch einer von Lenins damaligen linken Gegnern, ging bedeutend weiter, als er
sich fast zwanzig Jahre später abermals mit der Leninschen Schrift über die
"Kinderkrankheit" beschäftigte.
An der Leninschen Arbeit rügt er nicht nur die praktischen Ratschläge und die empfohlene
Taktik - die sich später tatsächlich als völlig untauglich erwiesen hat - sondern auch
die von Lenin angewandte Methode. Er wirft Lenin einen Mangel an Dialektik vor, eine
Unfähigkeit, "Dinge und Prozesse in ihren historischen Zusammenhänge und in ihrer
dialektischen Bedingtheit zu sehen", eine Unfähigkeit "bürgerliche und
proletarische Revolution als zwei historisch völlig verschiedene Kategorien
auseinanderzuhalten."
Nichtsdestoweniger schreibt Rühle in Bezug auf unseren Gegen stand: "So löst sich
die Polemik Lenins in eitel Dunst auf. Seine Schimpferei und Polterei hat keinerlei Bezug
zur Wirklichkeit. Er rennt gegen politische Gegner an, die nur in seinen Halluzinationen
existieren. Er macht sich lächerlich durch einen Kampf gegen Windmühlen."
Uns interessiert hier weniger die - schon längst entschiedene - Frage, ob Lenin damals
die westeuropäischen Verhältnisse richtig eingeschätzt hat, als jene, wie er zu seiner
Einschätzung gekommen ist, worauf sie eigentlich basierte. Nicht daß er eine andere
Sprache führte als seine Opponenten - wie diese selbst schon festgestellt haben - ist
für uns der Angelpunkt, sondern die Frage weshalb, und die worin denn der Unterschied
bestanden hat. Nicht darum, ob er sich "lächerlich" gemacht hat oder ob er
"einen Kampf gegen Windmühlen" führte, handelt es sich für uns, sondern
darum, was seine Schrift bedeutet, was sie ist ! Nicht - was an und für sich natürlich
durchaus berechtigt wäre - von der damaligen Lage aus wollen wir sie beurteilen. Es geht
uns um ihren theoretischen Gehalt. Daß Lenins Schrift der Kritik der Tatsachen erlag, ist
selbstverständlich wichtig, aber leicht zu konstatieren. Es besagt jedoch weder, wie es
dazu kommen mußte, noch was bei dieser tödlichen Kritik der Tatsachen wesentlich sich
abgespielt hat und auf dem Spiele stand.
II.
Nach Georg Lukács 6) hat Lenin "niemals örtlich oder zeitlich beschränkte,
lokalrussische Erfahrungen verallgemeinert. Er hat aber", so fährt Lukács fort,
"mit dem Blick des Genies, bereits am Ort und im Zeltpunkt seiner ersten Wirksamkeit
das Grundproblem unserer Zeit: die herannahende Revolution erkannt. Und er hat dann alle
Erscheinungen, sowohl die russischen wie die internationalen, aus dieser Perspektive, aus
der Perspektive der Aktualität der Revolution verstanden und verständlich gemacht."
Was die Richtigkeit oder die Unrichtigkeit der Behauptung im ersten Satz dieser Stelle
angeht - sie wird sich im Verlauf unserer Darlegungen genügend zeigen. Es ist uns hier um
deren zweiten Teil zu tun, wo von der herannahenden Revolution als Grundproblem unserer
Zeit die Rede ist, und woran unmittelbar auffällt, daß dort die Frage nach dem sozialen
Charakter, nach dem sozialen inhalt dieser Revolution überhaupt nicht gestellt wird. Sie
ist offenbar für Lukács gleich unbedeutend wie für Lenin selbst. Dennoch kommt dem
zitierten Passus jeweils eine ganz andere Bedeutung zu, je nachdem, ob er sich auf eine
Revolution dieses oder jenes Typus bezieht. Auch darauf kommen wir näher zurück. Wir
möchten hier erst, und zwar anhand der Schrift, die uns beschäftigt, ein Beispiel dafür
bringen, daß Lenin - trotz gelegentlicher Trennung derselben - die sozialen Merkmale ganz
verschiedener Revolutionen kunterbunt durcheinanderwirft. Man findet es gleich im ersten
Kapitel, und zwar dort, wo er (S.39^/5) voller Begeisterung einen Aufsatz zitiert, den
Karl Kautsky am 10.März 1902 in der russischen revolutionären Zeitung "Iskra"
unter dem Titel "Die Slawen und die Revolution" publizierte.
Kautsky vertritt in den von Lenin angeführten Stellen die Ansicht, daß "der
Schwerpunkt des revolutionären Denkens und Wirkens (sich) immer mehr nach den Slawen zu
(verschiebe). Das revolutionäre Zentrum", schreibt er, "wandert von West nach
Ost. in der ersten Hälfte des XIX. Jahrhunderts war es in Frankreich, zeitweise in
England, 1848 trat auch Deutschland in die Reihe der revolutionären Nationen ein ... Das
neue Jahrhundert jedoch beginnt unter Erscheinungen, die den Gedanken nahe legen, daß wir
einer weiteren Verschiebung des revolutionären Zentrums entgegengehen, und zwar einer
Verschiebung nach Rußland hin ... Rußland, das so viele revolutionäre Anregungen von
dem Westen empfangen. ist vielleicht Jetzt daran, auch seinerseits revolutionäre
Anregungen zu geben." (S. 394)
Das Kautsky-Zitat nimmt bei Lenin etwa 3 mal so viel Raum ein wie hier bei uns. Er führt
es fort bis zu einem fast rührenden poetischen Schluß, in dem Kautsky die Slawen des
Jahres 1846 vergleicht mit "einem eisigen Frost, der die Blüten des
Völkerfrühlings tötete", sodann aber die Hoffnung äußert, "es sei ihnen
vielleicht beschieden, nun zum Föhnsturm zu werden, der das Eis der Reaktion zum Bersten
bringt" (S.395).
Für unsere Zwecke brauchen wir das alles nicht zu wiederholen. Zum Kerngedanken wird da
weiter nichts hinzugefügt. Also können wir uns auf das Obige beschränken, das wir -
einschließlich der von Lenin vorgenommenen Kürzungen - genau so wiedergegeben haben, wie
man es in seiner Schrift findet. Lenin sagt dazu (S.394), Kautsky habe vorausgesehen,
"daß eine Situation eintreten könne, in welcher der Revolutionismus des russischen
Proletariats zum Vorbild für Westeuropa werden würde." inwiefern das zutrifft,
können wir, gerade der Kürzungen wegen, nicht beurteilen. Jedenfalls ist davon in dem
Zitat, so wie es von Lenin gebracht wird, keine Rede, auch nicht in dem weiteren Teil, den
wir vernachlässigt haben. Von den Slawen spricht Kautsky, oder von den russischen
Revolutionären, nicht vom Proletariat oder von irgendeiner anderen Klasse.
Wovon die Rede ist. ist ganz etwas anderes als das, was Lenin da hineininterpretiert. Was
ist das für ein revolutionäres Denken, für ein revolutionäres Wirken, dessen
Schwerpunkt sich in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts in Frankreich befand, im Jahre
1848 in Deutschland? Damals erlebten die genannten Staaten entweder die Vollendung, oder -
wie Deutschland - den Auftakt ihrer bürgerlichen Revolution. Was Kautsky behauptet, oder
was jedenfalls Lenin ihn behaupten läßt, läuft darauf hin aus, daß die
bügerlich-demokratische Revolution, welche die fortschrittlichen Länder im Westen (der
Reihenfolge ihres gesellschaftlichen Fortschritts nach) im 19.Jahrhundert schon hinter
sich oder begonnen hatten, nun auch im politisch zurück gebliebenen Rußland auf der
Tagesordnung stehe. Darauf allein beschränkt sich die ganze Auffassung der
"Verschiebung des revolutionären Zentrums".
Lenin hätte den "Marxisten" Kautsky 7) fragen sollen, wie es denn eigentlich um
den Klassencharakter der russischen Revolution bestellt sei, den Rosa Luxemburg sofort in
den Vordergrund gerückt hat, als sie denselben Entwicklungsprozeß schilderte. 8) Lenin,
falls er Kautsky dahingehend verstanden hätte, daß dieser vom proletarischen Charakter
der russischen Revolution überzeugt sei, hätte Kautsky darauf aufmerksam machen können,
daß es sich sodann doch wohl weniger um eine "Verschiebung" des
bürgerlich-demokratischen Sturmzentrums, als um die Entstehung eines neuen handele. Aber
nichts davon!
Lenin hat die Schwäche Kautskys nicht durchschaut. Er übersieht ganz und gar die Leere
von dessen Darlegung - die nur eine Binsenweisheit im scheinbar originellen Gewande
enthält - und weiß nichts besseres als, entzückt von der Tatsache, daß von einem
Abendländer die "revolutionäre Quelle" Rußlands entdeckt wird, begeistert
auszurufen: "Wie gut schrieb Karl Kautsky doch vor 18 Jahren!" (S. 395).
Das bewußte Kautsky-Zitat, bemerkten wir schon, ist bei Lenin nicht wenig ausführlich.
Es füllt in seiner Schrift genau ein Drittel jenes ersten Kapitels aus. in dem dargelegt
werden soll, daß die russische Revolution das Vorbild aller übrigen herannahenden
Revolutionen der Weit sei. Von irgendeiner Beweisführung dieser These, die eben von den
linken Kritikern des Bolschewismus bestritten wurde, und die also bei der Diskussion
untermauert werden sollte, gibt es bei Lenin keine Spur.
Er behauptet bloß, versteht den eigentlichen Inhalt jener Kritik so wenig, daß er ganz
unsachlich mit einen Seitenhieb gegen eine Broschüre des Österreichischen
Sozialdemokraten Otto Bauer losschlägt, die mit dem Standpunkt der radikalen
europäischen Linken nichts zu tun hat, um sodann - wie ein Gaukler ein Kaninchen aus
einem Zylinderhut hervorzaubert - gleich den Kautsky heraufzubeschwören. Das ist alles!
Daß es recht wenig ist, geht daraus hervor, daß jenes Kautsky-Zitat alles andere als
Belege für Lenins Behauptung bringt. im Gegenteil; nicht von Rußland als Vorbild der
übrigen Länder wird dort gesprochen, sondern von einem europäischen Vorbild (aus dem
Jahre 1848 oder sogar noch früher!), dem - "weil sich das revolutionäre Zentrum
verschiebt" - endlich mal in Rußland nachgefolgt wird.
Die Grundfrage, um die es sich handelt - die Frage, ob die Zweifel an der
Allgemeingültigkeit der bolschewistischen Revolutionsschemata berechtigt seien oder
nicht; eine Frage, die über die Wichtigkeit aller übrigen zur Diskussion stehenden
Fragen entscheidet und die Lösung dieser Fragen nichts weniger als vorbedingt - wird von
Lenin einfach umgangen.
Mit Recht hat er sie - aber bloß im Titel - in seinem ersten Kapitel aufgeworfen. Wenn
Rußland 1917 tatsächlich das Vorbild anderer Länder gewesen wäre, dann hätte es
selbstverständlich einen Zweck, genau die verschiedenen Etappen des russischen
Revolutionsprozesses zu verfolgen, genau jene Methoden zu beachten, welche den russischen
Bolschewisten den Sieg brachten. Und so weiter, und so weiter! Mit Unrecht aber wird
gerade diese Grundfrage von Lenin nicht behandelt, geschweige denn gelöst.
Mit Unrecht, aber nicht mit Unlogik. Was sich hier auf den ersten Blick als polemische
Taschenspielerei auftut, ist in Wahrheit nichts anderes als Lenins Unfähigkeit, die
"Revolution schlechthin" von der Revolution eines bestimmten sozialen Typus zu
unterscheiden. Er befindet sich da ganz in der Fußspur Kautskys, der gleichfalls, wo er
über seine "Verschiebung des revolutionären Zentrums" faselt - nur von der
Revolution schlechthin spricht.
Es kann natürlich nicht geleugnet werden, daß Lenin - gelegentlich, wie wir schon sagten
- vom Unterschied der proletarischen von der bürgerlichen Revolution geredet hat. in
seiner Schrift "Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen
Revolution" z.B. zeigt er sich vom bürgerlichen Charakter der russischen Revolution
(im Gegensatz zu einem proletarischen Charakter) "unbedingt" überzeugt. Er
fügt hinzu, "daß diejenigen demokratischen Umwandlungen in der politischen Ordnung
und diejenigen sozialökonomischen Umwandlungen, die für Rußland unabwendbar geworden
sind ... zum ersten Male die Herrschaft der Bourgeoisie als Klasse möglich machen
werden". 9) An einer an deren Stelle korrigiert er sich dahingehend, daß "der
Sieg der bürgerlichen Revolution in Rußland unmöglich ist als Sieg der
Bourgeoisie" und daß dieser Umstand und andere Umstände "ihr einen besonderen
Charakter verleihen", der aber "den bürgerlichen Charakter der Revolution nicht
beseitigt". 10) Somit hat Lenin den eigentümlichen Charakter der russischen
Revolution äußerst scharf erblickt. Er weiß ganz genau, daß sie, die da heraufsteigt,
sich trotz ihrer Eigentümlichkeit von einer proletarischen unterscheidet. Aber formelles
Wissen und praktisches Kennen ist nicht dasselbe.
in Westeuropa fußt das Wissen von den Bedingungen des proletarischen Befreiungskampfes
auf der täglichen Kenntnis und Erfahrung eines klar sichtbaren gesellschaftlichen
Gegensatzes innerhalb einer gegebenen, vollentwickelten Produktionsweise, bei welcher die
Warenform das allgemeine Muster aller sozialen Verhältnisse, das heißt; aller
menschlichen Beziehungen, geworden ist. Bei Lenin nicht, und zwar deshalb nicht, weil der
kapitalistische Produktionsprozeß in Rußland noch nicht der vorherrschende geworden,
weil das russische Proletariat - so kämpferisch es aus politischen Gründen auch auftrat
- erst im Werden begriffen, sein Los noch nicht das allgemeine Los, weil der Gegensatz
zwischen Kapital und Lohnarbeit noch keineswegs das allgemeine, alle übrigen
Verhältnisse durchdringende Merkmal der russischen Gesellschaft geworden ist.
Wenn Lenin, trotz seines Wissens um jene Unterschiede, welche das gesellschaftliche
Handeln und Auftreten der Arbeiter und der Bürger kennzeichnen, nichtsdestoweniger das
Proletariat mit der revolutionären Demokratie verwechselt, 11) wenn er die Ereignisse von
1905 als eine "wirkliche Volksrevolution" bezeichnet, 12) wenn er sämtliche
Werktätige, einschließlich jener, die nicht zur Arbeiterklasse gehören, auf den
gemeinsamen Nenner des Volkes bringt, 13) wenn er in einer Rede zum 4. Jahrestag der
Oktoberumwälzung die russische Revolution eine proletarische heißt, 14) obwohl er an
einem früheren Zeltpunkt schon hatte anerkennen müssen, daß auf den Staatskapitalismus
losgesteuert wurde - dann deutet das auf eine Hilflosigkeit hin, die eben jene Schwäche,
die wir in seiner Schrift über "die Kinderkrankheit" festgestellt haben, in ein
grelles Licht setzt.
Lenin vertuscht, ohne es selbst zu ahnen, jene klare Trennung von proletarischen und
bürgerlichen Interessen, die sich im Westen begrifflich durchsetzt, nachdem sie sich als
praktische Erfahrung durchgesetzt hat, das heißt; nachdem der sich breit entfaltende
Kapitalismus allen vor- oder frühkapitalistischen Illusionen über die Einheit des Volkes
oder eine Volksrevolution den Garaus gemacht bat.
Lenin handelt natürlich, um mal mit Hegel zu reden, als Sohn seiner Zeit, dessen
Philosophie seine Zeit in Gedanken erfaßt. Aber nicht nur das. Zudem handelt er auch als
Sohn Rußlands, der gedanklich die kommende russische Revolution vorwegnimmt. Wenn Lukács
behauptet, "in der Leninschen Konzeption vom Charakter der russischen Revolution
(kehre) der alte Gedanke der Narodniki dialektisch verwandelt wieder", 15) dann hat
er gewissermaßen recht. Jedoch nicht in dem Sinne, daß - wie er schreibt - "der
unklare und abstrakte Begriff des 'Volkes' beseitigt werden (mußte) ..., um aus dem
konkreten Verständnis der Bedingungen einer proletarischen Revolution den revolutionär
differenzierten Begriff des Volkes, das revolutionäre Bündnis aller Unterdrückten
entstehen zu lassen." Jener "revolutionär differenzierte Begriff des 'Volkes'
von dem hier Lukács spricht, war nichts anderes als eine eng-russische Variante des
"unklaren", deren Notwendigkeit dadurch hervorgerufen wurde, daß aus dem
Begriff des "Volkes", wie ihn die Narodniki verstanden, die bürgerliche Klasse
auszuscheiden hatte aufgrund jener Eigentümlichkeit der russischen bürgerlichen
Revolution, die Lenin klar erkannt hatte.
Was übrigblieb, das revolutionäre Bündnis aller Unterdrückten, war genau eingestellt
auf die Forderungen der russischen Verhältnisse, war deren theoretischer Ausdruck, hatte
aber mit dem Marxismus als dem theoretischen Ausdruck des proletarischen Klassenkampfes
(vgl. Fußnote 3) nichts zu tun. Das "revolutionäre Bündnis aller
Unterdrückten", das später in Gestalt der "Smytschka", des
Klassenbündnisses zwischen Arbeitern und Bauern verabsolutiert wurde, ist eine Bedingung
der bürgerlichen, nicht aber der proletarischen Revolution. im Kapitalismus gibt es nicht
jene Mannigfaltigkeit von unterdrückten Klassen, denen man in vorkapitalistischen oder
frühkapitalistischen Verhältnissen begegnet. Die Bauern werden kapitalistische
Unternehmer; was man als die "Dorfarmut" bezeichnen könnte, wird von dar
technischen Agrarentwicklung ins Proletariat gedrängt; der Kleinbetrieb weicht dem Druck
neuer Formen der Distribution. Das gerade versucht die westeuropäische Linke Lenin
vergeblich beizubringen, als die Diskussion um seine Schrift über die sogenannte
"Kinderkrankheit" aufflammte.
Die Leninsche Konzeption war also alles weniger als aus "dem konkreten Verständnis
der Bedingungen einer proletarischen Revolution" entstanden. Aber Rühle hatte
natürlich Unrecht, als er der Haltung Lenins jeden Bezug zur Wirklichkeit absprach. Wenn
sie schon keinen Bezug zur kapitalistischen Wirklichkeit Westeuropas hatte, zu der
russischen umso mehr. Die Leninsche Konzeption vereinigte in sich die russische
Vergangenheit und die russische Zukunft. Nicht ohne Grund hat der nichtbolschewistische
Ökonom Boris Brutzkus, Lenin "den echten Nachfolger Stenka Razins" genannt. 16)
Mit Recht betrachteten sich die russischen Bolschewiki - wie auch Lukács bemerkt - als
Erben der Narodniki. Gerade als solche aber waren sie den Fragen der proletarischen
Revolution im Westen in keiner Weise gewachsen. Die Leninsche Schrift, die unseren
Gegenstand bildet, trägt davon nicht nur im ersten Kapitel, sondern überall Spuren.
III.
Die bolschewistischen Anschauungen über die russische Revolution bildeten sich zu einer
Zeit, da Rußland noch ein riesiges Agrarland war und die Morgenröte des Kapitalismus
erst heran brach. Der wesentliche Charakter bestimmter, zur kapitalistischen Gesellschaft
gehörender Erscheinungen war somit kaum sichtbar. Es fehlte die Erfahrung wiederholter
Wirkungen auf sozialökonomischem Gebiete, anhand derer sich das menschliche Bewußtsein
eine Einsicht in die Sozialgesetze der jungen Produktionsweise hätte bilden können. im
Westen war die Ökonomie als Wissenschaft nicht die Voraussetzung, sondern das Produkt der
bürgerlichen Verhältnisse. Die Kritik, die vom proletarischen Standpunkt an ihr geübt
wurde - indem ihre Entwicklungstendenzen mit Hilfe einer materialistischen Dialektik, die
als Methode wiederum erst innerhalb jener Verhältnisse entstehen konnte, aufgezeigt
wurden - war erst bei einer gewissen Reife ihrer inneren Gegensätze möglich. in Rußland
gab es keine bürgerlichen Verhältnisse. Damit fehlte zugleich die Voraussetzung für ein
richtiges Verständnis von deren Sozialgesetzlichkeit. 17)
Zwar wurde, als der westeuropäische Marxismus als geistige Waffe im notwendigen Kampfe
gegen die Vorstellungen des Narodnikentums Anwendung fand, mit ihm eine Philosophie der
gesellschaftlichen Entwicklungsgesetze nach Rußland geholt. Aber mit ihm geschah, was
manchmal in der Geschichte vorgeht, wenn eine nicht aus der örtlichen Wirklichkeit selbst
entwickelte Theorie an diese Wirklichkeit herangetragen wird. Er wurde, infolge einer
unabdingbaren "Versöhnung" mit jener Wirklichkeit, teils durch ihm fremde
Konstruktionen vergewaltigt, teils durch die Notwendigkeit, die Gedankenbestimmungen an
die oberflächlichen, bloß empirischen Daseinsformen der historischen Wirklichkeit
anzupassen und diese - infolge der Anpassung - zu Kategorien zu erheben, verabsolutiert.
Infolge dieser "Versöhnung" kam es bei den russischen "Marxisten"
nicht zu einer wirklichen Überwindung jener primitiven, vorkapitalistischen,
idealistischen, die herrschenden Verhältnisse abspiegelnden Anschauung, daß der
revolutionäre Wille die wichtigste Voraussetzung für die Umänderung der Gesellschaft
sei. Die unmittelbare Konsequenz dieser als Voluntarismus zu definierenden Tendenz ist die
Ansicht, daß ein Mißlingen der herbeigesehnten sozialen und politischen Änderungen
entweder einem Mangel an diesem Willen oder etwa einer von einem "bösen" Willen
hervorgerufenen Gegenwirkung zuzuschreiben wäre.
Hier hat man es mit einem charakteristischen Merkmal der bolschewistischen
Gesellschaftsauffassung zu tun. Der Kulak, ein gewisser Spekulant, ein Privatkapitalist;
Verräter, Konterrevolutionäre, Philister und Spießbürger, Reformisten oder Dummköpfe,
Versöhnler oder Liquidatoren, Feinde oder selbstzufriedene Bürokraten, sind, wie es
gerade den Bolschewiki in den Kram paßt, nach Belieben für bestimmte soziale
Erscheinungen verantwortlich zu machen; nie werden diese Erscheinungen als das Ergebnis
einer sozialgesetzlichen Entwicklung verstanden.
Zur Probe nehme man nur die Schrift über "die Kinderkrankheit" in die Hand.
Wenn Lenin dort auf die von der europäischen Linken kritisierten Gewerkschaften eingeht
und auf ihre Bürokratie zu sprechen kommt, erklärt er diese Bürokratie nicht aus der
gewerkschaftlichen Struktur, sondern er erklärt umgekehrt die gewerkschaftliche Praxis
aus dem (schlechten) Charakter der Bürokraten. Jene Auffassung, daß die Gewerkschaften
die Gewerkschaftler bilden, liegt ihm fern. Lenin faßt die reale Gestalt der
Gewerkschaften nicht als ein Ergebnis der Entwicklungstendenzen der kapitalistischen
Gesellschaft auf, sondern er glaubt allen Ernstes, sie sei vom "Willen" der
Gewerkschaftsführer gestaltet. Wenn da irgend etwas "nicht in Ordnung" ist, das
heißt, wenn der wirkliche Sachverhalt nicht mit dem Willen Lenins übereinstimmt, dann
haben die Gewerkschaftsführer schuld: sie wollen "das Falsche", weil sie
"demoralisiert" oder etwas noch schlimmeres sind (S.422).
Die europäische Linke gründete eine Kritik an den Gewerkschaften auf deren immanente
Eigengesetzlichkeit als Organisation. Diese Kritik ging darauf hinaus, daß die Linke für
- sich aufgrund der gewerkschaftlichen Erfahrungen schon darbietende - andere
Organisationsformen der Arbeiterschaft eintrat.
Lenin, der sich den (westeuropäischen) Gewerkschaften gegenüber durchaus nicht mit
Wohlwollen verhält, versteht, aus den Gründen, die wir erörtert haben, von dieser
Kritik kein Jota! Wo er über die Gewerkschaften im Westen, auf welche die Linke zur
Begründung ihrer Auffassungen hinweist, spricht, da sagt er: "..dort hat sich eine
viel stärkere Schicht einer beruflichen beschränkten, bornierten, selbstsüchtigen,
verknöcherten, eigennützigen, spießbürgerlichen, imperialistisch gesinnten und vom
Imperialismus bestochenen, vom Imperialismus demoralisierten 'Arbeiteraristokratie'
herausgebildet als bei uns. Das ist unbestreitbar. "(S.422)
Bei Lenin also steht der frei nach eigenem Gutdünken (oder nach dem Gutdünken des
'Imperialismus') handelnde Gewerkschaftsführer im Mittelpunkt seiner Betrachtungen. Ganz
folgerichtig gelangt er zu der Schlußfolgerung, daß der Kampf gegen diese schlechten
Führer "rücksichtslos" geführt werden solle bis zu ihrer "Vertreibung
aus den Gewerkschaften" (S.422). Macht man aber, wie es die von Lenin angegriffene
marxistische Linke tat, den realen Sachverhalt durchaus nicht vom Willen schlechter oder
tüchtiger Führer abhängig, so ist was er verlangt buchstäblich und figürlich ein
"unmögliches" Postulat.
Für Lenin handelt es sich darum, daß die Gewerkschaften in dem Moment "gewisse
reaktionäre Züge zu offenbaren (begannen)" "als die höchste Form der
Klassenvereinigung der Proletarier, die revolutionäre Partei des Proletariats (...) sich
herauszubilden anfing" (S.420). Ganz abgesehen davon, daß jene Partei, von der er
hier spricht, die Partei nach bolschewistischem Muster, sich außerhalb Rußlands
nirgendwo gebildet hatte, als jene Züge, die er da meint, hervortraten und somit schon
aus diesem Grunde seine Auseinandersetzung der westeuropäischen Wirklichkeit einfach
widerspricht, ist wiederum die ihr zugrundeliegende Methode charakteristisch.
Lenin erklärt die "reaktionären Züge", die er wahrzunehmen glaubt, nicht aus
dem Charakter der Gewerkschaften, sondern er erklärt umgekehrt den Charakter der
Gewerkschaften aus ihren "reaktionären Zügen"; ein Verfahren, bei dem letztere
eben völlig ungeklärt bleiben. Die Frage, ob es sich denn wirklich um "reaktionäre
Züge" handelt, oder ob die Gewerkschaften aufgrund ihrer Funktion innerhalb der
bürgerlichen Gesellschaft (d.h. Verkauf der Ware Arbeitskraft nach ihrem jeweiligen
Marktpreis 18)) als Institution die Fortbildung der kapitalistischen Produktionsweise
sichern und deshalb, obgleich auf der anderen Seite der Barrikade, den Arbeitern
gegenüberstehend, nichtsdestoweniger die herrschende Sozialordnung vervollkommnen, also
dem historischen Fortschritt dienen - diese Frage liegt außerhalb von Lenins Blickfeld.
Daß die Gewerkschaftsbürokratie das regelrechte Gegenteil von "reaktionär"
sein, und trotzdem als Feind der kämpfenden Arbeiter sich verhalten kann, das ist eine
Erfahrung, von der Lenin nichts weiß, weil er sie im Rahmen der russischen vor- oder
frühkapitalistischen Verhältnisse noch nicht gemacht hat, weil gerade unter
Voraussetzung der russischen Realität ein feindseliges Verhalten gegenüber den Arbeitern
nur mit der Bezeichnung "reaktionär" angedeutet werden kann, weil in Rußland
ja die Arbeiterklasse als Vollstreckerin der bürgerlichen Revolution auftritt.
Hieraus ergibt sich, daß die marxistische Linke die Gewerkschaften ganz anders
einschätzen mußte und tatsächlich auch anders einschätzte als Lenin; hieraus ergibt
sich auch, weshalb Lenin ihre Einschätzung nicht verstehen konnte und sie als einen
"Anti-Gewerkschaftsstandpunkt" auffaßte, ein Ausdruck, dessen sich die
hervorragendsten Theoretiker der damaligen Linken nicht bedienten und der ihre Auffassung
ebenso unrichtig wiedergibt wie die Leninsche Behauptung, die Linke fürchte die
reaktionären Züge der Gewerkschaften (S. 421). 19)
Lenins Kritik an der Gewerkschaftsbewegung ist charakterisiert durch ein naives.
instinktmäßiges revolutionäres Gefühl, aus dem man zwar einen tiefen Haß gegen den
Kapitalismus folgern kann, nicht aber ableiten kann, daß er den wirklichen Charakter der
bürgerlichen Einrichtungen verstehe. Anstatt deren Gesetze, werden von ihm bloß
Fallstricke und Korruptionsquellen wahrgenommen.
Lenin, der - wie soeben dargelegt - an die empirischen Daseinsformen, in diesem Falle der
Gewerkschaften, wie sie sich in Rußland darbieten, anknüpft und sie verabsolutiert,
steht weit entfernt von jenem Gesichtspunkt, unter dem die historische Beschränktheit der
Gewerkschaften in den Vordergrund gerückt wird, unter dem die Relativität ihrer Funktion
betont wird, unter dem ihr doppelter Charakter - natürliche Organisation der sich eben
bildenden Arbeiterklasse im Frühkapitalismus und Zwinger dieser Klasse im Hoch- oder
Spätkapitalismus - nachgewiesen wird.
Rühle hatte natürlich vollkommen recht, als er in Bezug auf die
Meinungsverschiedenheiten in der Gewerkschaftsfrage Lenin wegen Mangel an dialektischem
Denken kritisierte. Wo Rühle aber schreibt, daß "Lenin absolut nicht begreifen
wollte, um was es ging", 20) da hätte er besser bemerkt, daß Lenin es nicht
begreifen konnte. Zudem geht Otto Rühle unserer Meinung nach auf die falsche, das heißt
auf die Leninsche Fährte, indem er in fast denselben Worten, derer sich sein Gegner
bediente, die Gewerkschaftsbürokratie als "eine Korruptionsgilde, ein
Gangsterführertum", die "besonders während der deutschen Revolution auf Kosten
der Massen ihre moderne Piraterie trieb" bezeichnete.
Selbstverständlich urteilen wir über Gewerkschaftsführer wie damals Carl Legion und
Theodor Leipart, in unseren Tagen Tarnow, Richter oder der vor kurzem verstorbene Otto
Brenner, gleich ungünstig wie Rühle, Aber darum gebt es eben nicht. Es geht darum, daß
nicht nur völlig korrumpierte, sondern auch scheinbar "anständige",
gewissermaßen radikale, grundsatztreue oder "oppositionelle" Gewerkschaften
unter demselben Gestirn, das beißt unter demselben Entwicklungsgesetz antreten, und daß
auch letztere aus diesem Grunde eines gewissen Tages gegen die Arbeiter vorgehen müssen,
auch wenn ihre "ehrlichen" und "aufrichtigen" Führer das in ihrer
keuschen Unschuld nicht glauben wollen.
Wo Lenin auf seine Weise vom Gangstertum der Gewerkschaftsführer redet, - da ruft ihm
Rühle zu: "Na, siehst du?", anstatt gerade an dieser zwar verständlichen, aber
völlig unsachlichen "Kritik" die methodologische Schwäche Lenins aufzudecken.
IV.
Alles was wir bis jetzt in Bezug auf Lenins Stellung zur Gewerkschaftsfrage und zu den
Gewerkschaften selbst gesagt haben, trifft in fast gleicher Weise auf seine Stellung zur
Frage des Parlamentarismus zu. Nicht vom Standpunkt der westeuropäischen Arbeiterklasse
tritt er an sie heran, sondern von jener Position aus, die sich der russische
Bolschewismus zu Anfang unseres Jahrhunderts mittels einer Analyse der Bedingungen und
Voraussetzungen der kommenden russischen Revolution erobert hatte.
Der Unterschied kommt ihm gar nicht zu Bewußtsein und konnte von ihm auch nicht zu
Bewußtsein kommen. Ein anderer Ausgangspunkt war ihn ebenso fremd wie eine reale Kenntnis
jener Tatsache, die bei der Kontroverse mit der radikalen Linken im Hintergrund stand: des
Funktionswechsels des Parlamentarismus innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft.
Daß dies keine leere Behauptung ist, geht z.B. hervor aus einer Mitteilung von seiner
Witwe. in zweiten Band ihrer "Erinnerungen" erzählt sie, wie der damals (1908)
in Genf lebende Lenin "in halb verwundertem, halb verächtlichem Ton" die Worte
eines Schweizer Abgeordneten wiederholte, der gesagt hatte, die seit Jahrhunderten
bestehende Schweizer Republik könne "niemals eine Verletzung des Eigentumsrechts
zulassen". für die (halbe) Verwunderung Lenins gab es einen guten Grund, der auch
gleich von der Verfasserin erwähnt wird. "Kampf für die demokratische
Republik", so fügt sie hinzu, "war ein Punkt unseres damaligen Programms".
21)
Die Bedeutung ist klar: Lenin hatte offenbar bis zu diesem Zeitpunkt eine naive Auffassung
von der "demokratischen Republik". Es wäre wohl nicht in Widerspruch mit den
Tatsachen, wenn man behauptete, sie stimmte etwa mit den naiven Vorstellungen der
bürgerlichen französischen und deutschen Revolutionäre des Jahres 1848 überein, mit
jenen Vorstellungen also, die - mit Hinwels auf Lenin/Kautsky - vorherrschten in einer
Umwälzung, deren Zentrum sich "ostwärts verschoben" hatte.
Daß für Lenin, wie die "Neue Züricher Zeitung" mal behauptete, "auch in
der Schweiz die demokratischen Einrichtungen nur als Instrumente der sozialistischen
Revolution von Bedeutung" wären, 22) stimmt wohl, sollte aber anders verstanden
werden, als es: dieses Prachtstück der bürgerlichen Schweizerischen Journalistik gemeint
hat. Lenin konnte die demokratischen Einrichtungen nur aus der Perspektive der russischen
- d.h. einer bürgerlichen Revolution "von besonderem Typus" - verstehen und
beurteilen.
Daß Lenin von da an die bürgerliche Republik mit anderen Augen betrachtet haben soll,
wie die Krupskaja fortfährt, überzeugt uns wenig, am allerwenigsten wegen seiner
Äußerungen in jener Schrift, die wir hier zu analysieren versuchen.
In seiner Antwort auf die europäische Linke hatte Lenin sich zu beschäftigen mit der
Frage, ob der Parlamentarismus überholt sei oder nicht. Als das Problem unter anderem von
dem zur Linken gehörenden holländischen Marxisten Anton Pannekoek aufgeworfen wurde, da
geschah dies in einem sehr bestimmten Sinne, der von Lenin völlig übersehen wurde. Bei
Pannekoek handelt es sich um die Frage, ob der sogenannte "revolutionäre
Parlamentarismus", der als Kampfmethode von der radikalen Sozialdemokratie
befürwortet wurde, und den Pannekoek in einer bestimmten historischen Phase des
Kapitalismus für richtig hält, noch einen Zweck hat in jener Periode, die am Ende des
Ersten Weltkrieges angefangen hatte.
Dort wo Lenin darauf eingeht, wirft er - abermals - die Begriffe durcheinander, und es
zeigt sich, daß er die Probleme völlig mißversteht. Nicht vom
"revolutionären", sondern von dem bürgerlichen Parlamentarismus, nicht von
einer Kampfmethode, sondern von einer politischen Institution spricht Lenin bei seiner
Widerlegung der linken Auffassungen. Manchmal bekommt man dabei den Eindruck, daß er vom
bürgerlichen Parlamentarismus redet, daß Jedoch das Parlament gemeint ist.
Lenin stellt die merkwürdige These auf, daß dieser bürgerliche Parlamentarismus
historisch überholt sei, politisch aber nicht. "Historisch", schreibt Lenin (S.
426), "ist die Epoche des bürgerlichen Parlamentarismus ... beendet". Das
behauptet die Linke im Jahre 1920 bestimmt nicht. Sie sagt etwas anderes. Sie versucht
darzulegen, daß der "revolutionäre Parlamentarismus" als Taktik nicht mehr
paßt in einer Periode, in der zwischen der proletarischen und der bürgerlichen Klasse
ganz andere Gegensätze in den Vordergrund treten als in der Vergangenheit, und in der ein
ganz anderer Kampf als bis dahin auf der Tagesordnung steht.
Lenin richtet sich gegen diese Argumentation, ohne sie zu verstehen. Er spottet darüber,
daß die Linke "Jede Rückkehr zu den ... Kampfformen des Parlamentarismus ...
ablehnt" (hier zitiert Lenin die Linke). Er nennt das "eine leere Phrase"
und fragt anläßlich dieses Wörtchens "Rückkehr" ironisch, ob "es in
Deutschland gar schon eine Sowjetrepublik gibt?". Wenn er schon bemerkt hat, daß vom
"Parlamentarismus als Kampfform" die Rede ist, so verwechselt er trotzdem diesen
"Parlamentarismus als Kampfform" mit dem Parlamentarismus oder mit dem Parlament
"schlechthin", genau so wie er gleich zu Anfang seiner Schrift die proletarische
Revolution mit der Revolution schlechthin verwechselt hat, und zwar aus demselben Grunde:
Die Auffassungen der Linken fußen auf dem geänderten Charakter der Klassengegensätze
und auf den geänderten Verhältnissen in der Gesellschaft. Die aber zieht Lenin gar nicht
in Betracht. Er geht bloß davon aus, daß es ein Parlament gibt, und er schreibt diesem
Parlament wesentlich einen absoluten und unabänderlichen Charakter zu, ohne als
sogenannter Dialektiker auch nur mit der Wimper zu zucken. Er setzt weiter voraus, daß
noch immer Millionen Proletarier "für den Parlamentarismus schlechthin
eintreten" (S.427).
Daß das für Deutschland 1919/1920 gar nicht zutrifft - Gorter hat es in seinem Offenen
Brief betont - können wir hier bei Seite lassen. Für uns handelt es sich vor allem
darum, daß Lenins Ansichten nicht darauf fußen, was die Arbeiter infolge ihrer
Klassenlage im Klassenkampf zu tun gezwungen sind oder zu tun gezwungen sein werden. Er
geht davon aus, was sie an Vorstellungen in ihrem Kopf haben, also nicht von dem, was sie
tun müssen. sondern von ihrem Willen. Nicht die objektiven Gesetze der gesellschaftlichen
Entwicklung bilden Lenins Leitfaden, sondern die subjektiven Vorurteile der Individuen.
Vorurteile, Erwartungen, Hoffnungen oder Illusionen, sie bilden der Reihe nach für Lenin
und seinesgleichen keine Folge jener Tatsache, daß die Ideen nun einmal hinter der
sozialen Wirklichkeit zurückbleiben. Nichts findet sich bei ihm von der Auffassung, daß
die Vorstellungen, welche die Menschen im Kopf haben, durch ihre Praxis, durch ihr
soziales Handeln umgewälzt werden.
Im Gegenteil: es ist bei ihm gerade umgekehrt. Dasjenige, was er mit rein subjektiven
Maßstab als "eine richtige Praxis" begreift, erwartet er als Ergebnis des
Verschwindens der Vorur teile und Illusionen. Und wo er von "Praxis" redet, da
meint er in den meisten Fällen nicht die Praxis der Massen, sondern die der Partei.
Nach Lenin soll die (bolschewistische) Partei, sich eine Vertrauensposition erwerben, eine
derartige Position, daß sie stark genug sei, "um das bürgerliche Parlament ...
auseinanderzujagen" (S.428). Diese Auffassung ist typisch für den Bolschewismus, der
die proletarische Revolution als Staatsstreich versteht, nicht als Massenaktion, nicht als
gesellschaftlichen Prozeß. Er inszeniert Revolutionen, denkt immerfort in Begriffen einer
solchen Inszenierung, nicht in Begriffen des Klassenkampfes, deshalb, weil er die
Traditionen bürgerlicher Umwälzungen weiterfuhrt.
Für Lenin ist ein solches Ende des Parlaments mittels einer von der Partei
durchgeführten Art Staatsstreich gleichbedeutend mit den Ende des Parlamentarismus. Die
Linke dagegen spricht über das Ende des Parlamentarismus als Kampfmethode, sobald jene
Zeit hereinbricht, da die Massen selbst zu kämpfen anfangen. Die Linke betrachtet den
autonomen Massenkampf als dasjenige, was die Massen von ihren Illusionen befreien wird,
als das Merkmal der proletarischen Revolution im Unterschied zur bürgerlichen. Für die
Linke gibt es keinen größeren Gegensatz als den zwischen diesem Kampf der Massen und dem
sogenannten "Kampf" der sogenannten "Führer" im Parlament.
Für den autonomen Kampf der Proletariermassen bringt Lenin nicht das geringste
Verständnis auf. für ihn bandelt es sich lediglich darum, "im reaktionären
Parlament" - der Ausdruck ist genauso bezeichnend wie jener der "reaktionären
Gewerkschaftsbürokratie" - über eine "gute Parlamentsfraktion ..." zu
verfügen (S.434)..Für ihn dreht sich die ganze Frage nicht um die sich ändernde
Funktion des Parlaments in der sich ändernden Gesellschaft, sondern um die Gesinnung der
Parlamentarier. Lenin glaubt, die Frage wäre gelöst, wenn auch hier "die schlechten
Führer" durch "gute und zuverlässige" ersetzt wären. Er ist auch in
Bezug auf diese Frage ganz und gar ein Voluntarist, dem es darum gebt, was die
(parlamentarischen) Führer wollen, nicht was sie können.
Der Voluntarismus findet keine Stütze in der Marxschen materialistischen Dialektik. Die
Frage ist also berechtigt, wie er Lenin immer wieder unterlaufen kann. Die Antwort ist,
daß seine in marxistisches Gewand verkleidete Konzeption ein Produkt jener
"Versöhnung", jener "Vergewaltigung" ist, auf die wir schon
hingewiesen haben. Als Lenin, durch die Eigenart der russischen Verhältnisse dazu
genötigt, an die Probleme der bürgerlichen Revolution mit Hilfe der Theorie der
proletarischen Revolution heranging, da wurden zwar die Mysterien der ersteren aufgelöst,
da wurde ihm aber zugleich letztere zum Mysterium.
Anders gesagt: der besondere Charakter der herannahenden Revolution in Rußland hat Lenin
eine Rolle aufgezwungen, die rein äußerlich grundverschieden ist von jener, welche von
früheren bürgerlichen Schauspielern auf der historischen Bühne vorgeführt wurde. Diese
haben immer, eben wenn sie damit beschäftigt waren, sich und die Dinge umzuwälzen, noch
nicht Dagewesenes zu schaffen in Epochen revolutionärer Krisen, zu ihrem Dienste
ängstlich die Geister der Vergangenheit heraufbeschworen. ihnen entlehnten sie, zu ihrer
Legitimation, Namen, Schlachtparole und Kostüme, und mit erborgter Sprache (des Alten
Testaments, der Römischen Geschichte oder der Griechischen Städtedemokratie) schrieben
sie alsdann das neue Kapitel der Weltgeschichte.
Lenin dagegen - der Dagewesenes schuf - führte nicht die Sprache der Vergangenheit,
sondern bediente sich mutig jener der Zukunft, jedoch ohne sich ihren Geist aneignen zu
können und ohne die ihm angestammte Sprache in ihr zu vergessen. Er hat die Sprache der
Zukunft rückübersetzt - "angepaßt" um den von Lukács gewählten Ausdruck zu
benutzen - in jene, die ihm vertraut war. Das heißt soviel als daß bei allen seinen
"Übersetzungen" geschichtliche Täuschungen, an erster Stelle natürlich
Selbsttäuschungen, herauskommen.
Rühle, der in Bezug auf die Frage des Parlamentarismus Lenins Schwächen viel schärfer
hervorhebt als in Bezug auf die Gewerkschaftsfrage, schreibt mit Recht, daß für Lenin
Parlament eben Parlament war ... "sich immer gleich bei allen Völkern, in allen
Zonen, zu allen Zeiten" und daß er "immer das junge Parlament aus der Zeit des
bürgerlichen Aufschwungs dem alten Parlament aus der Zeit des bürgerlichen Verfalls
gegenüberstellt", das aber bloß in seiner Polemik. 23) Wir haben dagegen nichts
einzuwenden) möchten aber für unsere Zwecke noch etwas genauer präzisieren.
Nicht irgendein junges Parlament aus den bürgerlichen Flitterwochen wird immer von Lenin
aufgeführt, sondern entweder die russische Reichsduma oder jene russische Konstituante,
die Januar 1918 durch ein Dekret der bolschewistischen Exekutive aufgelöst wurde. Zwar
gibt Lenin zu, daß "selbstverständlich ... von einer Gleichsetzung der
Verhältnisse in Rußland und der Verhältnisse in Westeuropa keine Rede sein (kann)"
(S.429). Aber im selben Atemzug erklärt er sodann, daß bei der Lösung der
Parlamentarismusfrage doch ganz entschieden die russische Erfahrung in Betracht gezogen
werden müsse. Denn, so Lenin, "der Satz: 'Der Parlamentarismus ist politisch
erledigt !' ..." und ähnliche Aussprüche "verwandeln sich allzu leicht in
hohle Phrasen, wenn die konkrete Erfahrung nicht in Betracht gezogen wird" (S. 429).
Die Begründung ist wirklich köstlich. Als ob das kapitalistische Europa seine eigene
konkrete Wirklichkeit eines Parlamentes im bürgerlich-revolutionären Sturme nicht schon
längst hinter sich und daraus nicht seine Erfahrungen bezogen hätte, wird hier den
Abendländern das Studium eines russischen Beispiels empfohlen, das - gerade seiner
einzigartigen Umstände wegen - in die Probleme des proletarischen Klassenkampfes keinen
tieferen Einblick gewährt.
Aber Lenin sieht das nicht und kann das nicht sehen, infolge jener "Übersetzungs-
und Sprachschwierigkeiten", jener geschichtlichen Täuschungen, die wir eben erwähnt
haben. indem er die Schlachtparole einer künftigen Revolution für jene, die in Rußland
auf der Tagesordnung steht, anwendet, ist er nunmehr außerstande, die spezifischen
Probleme jener künftigen Revolution von denen der russischen Revolution zu unterscheiden.
Nachdem er zuerst eine proletarische Theorie für die russische Praxis übersetzt hat,
will er sodann ohne weiteres die russischen Erfahrungen übertragen auf die proletarische
Praxis.
Natürlich ist namentlich die Geschichte mit der russischen Konstituante äußerst
lehrreich. Die Forderung zu ihrer Einberufung im Programm der revolutionären russischen
Sozialdemokratie war eine ganz logische, da es sich ja in Rußland um die bürgerliche
Revolution handelte. Nicht weniger logisch war ihre Auflösung am 19.Januar 1918. Lenin
hatte völlig Recht, als er in seinen "Thesen über die Konstituante"
feststellte, daß "es ein Mißverhältnis zwischen ihrer Zusammensetzung und dem
Volkswillen geben mußte". 23) Die Ursache war aber nicht, daß "in die
Konstituante Parteien gewählt wurden, die sich schon bildeten zu einem Zeltpunkt, da die
Bourgeoisie noch herrschte", wie er schreibt, sondern das Fehlen einer wirklich
bürgerlichen Herrschaft infolge des "besonderen", auch von ihm nachdrücklich
anerkannten, Charakters der russischen Revolution.
Nicht deshalb weil Menschewiki und Kadetten (Konstitutionelle Demokraten) in ihr vertreten
waren, schwebte die Konstituante in der Luft, sondern weil es weder für sie, noch für
diese Parteien einen wirklichen sozialen Boden gab. Der Umstand, daß die bürgerliche
Revolution in Rußland gegen die Bourgeoisie und ohne sie vollzogen werden mußte, das
beißt: die gesellschaftliche Schwäche jener Klasse, machte einfach die Errichtung ihrer
traditionellen Institutionen zu einer Unmöglichkeit.
In der russischen bürgerlichen Revolution war ein Parlament also zum Scheitern
verurteilt. Nicht die Bolschewiki haben das Todesurteil gefällt, um ihrer
Monopolherrschaft den Weg zu bahnen; das Schicksal der Konstituante und der Weg, den die
bolschewistische Partei zurückgelegt hat, wurden beide von sehr eigentümlichen
Bedingungen vorgeschrieben, die erst anband der Praxis als Erfahrungstatsachen
festgestellt werden mußten, ehe sie sich dem politischen Bewußtsein der unmittelbar
Beteiligten als zwingend darstellten. Und auf das politische Bewußtsein kam es an, weil
es sich um eine rein politische Frage handelte.
Die Auflösung der Konstituante hatte nichts zu tun mit einer Beseitigung bürgerlicher
Herrschaftsformen infolge einer Auflösung der kapitalistischen Produktionsweise. Sie
stand nicht am Ende, sondern am Anfang einer kapitalistischen Entwicklung. Nicht von einer
Aufhebung der Lohnarbeit war die Rede. Für sie und für eine kapitalistische
Produktionsweise machte die russische Revolution gerade den Weg frei, wenn auch einen
anderen Weg, als er im Westen gegangen worden war. Das russische Proletariat war, trotz
seiner hochentwickelten Kampfformen, trotz seiner spontan gebildeten Räte (Sowjets),
nicht imstande, diese gesellschaftliche Entwicklung zu verhindern. Unter diesen Umständen
bedurfte es einer politischen Macht, die an die Stelle jener traditionellen treten konnte,
die sich zu entfalten nicht imstande war.
Auf die Beschleunigung dieses Prozesses zielte die Strategie der Bolschewiki ab, als sie
sich an den Konstituantenwahlen beteiligten und als Fraktion in diesem politischen Körper
arbeiteten, nachdem er gebildet war. Lenin hat das ausführlich auseinandergesetzt in
seiner Schrift über "die Kinderkrankheit" und in einer Betrachtung, auf die er
dort einige Male hinweist. 25) Es war eine vorzügliche Strategie, deshalb, weil sie den
Bedingungen der Revolution in konsequentester Weise angepaßt war. Man braucht sich aber
nur ihre Voraussetzungen und ihre politischen Ziele zu vergegenwärtigen, um
festzustellen, daß sie auf die Voraussetzungen des proletarischen Klassenkampfes in
keiner Weise zugeschnitten war.
Noch viel klarer tritt das hervor, dort wo Lenin in seiner Schrift die verschiedenen
Elemente dieser bolschewistischen Strategie bis hin zur geringsten Kleinigkeit entwickelt.
V.
Was wir bis jetzt anhand der Leninschen Schrift am Bolschewismus festgestellt haben - sein
Voluntarismus; sein Mangel an Verständnis für soziale Eigengesetzlichkeit; die durch
bestimmte Umstände hervorgerufene Verquickung der Parole einer künftigen mit den
Aufgaben einer (1789; 1848) schon dagewesenen Umwälzung; seine Verwechslung der
bürgerlichen mit der proletarischen Revolution; seine Unfähigkeit, verschiedene
wirtschaftliche Bedingungen und verschiedene historische Situationen zu unterscheiden -
das alles finden wir in nahezu überspitzter Weise wieder in jenen praktischen
Ratschlägen und Empfehlungen, die Lenin, dort wo er sich mit dem Verhalten der
kämpfenden Arbeiter dem Klassengegner gegenüber beschäftigt, nicht müde wird mit
seiner Kritik an der europäischen Linken zu verflechten.
Mit dem Verhalten der kämpfenden Arbeiterklasse, schreiben wir. Davon handelten ja die
Thesen und Erörterungen der Linken. Genauer betrachtet jedoch, rächt sich die
eigentümliche Position, worin sich die Bolschewiki als Exponenten ihrer bürgerlichen
Revolution von besonderem Charakter befinden, auch diesbezüglich sofort in der Hinsicht,
daß sie nicht einmal imstande sind, den eigentlichen Inhalt der von ihnen kritisierten
Auffassungen zu verstehen. Nicht von dem Verhalten der Arbeiter spricht Lenin, sondern vom
Verhalten der Partei. Für die Linke handelt es sich gerade um diesen Unterschied; für
Lenin ist die Identität beider Kategorien eine Selbstverständlichkeit.
Lenin substituiert, auf dem Wege immer weiterer Einschränkungen (S.443) - das
Proletariat, sein klassenbewußtester Teil, seine Vorhut und so weiter - die Klasse durch
die Kommunistische Partei. in einem am Vorabend der Oktoberrevolution geschriebenen
Artikel "Über Kompromisse", auf den wir noch zurückkommen werden, schreibt er:
"Unsere Partei erstrebt wie jede andere politische Partei die politische Herrschaft
für sich. Unser Ziel ist die Diktatur des revolutionären Proletariats. 26) infolge
solcher Gleichsetzungen rückt die von der Linken erhobene Frage, ob es sich denn um die
Diktatur der Partei oder um die Diktatur der Klasse bandele, außerhalb seines
Gesichtskreises. 27)
Er vernimmt sie, er versteht sie jedoch nicht. Deshalb macht er sie lächerlich (S. 412),
ohne die geringste Spur einer Argumentation.
Wenn man Lenin gegenüber von einem Gegensatz zwischen Führern und Massen spricht, denkt
er (S.413) an das Verhalten der reformistischen Führer während des imperialistischen
Krieges 1914-1918. Er "übersetzt" in einer Weise, als ob da vom
"tadelnswerten" Benehmen "schlechter" Führer die Rede wäre. Somit
geht es bei ihm gleich wieder um die Frage des "Wollens". Er versteht nicht,
daß es sich um den grundsätzlichen Unterschied handelt zwischen einem Kampfe, bei dem
die Massen geführt werden und einem solchen, in dem sie selbst ihre Entschlüsse fassen.
Der erstgenannte Typus charakterisiert die bürgerliche, letzterer die proletarische
Revolution; der erste Typus hat eine Strategie als Gegenstück, die beim zweiten Typus
unvorstellbar ist!
Bei Lenin ist - mit Recht - die Frage der Strategie mit jener der Führung eng verbunden.
Die Kombination einer "richtigen" Führung mit einer "richtigen"
Strategie ist für ihn, wie er schreibt (S.396), "eine der Hauptbedingungen für den
Sieg", faktisch, weil er keine anderen Voraussetzungen behandelt, die einzige! Jene
Führung hält er für richtig, die eine richtige politische Strategie und Taktik hat
(S.390). Ganz ähnlich der Kriegführung, wo die Durchführbarkeit oder die
Anwendungsmöglichkeit einer bestimmten militärischen Strategie von der Disziplin in den
Reihen einer regulären Armee bedingt wird, so ist bei Lenin die politische Strategie von
der Existenz einer "unbedingten Zentralisation und strengster Disziplin des
Proletariats" abhängig (S.396).
Die Begründung dieser seiner Ansicht findet sich dort, wo er (S.438) "die Bedeutung
der Parteiorganisation und der Parteiführer" darin erblickt, "daß man durch
langwierige, hartnäckige, mannigfaltige, allseitige Arbeit aller denkenden Vertreter der
gegebenen Klasse die notwendigen Kenntnisse, die notwendigen Erfahrungen, das - neben
Wissen und Erfahrung - notwendige politische Fingerspitzengefühl erwirbt, um komplizierte
politische Fragen schnell und richtig zu lösen." Es handelt sich hier um die Ansicht
derjenigen, für welche der Gang der historischen Ereignisse bestimmt wird und nur
bestimmt werden kann von einer Führerschicht, die fortwährend die Massen manipuliert,
obgleich sie nie müde wird, "im Namen des Volkes" zu reden. Mit einen Wort: man
bat es mit der Ansicht der bürgerlichen Gesellschaft zu tun.
Diese zwingende Schlußfolgerung ergibt sich auch daraus, daß Lenin vom politischen
Fingerspitzengefühl redet anstatt von sozialem Klasseninstinkt. Er hat diesbezüglich
sein ganzes Leben hindurch jenes Mißverständnis gehegt, das schon zu Anfang seines
publizistischen Wirkens in seiner Schrift "Was tun?" hervortritt, das
Mißverständnis nämlich, daß es deshalb einer Parteiführung bedürfe, weil die
Arbeiter niemals in hinreichendem Maße ein politisches Bewußtsein entwickeln könnten,
Lenin, der folglich sich keine proletarische Revolution ohne Eingriff der politisch
"Wissenden" vorstellen kann, hat keine Ahnung davon, daß ein politisches
Bewußtsein ein Attribut einer wohlhabenden Klasse im allgemeinen, der bürgerlichen
Klasse insbesondere ist, und daß die Arbeiterschaft desto mehr sich in nutzlosen,
irrationellen Kämpfen verschwendet, je mehr politisches Verständnis in ihr vorbanden
ist. Er hätte - wenn es ihm möglich gewesen wäre - sich in dieser Hinsicht von Marx
belehren lassen können. 28) Was ihn jedoch daran hinderte, war eben jene
"Brille", die von Gorter als eine "russische Brille" bezeichnet wurde,
von uns bezeichnet wird als die "Brille", die drüben getragen werden mußte von
einer Gruppierung, die beim Mangel einer selbstsicheren bürgerlichen Klasse mit einem
entwickelten politischen Bewußtsein diese Lücke auszufüllen und somit das fehlende
politische Bewußtsein zu ersetzen hatte.
Ein Vergleich der politischen Strategie dieser Gruppierung mit einer militärischen
Strategie ist unserer Meinung nach durchaus berechtigt. Für Lenin war ja, wie er 1905
bereits geschrieben hatte, "die Revolution ... ein Krieg" 29) und diese
Auffassung kehrt in seiner Schrift über "die Kinderkrankheit" auf fast jeder
Seite wieder. "Nehmen wir", sagte er 1915, "die moderne Armee. Sie ist eine
mustergültige Organisation. Und diese Organisation ist nur deshalb gut, weil sie
elastisch ist und zugleich Millionen von Menschen einen einheitlichen Willen verleihen
kann". 30)
Da hat man abermals, einschließlich des unentbehrlichen "einheitlichen
Willens", der nur von oben, vom Olympus der politischen Götter herabsteigt, genau
den Standpunkt von 1920.
Bei einer solchen Analogie kommt man aber nicht daran vorbei, daß das Wesentliche jener
mustergültigen Heeresorganisation: die Disziplin, unzertrennlich verbunden ist mit einer
historisch und gesellschaftlich bedingten und somit beschränkten Form der Kriegskunst,
und daß eine andere als die bürgerliche Gesellschaft und somit auch der Kampf um sie,
eine ganz andere Form der Gewaltanwendung schaffen, die gar nicht mehr als eine von
"wissenden" Spezialisten des Generalstabs betriebene Armeeführung zu betrachten
wäre und nicht mehr von einer traditionellen militärischen Kriegsmaschinerie praktiziert
wird. Die Auflösung der militärischen Disziplin erscheint unter diesem Gesichtspunkt als
die Bedingung des revolutionären Sieges zugleich aber auch als die Folge der Revolution.
Das Ergebnis der Analogie widerspricht also energisch der Leninschen Auffassung, daß
gerade die Disziplin eine, sogar bedingungslose, Voraussetzung der Revolution sei.
Friedrich Engels hat über die gänzliche Auflösung der militärischen Disziplin als
Bedingung wie Resultat jeder bisher siegreichen Umwälzung gelegentlich mal bemerkenswerte
Sätze niedergeschrieben. 31) Wenn wir hier darauf hinweisen, so nicht, um damit den -
blödsinnigen - Versuch zu unternehmen, mit Hilfe von Marx und Engels die
"Unrichtigkeit" der Leninschen Stellungnahme aufzudecken. Es handelt sich für
uns nicht um Lenins "Unrecht" - das weder mit einem Engels- noch mit einem
Marxzitat zu beweisen wäre,- sondern um die bloße Tatsache, daß er sich im Gegensatz zu
Marx und Engels befindet, und um die Frage weshalb; um die Frage, wie man das erklären
könne.
Was wir darzulegen versuchen ist nichts anderes, als daß die politische Strategie des
Leninschen politischen Generalstabs eine Ähnlichkeit mit der militärischen Strategie
eines militärischen Generalstabs einer regulären Armee der bürgerlichen
Klassengesellschaft aufweist, und zwar aus dem Grunde, daß er sich keinesfalls auf den
spezifischen Klassencharakter der proletarischen Kämpfe stützt. Wenn er zum Beispiel
(S.406) über die Transformation der Massenstreiks, zuerst in politische, sodann in
revolutionäre Streiks spricht, so zeigt sich ein ganz anderer Gedankengang als man bei
Rosa Luxemburg an jener Stelle findet, wo sie einen preußischen Minister zustimmte, daß
"hinter jedem Streik die Hydra der Revolution lauere". Rosa Luxemburg betrachtet
den Streik als solchen als das Muster jedes Konfliktes der proletarischen mit der
bürgerlichen Klasse. Lenin bei weitem nicht. Für ihn soll, damit es eine wirkliche
Kollision gebe, das politische Moment, das politische Bewußtsein, von außen
herangetragen werden. Für ihn ist die Revolution (immer noch die Revolution schlechthin)
ein politischer Akt, der nicht nur dem Willen, sondern auch der Fälligkeit ihrer
notwendigen politischen Führer die Krone aufsetzt.
Diese Auffassung der Revolution und jene von der Unentbehrlichkeit einer Strategie sind
unlöslich miteinander verbunden. Sie bedingen einander. So wie sich aus der bürgerlichen
Revolutionstheorie Lenins seine Befürwortung einer Strategie folgern läßt, so kann man
aufgrund seiner Befürwortung einer Strategie auf den bürgerlichen Charakter seiner
Konzeption schließen.
VI.
Nachdem wir bis jetzt die Leninsche Strategie dahingehend kritisiert haben, daß sie
ausschließlich als die politische Praxis einer Führerschicht, niemals als die soziale
Praxis selbsthandelnder Massen verstanden werden kann, wollen wir nunmehr zur näheren
Betrachtung ihres Inhalts schreiten.
Was beim Lesen seiner Schrift über "die Kinderkrankheit" sofort die
Aufmerksamkeit auf sich zieht, ist der Umstand, daß man unwillkürlich fast fortwährend
erinnert wird an jene frühkapitalistische Phase, in welcher - wie es Marx im
Kommunistischen Manifest schrieb - das junge, erst im Werden begriffene Proletariat
gemeinsam mit seinem künftigen Klassengegner gegen den Feudaladel oder gegen die absolute
Monarchie kämpfte.
Damals herrschte in der eben sich entwickelnden bürgerlichen Gesellschaft eine durchaus
andere Situation als an der Schwelle der 20-er Jahre des XX. Jahrhunderts. Das
Kleinbürgertum und die Parzellenbauernschaft hatten eine weit größere wirtschaftliche
Bedeutung und spielten demzufolge auch politisch eine viel wichtigere Rolle. Dazu gab es
inmitten der aufsteigenden Bourgeoisie zwischen ihren verschiedenen Fraktionen noch tiefe
Gegensätze, die sich, zum Beispiel im Kampf um Freihandel oder Schutzzölle, aufs
heftigste äußerten. Die politische Lage jener Gesellschaft war selbstverständlich mehr
oder weniger die Abspiegelung ihrer materiellen Verhältnisse.
In Deutschland, wo viel länger als in Frankreich das Königtum von Gottes Gnaden und
preußischer Signatur den Gipfel des feudalen Sumpfes bildete, stand das kapitalistische
Bürgertum Schulter an Schulter mit den Mittelschichten und den Arbeitern im Kampfe um die
Demokratie, welche die ungehinderte Entfaltung der modernen Produktionsweise sichern
sollte. im französischen Nachbarland, wo zwar die Revolutionen von 1830 und 1848 das von
der großen Revolution und dem Jakobinischen Terror angefangene Werk vollendet hatten, war
nichtsdestoweniger die Frucht der bürgerlichen Umwälzung immer noch bedroht. Und sogar
im kapitalistischen Musterland Großbritannien gab es immer noch einen schweren Kampf um
die vollkommene Ausbildung jener Einrichtungen, welche die richtige Funktion der
kapitalistischen Produktion politisch garantieren.
Innerhalb der geschilderten Verhältnisse boten sich politische Bündnisse, Abkommen und
Kompromisse, die geschickt ausgenutzt werden sollten, gleichsam von selbst an. Zwar trat
die britische Arbeiterklasse, im Kampfe um die "Charter"; zum ersten Male in der
Geschichte für ihre eigenen Interessen an, aber nichtsdestoweniger unterstützte sie
leidenschaftlich die Versuche des radikalen bürgerlichen Flügels zur Durchführung einer
parlamentarischen Reform. in dem kontinentalen Westeuropa, wo der politische ebenso wie
der wirtschaftliche Fortschritt hinter dem Englands zurückgeblieben war, lagen
Verbindungen zwischen den verschiedenen Gesellschaftsschichten und den verschiedenen
politischen Parteien, die innerhalb der bürgerlichen Ordnung deren Exponenten bildeten,
noch weit mehr auf der Hand als anderswo.
Diese Situation war einmalig. im Laufe eines halben Jahrhunderts war sie in den
wichtigsten Industriestaaten überall verschwunden. in England hörte sie nach der
Erlassung des parlamentarischen Reformgesetzes, in Frankreich nach der endgültigen
Niederlage des Boulangismus 32), nach und nach zu bestehen auf. in Deutschland wurde sie
nach der Bildung des Wilhelminischen Kaiserreichs faktisch bedeutungslos. Der wesentliche,
für den Kapitalismus charakteristische und ihn als Gesellschaftsordnung voraussetzende
Klassengegensatz drückte fortan allen politischen und sozialen Verhältnissen seinen
Stempel auf. Interessen, wofür Lohnarbeiter und Kapitalisten gemeinsam hätten kämpfen
können, gab es keine mehr. Nicht länger konnten sich Proletarier und radikale Bourgeois
zusammenschließen gegen eine Gefahr von rechts. im Gegenteil: gegen die für ihre
Klasseninteressen kämpfenden Arbeiter schloß sich der ganze übrige Rest der
Gesellschaft fest zusammen.
In Rußland aber kehrte zu Anfang unseres Jahrhunderts genau jene gesellschaftliche und
politische Situation wieder, die es im vormärzlichen Deutschland oder im Frankreich am
Vorabend der Revolutionen von 1830 und 1848 gegeben hatte. Bis Februar 1917 war Rußland
eine absolute Monarchie. Adel und Klerus waren die Herrschenden. Die erst in den
Kinderschuhen sich bewegende Arbeiterklasse, die ungeheure Masse der Bauernschaft und
gewisse Intellektuellenkreise hatten ein gemeinsames Interesse an Sturz des Zarismus, an
der Durchführung jener Revolution, die Westeuropa schon seit langem modernisiert hatte.
Gerade von dieser verspäteten Situation aus beurteilte Lenin die westeuropäische Lage.
Auf diese Tatsache kann man nicht nur mittelbar aufgrund der Leninschen Argumentation
schließen, sie wird von ihm selbst auch wiederholt nachdrücklich betont. "Kein
anderes Land", schreibt er (S. 396) in Bezug auf Rußland, "hatte in diesen
fünfzehn Jahren (1903-1917) auch nur annähernd soviel durchgemacht an revolutionärer
Erfahrung". "Alles", heißt es (S.401/402) "was wir jetzt über die
Scheidemänner und Noske, über Kautsky und Hilferding, über ... die Führer der
Unabhängigen Arbeiterpartei in England lesen, alles das ... haben wir schon bei den
Menschewiki gesehen." (S.402) "Die Erfahrung hat bewiesen", behauptet er
(S. 402) ohne jede Zurückhaltung, "daß in einigen sehr wesentlichen Fragen der
proletarischen Revolution alle Länder unvermeidlich dasselbe werden durchmachen müssen,
was Rußland durchgemacht hat."
Von welcher Erfahrung die Rede sein könnte, wird nicht von ihm erörtert, da es sich für
ihn offensichtlich um ein Axiom handelt, für welches (bei der gegebenen Tatsache der
russischen Revolution) etwaige Belege überflüssig sind. Stattdessen bezeichnet er
unverfroren (S. 453) die britische Labourpartei (die auf die Modernisierung des
Kapitalismus lossteuert) als die "englischen Kerenskis" - nach jenem, von der
Februarrevolution 1917 zum völligen Fiasko emporgehobenen Politiker also, der Exponent
einer kläglich versagenden, keineswegs den Forderungen der kapitalistischen
Produktionsweise gewachsenen Bourgeoisie war .
Lenin überträgt ganz einfach und ohne Bedenken die russischen auf die britischen
Zustände, so wie er (S.441/442) den Standpunkt der deutschen Linken auch aufgrund
russischer Ereignisse verwirft, ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, dessen
angebliche Unrichtigkeit anhand der vorhandenen deutschen Verhältnisse darzulegen.
"Die russischen revolutionären Sozialdemokraten haben vor dem Sturz des Zarismus
wiederholt die Dienste der bürgerlichen Liberalen in Anspruch genommen, d.h. sie haben
eine Menge praktischer Kompromisse mit ihnen geschlossen." So Lenin (S.440/441). Er
glaubt damit den Widerwillen der Linken gegen Jene Art von Kompromissen, die in seiner
Schrift immer wieder in den kräftigsten Farben als die einzig vernünftige Strategie
geschildert werden, als durchaus sinnlos entlarvt zu haben. Was er tatsächlich entlarvt -
indem er von dem redet, was sich "vor dem Sturz des Zarismus" ereignet hat - ist
der gesellschaftliche Rahmen seiner politischen Stickerei. Es ist ein Rahmen, den es
allerdings auch in Westeuropa gab, jedoch ebenfalls nur vor dem Sturz der absoluten
Monarchie.
Die Strategie der "vernünftigen" und "zulässigen" Kompromisse bildet
einen der Hauptgegenstände der Leninschen Schrift. Dabei unterläßt es ihr Verfasser
nicht, nachzuweisen, daß Marx und Engels dieselbe Strategie befürwortet hätten. Jedoch
ohne
hinzuzufügen; in Verhältnissen, die den russischen glichen . indem er seinen
"Nachweis" ohne jede Berücksichtigung der historischen Umstände führt, hat
Lenin es damit verhältnismäßig leicht.
Es ist unbestreitbar, daß die Autoren des "Kommunistischen Manifest" um die
Mitte des vorigen Jahrhunderts nicht nur jene Bündnisse und Kompromisse verteidigt haben,
für die auch Lenin leidenschaftlich eintritt, sondern, daß sie darüber hinaus auch im
Geiste einer Politik der - von ihnen gleichfalls als eine politische, untrennbar mit den
Massen verbundene Vorhut betrachteten- kommunistischen Partei gesprochen haben. 33) In
dieser Hinsicht bedarf unsere Darlegung am Anfang dieses Abschnitts, wo von Bündnissen
der proletarischen Klasse mit ihrem Gegner die Rede war, einer, übrigens bloß formalen,
Korrektur. Anscheinend ist somit Lenins Beziehung auf Marx und Engels ganz berechtigt.
Wahrheitsgemäß aber verhält es sich anders damit.
Der Marxismus von 1648 war - selbstverständlich - Kind seiner Zeit, Ausdruck der
damaligen sozialen und politischen Verhältnisse und der damaligen, der proletarischen
Lage entsprechenden Gegensätze, ging aber zugleich, indem er die künftige Entwicklung
sowohl der kapitalistischen Produktionsweise, als der mit ihr gegebenen Gegensätze ins
Auge faßte, dialektisch darüber hinaus. Lenin war, von diesem Gesichtspunkt aus,
unfähig, diese Gleichzeitigkeit im dialektischen Sinne zu erblicken. Seine Philosophie
war, in völliger Übereinstimmung mit den Forderungen der herannahenden russischen
Revolution, nicht der dialektische, sondern der bürgerliche, der mechanische
Materialismus, derselbe, der etwa ein Jahrhundert früher die erprobte Waffe der gegen
Adel und Kirche Kämpfenden gewesen war. 34)
Die gesellschaftlichen Verhältnisse, die proletarische Lage und der Charakter der
sozialen Gegensätze bildeten 1848 überhaupt keine Voraussetzung, weder für ein
selbständiges Handeln, noch für autonome Kämpfe der Arbeiterschaft. Die Tatsache wurde
von dem zeitlich bedingten gesellschaftlichen Bedürfnis nach einer politischen Führung,
welche für die proletarische Klasse auftritt und sich in ihrem Namen an die
Öffentlichkeit wendet, zum Ausdruck gebracht. Lenin, der in Rußland derartig primitive
Verhältnisse und noch keine entwickelten kapitalistischen Gegensätze vorfand, konnte nur
da anknüpfen.
Lenin holte, ganz undialektisch, vom sogenannten Frühmarxismus eine bestimmte Seite
heraus, die ihm gerade paßte. Deshalb kommt dem Verfasser dieser Zellen die Ansicht von
Arthur Rosenberg, "der revolutionäre Marxismus von 1848 fände seine Fortsetzung im
Rußland des Zaren" und "Lenin habe den echten revolutionären Urmarxismus
wieder zum Leben erweckt", unrichtig vor. 35)
Mit den Auffassungen von Marx und Engels hatte das nichts zu tun. Es kehrten dabei
vielmehr vormarxistische - idealistische - Auffassungen wieder, von welchen unter andern
die Betonung des Willens - nicht einer Klasse, sondern des politischen Führers, eines
Individuums also - im Gegensatz zur Berücksichtigung der sozialen Eigengesetzlichkeit ein
Symptom bildet.
Lenin schreibt (S.408): "Ein Politiker, der dem revolutionären Proletariat nützlich
sein möchte, muß es verstehen, die konkreten Fälle gerade solcher Kompromisse
herauszugreifen, die unzulässig sind, in denen Opportunismus und Verrat ihren Ausdruck
finden ..." Er sinkt damit zu einem bürgerlichen Politiker herab, der im Interesse
einer noch völlig abhängigen Arbeiterklasse tätig sein möchte, aber, trotz seines
Willens, nur Politik treiben kann und somit den sozialen Inhalt und damit auch die diesem
gebührende Form des sich entwickelnden proletarischen Klassenkampfes mißverstehen muß.
Der Verrat, von dem er spricht, kann nur verstanden werden als Verrat am
"Sozialismus", der somit als eine politische Konzeption aufgefaßt wird, nicht
als eine wirkliche Bewegung, welche die kapitalistischen Verhältnisse aufhebt. Das konnte
auch nicht anders sein, da ja diese kapitalistischen Verhältnisse in ausgeprägter Form
in Rußland noch nicht existierten und es folglich dort eine wirkliche Bewegung, welche
sie auflösen könnte, gar nicht gab. So eine Bewegung kann nur als das Produkt
kapitalistischer Verhältnisse entstehen, genau so wie die wirkliche Bewegung, welche die
vorkapitalistischen Verhältnisse aufhebt, das Produkt vorkapitalistischer Verhältnisse
ist. Wenn letztere, wesentlich bürgerliche. in der Geschichte manchmal verschwörerische
Bewegung mit sogenannten sozialistischen idealen gerüstet wird, bekommt sie unvermeidlich
jene schon dem Blanquismus anhaftenden Züge, die auch für den Bolschewismus
charakteristisch sind.
Diese blanquistischen Züge fehlen dem Frühmarxismus von 1848 ganz und gar, weil er nicht
auf der vormärzlichen deutschen, sondern zum Teil auf der Wirklichkeit in Frankreich,
mehr noch auf der in England fußt. Lenin konnte da zwar anknüpfen, aber seine
bolschewistische Partei stimmt doch keineswegs mit einer solchen Partei, wie sie im
Kommunistischen Manifest definiert wird, überein. Vielmehr ähnelt sie, wie auch der
Blanquismus, dem Jakobinertum.
Lenin hatte davon zu Anfang seiner Tätigkeit eine dunkle Ahnung 36); in seiner Schrift
über "die Kinderkrankheit" ist er sich dessen überhaupt nicht mehr bewußt.
Mit Hilfe einer von Engels am Blanquismus vorgenommenen Kritik geht er (S.436) gegen die
Linke vor, bloß deshalb, weil Engels dort von "Zwischenstationen" und
"Kompromissen" spricht und es "eine kindliche Naivität" nennt,
"die Ungeduld als einen theoretisch überzeugenden Grund anzuführen". 37) Lenin
glaubt mit Unrecht, er vertrete dieselbe Auffassung wie Engels. Er täuscht sich offenbar
derart, daß er meint, eben die "Ungeduld", von der Engels gesprochen bat, bei
der Linken beobachten zu können. Er ist weit davon entfernt die Engelssche Kritik an
Leuten, die "sich einbilden, sobald sie nur den guten Willen haben ... sei die Sache
abgemacht und wenn ... sie nur ans Ruder kommen, so sei über morgen 'der Kommunismus
eingeführt'" gerade als Kritik an der bolschewistischen Konzeption zu verstehen.
Es würde zu weit führen, hier aus der Engelsschen Kritik weitere Stellen anzuführen,
die nicht nur den Blanquisten, sondern auch den Bolschewisten einen Stoß versetzen. 38)
Worum es hier geht ist die Tatsache, daß sich die Linke nicht darin von Lenin
unterscheidet, daß sie vor Ungeduld Kompromisse ablehnt, sondern darin, daß sie jenen
historischen Rahmen, innerhalb dessen eine Strategie der politischen Führer mitsamt
Kompromissen auf der Tagesordnung steht, in Westeuropa schon längst hinter sich hat.
Lenin kennt eben keinen anderen historischen Rahmen. Er vergleicht aus diesem Grunde
Dinge, die unvergleichbar sind, so zum Beispiel (S.437) die Kompromisse, welche am Ende
eines Streiks kämpfenden Arbeitern abgenötigt werden mit Parteibündnissen wie einem
solchen, das die britischen Kommunisten dem Labourführer Arthur Henderson vorschlagen
sollten in Form einer gewissen parlamentarischen Unterstützung (S.463).
Lenin versteht nicht, daß die strategischen Konstruktionen, die er in seiner
historisch-paradiesischen Unschuld herstellt, auf die Kampfhandlungen der Arbeiterklasse
und deren jeweiligen Ausgang nicht mehr zugeschnitten sind, sobald die Arbeiter die
Früchte des Gartens Eden geprüft, wir meinen: sobald sie selbst den Inhalt ihrer Kämpfe
und sodann auch deren Form, das heißt ihre Kampfmethoden zu bestimmen angefangen haben;
sobald nicht länger die bürgerliche, sondern fortan die proletarische Revolution die
gesellschaftliche Perspektive bildet.
Lenin sieht diese Perspektive nicht. Das hängt damit zusammen, daß nach seinen
Vorstellungen die Revolution (schlechthin!) ein politischer Akt ist, welcher den
politischen Verstand erfordert. Er hebt nachdrücklich als eine ihrer Voraussetzungen
hervor, "daß die Mehrheit der Arbeiter (...) die Notwendigkeit des Umsturzes völlig
begreift und bereit ist, seinetwegen in den Tod zu gehen ..."(S.453/4). Er versteht
nicht, daß die Arbeiter in ihrem täglichen Kampf nicht auf die Revolution abzielen,
sondern auf die Verbesserung ihrer Klassenlage, und daß es zu den Eigentümlichkeiten der
bürgerlichen Produktionsverhältnisse gehört, daß gerade jener Kampf zur Umwälzung
dieser Verhältnisse führt.
Nach Lenin ist die Revolution nicht die Folge des täglichen Arbeiterkampfes, nicht ein
gesellschaftlicher Prozeß, in dessen Verlauf erst das Bewußtsein sich ändert, sondern
ein Ereignis, das eine bestimmte politische Reife des Bewußtseins im Voraus verlangt.
Lenin versteht nicht, daß die proletarische Revolution aus den Kämpfen hervorgehen muß,
zu denen die Arbeiter auf Grund ihrer Stellung im Produktionsprozeß immer wieder
gezwungen werden, welche Vorstellungen sie auch im Kopfe haben. Daraus ergibt sich, daß
für Lenin die Arbeiter nicht die Subjekte der Revolution sind, die durch ihre
Selbsttätigkeit die materielle Grundlage ihrer Existenz umwälzen, sondern - weil ja ihre
"politische Reife" von der Partei als ihrer Erzieherin an sie herangetragen
werden muß - ihre Objekte.
Lenin, der die Revolution für notwendig hält, betrachtet sie jedoch nicht als das
Ergebnis einer gesellschaftlichen Tendenz, die aus der täglichen spezifischen Praxis der
Arbeiter hervorgeht. Wenn er von der Notwendigkeit der Revolution - spricht, so in einem
moralischen, in einem idealistischen Sinne, analog dem Kantschen kategorischen imperativ.
Das imperative (politische) Gebot der Revolution muß, soll sie überhaupt möglich sein,
von der Arbeiterschaft verstanden werden, aufgestellt aber wird es von der Partei, die die
Führerin der Arbeiterschaft sein soll und zur erfolgreichen Führung eine Massenbasis
braucht. Zur Sicherung dieser Massenbasis dient die gesamte Leninsche, der proletarischen
Revolution völlig fremde Strategie. Das ist der Zweck aller von Lenin empfohlenen
Kompromisse. Das geht eindeutig hervor aus allen seinen Erläuterungen.
Außerordentlich interessant ist es, die Erläuterungen in der "Kinderkrankheit"
mit jenen Betrachtungen zu vergleichen, die Lenin am Vorabend des Oktober der Taktik der
Kompromisse gewidmet hat. 39) An keiner Stelle hat er sich so klar und so überzeugend
geäußert; nirgendwo geht die Richtigkeit seiner Politik für die russischen
Verhältnisse zu einem sehr bestimmten Zeitpunkt deutlicher hervor und nirgendwo zeigt
sich auffälliger ihre eng-russische Beschränktheit. Er ist der meisterhafte Stratege
jener, in Rußland verspäteten - deshalb in umgestalteter Form sich vollziehenden -
Revolution, die sich im industrialisierten Teil Westeuropas längst vollzogen hatte. Wenn
er andere, den seinigen entgegengesetzte Auffassungen, die sich auf andere
gesellschaftliche Kämpfe als die in Rußland beziehen, als "Kinderkrankheit"
bezeichnet, so deshalb, weil er sie mit Unrecht wieder mit russischen Erscheinungen der
historischen Vergangenheit verwechselt, mit denen sie nichts gemein haben. Es rächt sich
hier seine Verwechslung der verschiedenen Arten der sozialen Revolutionen überhaupt.
"Was für ein alter, längst bekannter Plunder", fährt er in Bezug auf den
Standpunkt der Linken los (S. 412). Die Wahrheit ist, daß er nur deshalb in dieser Weise
redete und reden konnte, weil ihm jener "Plunder" völlig unbekannt war und
unbekannt sein mußte. Trotzdem beabsichtigte er, mit seiner Kritik den Schlüssel zum
weltrevolutionären Sieg zu liefern. Jedoch zeigte es sich sofort, daß dieser Schlüssel
zu der Tür des proletarischen Kampfs jedenfalls nicht paßte. Daraus erklärt sich der
Lärm, den damals seine Schrift hervorrief. Für Westeuropa klang Lenins Stimme wie eine
Stimme aus dem Grab, dem Grab der bürgerlichen Revolutionen. Nur ein politischer Leichnam
konnte von ihr verführt werden.
Anmerkungen
1.N. Lenin, "Der 'linke Radikalismus', die Kinderkrankheit im Kommunismus". Die
Arbeit wurde April 1920 geschrieben, Mai 1920 mit einem Anhang versehen. Die erste -
russische - Ausgabe erschien im Juni desselben Jahres. in deutscher Übersetzung findet
man sie heute im 31. Band der Lenin-Werke, herausgegeben vom Institut für
Marxismus-Leninismus beim ZK der SED sowie in den "Ausgewählten Werken in drei
Bänden" in Band III, S.339-485. Hier wird nach der letztgenannten Ausgabe zitiert.
Unterstreichungen rühren vom Verfasser dieser Arbeit her. Sperrungen sind Hervorhebungen
im Originaltext. 2.Rosa Luxemburg, "Organisationsfragen der russischen
Sozialdemokratie", "Die Neue Zeit", Jahrgang 22, 1903/1904, Band 2, S. 492.
Auf russisch wurde ihr Aufsatz am 10. Juli 1904 von der "Iskra" veröffentlicht.
3.Mit Grund: Was wäre ihr Marxismus, wenn nicht der begriffliche Exponent der reell vor
sich gehenden proletarischen Klassenkämpfe?
"Herr Heinzen", schrieb Engels an 7.Oktober 1847 in der
"Deutschen-Brüsseler-Zeitung" Nr. 80 "bildet sich ein, der Kommunismus sei
eine gewisse Doktrin, die von einem bestimmten theoretischen Prinzip als Kern ausgebe und
daraus weitere Konsequenzen ziehe. Herr Heinzen irrt sich sehr. Der Kommunismus ist keine
Doktrin, sondern eine Bewegung: er geht nicht von Prinzipien, sondern von Tatsachen aus.
Die Kommunisten haben nicht diese oder jene Philosophie, sondern die ganze bisherige
Geschichte und speziell ihre gegenwärtigen tatsächlichen Resultate in den zivilisierten
Ländern zur Voraussetzung. Der Kommunismus ist hervorgegangen aus der großen Industrie
und ihren Folgen, aus der Herstellung des Weltmarkts, aus der damit gegebenen ungehemmten
Konkurrenz, aus den immer gewaltsameren und allgemeineren Handelskrisen, die schon jetzt
zu vollständigen Weltmarktkrisen geworden sind, aus der Erzeugung des Proletariats und
der Konzentration des Kapitals, aus dem daraus folgenden Klassenkampfe zwischen
Proletariat und Bourgeoisie. Der Kommunismus, soweit er theoretisch ist, ist der
theoretische Ausdruck der Stellung des Proletariats in diesem Kampfe und die theoretische
Zusammenfassung der Bedingungen der Befreiung des Proletariats." (MEW. Band 4.
S.321/322) Die Wichtigkeit dieser Worte, speziell der unterstrichenen, in Bezug auf die
Leninsche Schrift wird sich noch zeigen. 4.Gorter, "Offener Brief an den Genossen
Lenin", holländische Ausgabe, 1921, S.57 5.Das geschah im Rahmen seiner Schrift
"Brauner und roter Faschismus". Sie wurde zu Ende der 30-er Jahre in der
Emigration verfaßt, zum ersten Male aber 1971 veröffentlicht, als sie mit anderen
Arbeiten aus seinem Nachlaß aufgenommen wurde in seine beim Rowohltverlag in Reinbek
erschienenen "Schriften". Siehe dort S. 49 ff., insbesondere S.50/51, 56 und 62
6.Georg Lukács, "Lenin, Studie über den Zusammenhang seiner Gedanken",
geschrieben 1924; Neuauflage: Neuwied 1969, S.9 7.Lenin, der vom Anfang des Ersten
Weltkrieges an Karl Kautsky einen Renegaten nannte und ihn beschuldigte, daß er mit dem
Marxismus gebrochen habe, "weil er davon nicht die revolutionären Kampfmittel und
Kampfmethoden akzeptiert" (Vgl. W. I. Lenin, "Die proletarische Revolution und
der Renegat Kautsky", Verlag für Literatur und Politik, Wien 1931, Vorwort des
Verfassers, S.5), hatte keine Ahnung davon, daß Kautsky, auch wenn jene Kampfmittel
eifrigst von ihm propagiert worden wären, mit dem Marxismus trotzdem auf Kriegsfuß
gestanden hätte. Lenin nannte 1920 in seiner Schrift über die
"Kinderkrankheit" den Kautsky des Jahres 1902 nachdrücklich einen
"Marxisten", offenbar deshalb, weil er für die wirkliche Position Kautskys
überhaupt kein Verständnis hatte. Der Grund dafür wird dem Leser auf den nächsten
Selten klar werden. 8.Rosa Luxemburg betrachtete (in einem Aufsatz, der Januar 1905 in der
"Neuen Zeit" veröffentlicht wurde, heute in ihren "Gesammelten
Werken", Dietz-Verlag, Ostberlin 1972, Band 1/2 S.477, vorliegt) die russische
Revolution als eine Revolution "mit einem ganz besonderen Typus". Für sie war
jene "so rein proletarisch wie noch keine vorher". Jedoch meinte sie mit diesem
Ausdruck nichts mehr (aber auch nichts weniger), als daß das Proletariat auf der
russischen Revolutionsbühne die Hauptrolle spielen würde, wie es das, nur wenige Wochen
nach der Veröffentlichung ihres Artikels, tatsächlich tat. Daß trotzdem die russische
Revolution "nur nachholen würde, was die Februar- und Märzrevolution (1848) für
das westliche und mittlere Europa vollbracht hatte", das war ihr besonders klar. Sie
wußte, daß Rußland "vom Standpunkte der bürgerlichen Klassenentwicklung mit dem
vormärzlichen Deutschland keinen Vergleich aushalten" könne und sie schätzte - wie
auch Paul Frölich in seiner Luxemburg-Biographie bemerkt (dort S.117) - das
wahrscheinliche Ergebnis der russischen Revolution noch weit skeptischer ein als die
Menschewiki. Von einer "Verschiebung des Revolutionszentrums" ist bei ihr keine
Rede. Was ihre Darlegung von derjenigen Kautskys unterscheidet, ist eben die klare
Klassenanalyse und die damit zusammenhängende scharfe Begriffsdefinition, die bei dem
"Marxisten" Kautsky völlig fehlt. Aber ausgerechnet Kautsky wählt sich Lenin
als Zeuge in seiner Schrift. Keineswegs von ungefähr! 9.Die Broschüre "Zwei
Taktiken ... " wurde von Lenin im Sommer 1905 in Genf niedergeschrieben, unmittelbar
nach Ende des III. (Londoner) Kongresses der russischen Sozialdemokratie (Bolschewiki).
Wir zitieren Lenin nach dar holländischen Ausgabe "Verzamelde Werken"
("Gesammelte Werke"), Amsterdam 1938, Band 3, S.79. Der angeführte Passus
bildet der Anfang vom 6.Kapitel. 10.Wir zitieren Lenin indirekt aus einem Artikel von N.
lnsarow, der September 1926 in der linkskommunistischen deutschen Zeitschrift
"Proletarier" veröffentlicht wurde. Insarow bediente sich der russischen
Ausgabe von Lenins Gesammelten Werken, erschienen im russischen Staatsverlag. Die Stelle
befindet sich dort, wie er angibt, Bd. XI, l.Teil, S. 78/79. 11."Verzamelde
Werken", Bd.3, S.311 12.Lenin, "Staat und Revolution", zit. aus:
"Sämtliche Werke", Verlag für Literatur und Politik, Wien 1931, Bd. XXI, S.499
13.Lenin, "Entwurf einer Resolution über die gegenwärtige Lage",
"Sämtliche Werke", a.a.O., Bd. XXI, S.173 14.Lenin, "Verzamelde
Werken" (holl.), Bd.6, S.523 15.Lukács, a.a.O., S. 21 16.Boris Brutzkus,
"Agrarentwicklung und Agrarrevolution in Rußland", Berlin 1926, S 147. Brutzkus
war 1917 Professor der Landwirtschaftlichen Hochschule in Petrograd. Er gehörte zu den
bürgerlichen Gegnern des Bolschewismus, denen es während des "Tauwetters" der
N.E.P. ermöglicht worden war, kurzfristig die nichtbolschewistische Zeitschrift
"Ökonomist" herauszubringen, bis Sinowjew 1922 einen "geistigen
Kampf" gegen sie ankündigte. Als dessen Ergebnis wurde Brutzkus zuerst verhaftet,
sodann aufgefordert, das Land zu verlassen. Über seine ideen äußerte sich die
bolschewistische Presse in abgeschmacktester Weise, was die Bolschewisten nicht daran
hinderte, sie gelegentlich eitrig zu plündern. Selbstverständlich sind wir nicht mit
Brutzkus einverstanden. Nichtsdestoweniger betrachten wir seine Werke als interessant. An
verschiedenen Stellen enthalten sie treffende Bemerkungen. Seine Schilderung der
russischen Agrarentwicklung ist besonders aufschlußreich. 17.Georg Lukács hat den hier
nur sehr schematisch angedeuteten geschichtlichen Vorgang beschrieben am Beispiel der
Entwicklung der philosophischen und sozialen Ansichten von Moses Hess und den "wahren
Sozialisten". Vgl. Georg Lukács, "Moses Hess und die Probleme der
idealistischen Dialektik", Leipzig 1926, S.9/10. Praktisch jedes Wort seiner
Darlegung trifft auf das Schicksal des dialektischen Materialismus in Rußland zu. Das
aber ist eine Konsequenz, die Lukács nicht gezogen hat. 18.Vgl. Rosa Luxemburg,
"Sozialreform oder Revolution", Gesammelte Werke, Dietz-Verlag, Ostberlin 1972,
Bd. 1/1, S.389 19.Lenin behauptet (S. 421),daß "gewisse 'reaktionäre Züge' der
Gewerkschaften unter der Diktatur des Proletariats unvermeidlich" wären. Das geht
daraus hervor, daß in dem gerade hochkommenden Staatskapitalismus, welcher einer Diktatur
bedarf, der Verkauf der Ware Arbeitskraft natürlich fortbesteht, die Gewerkschaften also
ihre wesentliche Funktion ausüben werden. Weil es sich um Staatskapitalismus handelt,
handelt es sich auch um staatliche Gewerkschaften. Der Form nach verschieden, ist ihr
inhalt derselbe wie im Westen, mögen sich sowohl die Bolschewiki als die westlichen
Gewerkschaftsführer darüber auch andere, ganz ideologische, Gedanken machen 20.Otto
Rühle, "Schriften", a.a.O., S.53 21.N.K. Krupskaja, "Erinnerungen an
Lenin", Ring-Verlag, Zürich, 1133, Bd. II, S.29/30 22."Neue Züricher
Zeitung" vom 24 .Januar 1954, Blatt 7, Artikel: "Lenin in der Schweiz".
23.Otto Rühle, "Schriften", a.a.O., S.59 24.W. I. Lenin, "Thesen über die
Konstituante", Verzamelde Werken (holl.), a.a.O., Bd.6, S. 469 ff. 25.V.l. Lenin,
"Die Wahlen für die Konstituante und die Diktatur des Proletariats",
"Verzamelde Werken" (holl.) a.a.O., Bd.6, S.485. Unser Hinwels bezieht sich
insbesondere auf den VI. Abschnitt des Artikels. 26.W. I. Lenin, "Über
Kompromisse", Sämtliche Werke, Bd. XII, S.164. Man vergleiche dazu seinen Ausspruch;
"... wir kämpfen für die Eroberung der politischen Macht durch unsere Partei. Diese
Macht wäre die Diktatur des Proletariats und der ärmsten Bauernschaft" ("Zur
Revision des Parteiprogramms" Sämtl. Werke, Bd. XXI, S.397). Oder seinen Ausspruch
auf dem XI. Parteitag der Bolschewiki: "... der Staat, das sind die Arbeiter, ihr
fortgeschrittenster Teil, die Avantgarde, das sind wir" (d.h. die Bolschewiki!)
27.Die Diktatur der Klasse, die in dieser Frage in klarer Weise der Parteidiktatur
gegenübergestellt wird, ist natürlich die berühmte Diktatur des Proletariats. Der
Begriff scheint geeignet, Mißverständnisse hervorzurufen. Aus diesem Grunde zieht der
Verfasser dieser Zellen es vor, sich dieses Begriffs nicht zu bedienen. Nach seiner
Meinung ist die Anwendung des Begriffes durch Marx und Engels aus historischen Gründen
zwar verständlich, aber nichtsdestoweniger wären da, gerade vom Marxistischen Standpunkt
aus, manche Bedenken zu erbeben. Diese wollen hier nicht erörtert werden. Wohl aber muß
hier festgestellt werden, daß der Leninsche Begriff der Diktatur des Proletariats mit dem
von Marx und Engels nichts zu tun hat.
Bei Lenin ist die Diktatur des Proletariats eine besondere Repressionsgewalt des
Proletariats, die an die Stelle der Repressionsgewalt der Bourgeoisie getreten ist. In der
Marschen Auffassung wird in der proletarischen Revolution die bürgerliche
Repressionsgewalt, d.h. der Staat, zerschlagen! Dieser stirbt sodann ab, weil es unter den
neuen gesellschaftlichen Verhältnissen keiner Repression mehr bedarf. "Wird
es", schreibt Marx gegen Proudhon, "nach dem Sturz der alten Gesellschaft eine
neue Klassenherrschaft geben, die in einer neuen politischen Gewalt gipfelt? Nein."
(MEW, Bd. 4, S.181).
Jedoch tritt bei Lenin der "proletarische Staat" an die Stelle des bürgerlichen
Staates. Bei ihm (Lenin) stirbt nicht der bürgerliche, sondern der "proletarische
Staat" ab. Die Marxsche Auffassung vom Absterben des bürgerlichen Staates (der doch
schon zerschlagen ist) bildet für Lenin das große Hindernis. Das zeigt sich unter
anderem auch dort, wo er (in "Staat und Revolution") über "die
Beibehaltung des engen bürgerlichen Rechtshorizonts während der ersten Phase des
Kommunismus" spricht (Sämtliche Werke XXI, S.554). Somit wird nach Lenin das Recht
vom Staate bedingt, anstatt daß er Recht und Staat beide aus der Gesellschaft heraus
erklärt. Er achtet nicht darauf, daß die juristischen Beziehungen sich langsamer
ändern, als die sozialen Beziehungen, deren Ausdruck sie bilden.
Das alles hat eine merkwürdige Konsequenz: Lenin, der verneint, es könne sich um das
Absterben des bürgerlichen Staates handeln, schlußfolgert nichtsdestoweniger:
"Unter dem Kommunismus bleibt nicht nur das bürgerliche Recht eine gewisse Zeit
bestehen, sondern sogar der bürgerliche Staat - ohne Bourgeoisie". in Rußland war
das tatsächlich die wirkliche Lage, die aber am allerwenigsten mit Kommunismus bezeichnet
werden konnte. Da haben wir es abermals mit den theoretischen Früchten jener
"Versöhnung" zu tun, von der schon die Rede war! 28.Karl Marx, "Kritische
Randglossen zu dem Artikel 'Der König von Preußen und die Sozialreform'", MEW 1, S.
406 und 407. Auf die Bedeutung des Marxschen Aufsatzes in Bezug auf die Leninschen
Organisationsauffassungen wurde 1935 von Paul Mattick hingewiesen. Vgl. Paul Mattick,
"Die Gegensätze zwischen Luxemburg und Lenin", "Rätekorrespondenz",
Heft 12. Nachdruck im Sammelbändchen "Partei und Revolution", Kramer Verlag,
Berlin o.J. 29.W. I. Lenin, "Sämtliche Werke", Bd. VII, S.122 30.N. Lenin,
"Der Zusammenbruch der II. internationale", geschrieben 1915;
Erstveröffentlichung in der Zeltschrift "Der Kommunist", die (nur einmal) 1910
in der Schweiz erschien. Nachdruck im Sammelwerk; N. Lenin und G.Sinowjew, "Gegen den
Strom", im Verlag der Kommunistischen internationale, Carl Hoym Nacht., Hamburg 1921.
Dort siehe S. 165. 31.Vgl. dazu den Brief von Engels an Marx vom 26.September 1851, MEW
Bd.27, S.353. Wörtlich so wie Engels sich dort geäußert hat, hat er sich kurze Zeit
danach geäußert in einer unvollendet gebliebenen Broschüre "Die Möglichkeiten und
Voraussetzungen eines Krieges der Heiligen Allianz gegen Frankreich im Jahre 1852".
Die Broschüre wurde 1914 von N. Rjasanow in der "Neuen Zeit" veröffentlicht
(33.Jahrgang, l. Bd., S.265 u. 297). Exzerpte daraus wurden 1931 mitaufgenommen in ein
Bändchen der Reihe "Elementarbücher des Kommunismus" (Bd.15) mit dem Titel
"Militärpolitische Schriften" (internationaler Arbeiter-Verlag, Berlin,
S.27ff.). Liest man dort die Auszüge aus der Engelsschen Arbeit, so wirken die
Anstrengungen des bolschewistischen Herausgebers K.Schmidt, die klar hervortretenden
Differenzen der Engelsschen und der Leninschen Auffassungen zu vertuschen, geradezu
komisch. Wo Engels von der gänzlichen Auflösung der Disziplin redet, da fügt Schmidt in
Klammern das Wörtchen "alten" hinzu, um für die "neue" Disziplin,
wie sie von den Bolschewisten z.B. nach dem Oktober wieder in der Roten Armee eingeführt
wurde, eine Ausnahme zu kreieren. Nachdem der Marxismus mit den russischen Verhältnissen
"versöhnt" war, sollte also von diesem "angepaßten" Marxismus aus
die Auffassung von Engels (bzw. Marx) "korrigiert" werden! Ein erbauliches
Schauspiel! übrigens sucht man die Engelssche Broschüre vergeblich in den MEW im
Dietz-Verlag. 32.Boulangismus - so genannt nach dem reaktionären französischen General
Boulanger, der, als seine politischen Hoffnungen fehlschlugen, im Jahre 1891 Selbstmord
beging. 33.Vgl. "Das kommunistische Manifest", MEW Bd.4, S.492 u.474 34.Man sehe
dazu: Anton Pannekoek, "Lenin als Philosoph", Erste Auflage, Amsterdam 1938;
Neuauflage Frankfurt 1969 35.Arthur Rosenberg, "Geschichte des Bolschewismus",
Berlin 1932, S.26 u. 31. Rosenberg selbst ist an der Stelle wo er diese Behauptung
aufstellt, gleich schon wieder gezwungen, sie beträchtlich einzuschränken. "Die
mechanische Übertragung des Urmarxismus nach Rußland", schreibt er, "war doch
nicht ohne weiteres möglich." Also! 36.Lenin, "Ein Schritt vorwärts, zwei
Schritte zurück", AW, Verlag für Literatur und Politik, Wien 1932, 8.436 37.F.
Engels, "Programm der blanquistischen Kommuneflüchtlinge" MEW Bd. 18, S.533
38.Die wichtigste wäre wohl jene, wo Engels den Atheismus als Kampfansage an die Religion
verspottet (MEW, a. a. 0. S. 5)2). Lenin, der ja im absolutistischen Rußland den Kampf
gegen die Kirche als herrschende Macht zu führen hatte, hielt dagegen den Atheismus und
den Kampf gegen die Religion immer für höchst wichtig und für einen Bestandteil des
Marxismus, so wie er ihn auffaßte. 39.W. I. Lenin, "Über Kompromisse",
Sämtliche Werke Bd. XXI, S.163 ff.
Rätedemokratie statt Parteidiktatur
Kommunismus als Gegensatz zum Bolschewismus
1.
»Nehmen wir an, daß die zentrale Leitung ... die Produktenmasse nach dem Lebensniveau
rechtmäßig verteilen würde, dann bleibt trotz des glatten Ablaufs der Geschäfte die
Tatsache bestehen, daß die Produzenten in Wirklichkeit nicht die Verfügung über den
Produktionsapparat haben. Es wird nicht ein Apparat von den Produzenten, sondern über
ihnen sein. Das kann zu nichts anderem als zu einer heftigen Unterdrückung gegenüber
Gruppen führen, die zu dieser Leitung in Widerspruch stehen. Die zentrale ökonomische
Macht ist zugleich die politische Macht. Jedes oppositionelle Element, welches die Dinge
in politischer oder ökonomischer Hinsicht anders als die zentrale Leitung will, wird mit
allen Mitteln des gewaltigen Apparates unterdrückt... So wird aus der Assoziation freier
und gleicher Produzenten, die Marx verkündete, ein Zuchthausstaat, wie wir ihn noch nicht
kannten.«
Zitiert wurde aus einer Schrift, worin vor etwas mehr als 60 Jahren nachgewiesen wurde,
daß jene Produktionsverhältnisse, die sich seit dem Oktober 1917 in Rußland
entwickelten, mit Kommunismus, so wie ihn Marx und Engels verstanden, nichts zu tun
hatten. Als sie erschien, stand die Terrorwelle der dreißiger Jahre noch bevor. Sie wurde
bloß antizipiert. Kein politisches Ereignis, wie zum Beispiel die spätere
Schrekkensherrschaft, hatte ihre Kritik an der Sowjetgesellschaft mit veranlaßt, sondern
eine ökonomische Analyse. Auf ihrer Basis wurde der sich damals breitmachende Stalinismus
als der politische Ausdruck eines auf staatskapitalistischer Ausbeutung beruhenden
Wirtschaftssystems betrachtet. Und nicht nur der Stalinismus allein!
Die Schrift war eine Kollektivarbeit. Ihre Verfasser gehörten einer Richtung an, die in
den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg Gestalt gewann und gekennzeichnet wurde durch eine
unerbittliche Kritik sowohl an der Sozialdemokratie wie am Bolschewismus. Außerdem war es
eine Richtung, die die täglichen Erfahrungen der Arbeiterschaft derart verarbeitet hatte,
daß sie zu neuen Ansichten über den Klassenkampf gekommen war. Demzufolge verstand sie
Sozialdemokratie und Bolschewismus als »alte Arbeiterbewegung«, im Gegensatz zu einer
»neuen Bewegung der Arbeiter«.
Zu ihren Wortführern gehörten von Anfang an deutsche und holländische Marxisten, die
seit dem Beginn ihrer politischen Tätigkeit auf dem linken Flügel der Sozialdemokratie
standen, im Laufe der Jahre ihres unablässigen Kampfes gegen den Reformismus sich aber
immer kritischer dieser Bewegung gegenüber verhielten. Die Bekanntesten waren die beiden
Holländer Anton Pannekoek (1873-1960) und Herman Gorter (1864-1927) sowie die beiden
Deutschen Karl Schröder (1884-1950) und Otto Rühle (1874-1943). Später wurde auch der
sehr viel jüngere Paul Mattick (1904-1980) einer ihrer bedeutendsten Theoretiker.
Pannekoek, der kurz nach der Jahrhundertwende mit Betrachtungen über marxistische
Philosophie die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hatte, war von 1905 bis zum Ausbruch des
Ersten Weltkriegs in Deutschland tätig, erst ein Jahr in Berlin als Lehrer an der
Parteischule der SPD, später - nachdem man ihn als Ausländer aus Preußen ausgewiesen
hatte - in der Freistadt Bremen. Er gab eine Zeitungskorrespondenz heraus und
veröffentliche Artikel in der radikalen Bremer Bürgerzeitung. Hier, in Bremen, war er
nicht nur in enger Verbindung mit den sogenannten «Bremer Linken» sondern gleichsam auch
Augenzeuge einiger wichtiger spontaner Streiks der Bremer Werftarbeiter. Diese Erfahrungen
haben seine Auffassungen über den Klassenkampf und dessen Formen spürbar beeinflußt.
Sie haben, neben seiner Interpretation des Marxismus, wohl dazu beigetragen, daß er - wie
übrigens gleichzeitig auch Gorter - die bolschewistischen Auffassungen von Organisation,
Strategie und Politik frühzeitig verwarf.
Otto Rühle, der sich in der deutschen Arbeiterbewegung nie völlig mit irgendeiner
Organisation identifizieren konnte, die allgemeinen Interessen der Arbeiterklasse aber
niemals aus den Augen verlor, tat Anfang der zwanziger Jahren das gleiche. Er war
vielleicht der erste, der darauf hinwies, daß die proletarische Revolution etwas durchaus
anderes sei als eine bürgerliche und somit notwendigerweise andere Organisationsformen
aufweisen müsse. Deshalb bekämpfte er den Wahn, wonach die Revolution eine
Parteiangelegenheit sei und ihr Sieg ein Parteiziel. Er schrieb: «Die Revolution ist
keine Parteisache..., [sondern sie] ist die politische und wirtschaftliche Angelegenheit
der ganzen proletarischen Klasse.»
Es sind diese, später präziser ausgearbeiteten Auffassungen, die die sich allmählich
abzeichnende Richtung charakterisieren. Rätekommunismus wird sie seit den frühen
zwanziger Jahren genannt, weil sie auf Grund der Erfahrungen der russischen und der
deutschen Revolution - wie auch immer beider Entwicklung verlief - die Rätedemokratie
verteidigte und jede Parteiherrschaft entschieden zurückwies. Außerdem sollte der Name
dazu dienen, sie von dem sich ebenfalls als kommunistisch verstehenden Bolschewismus zu
unterscheiden. Ihr Rätekommunismus aber war trotzdem anfangs noch keineswegs
gleichermaßen ausgebildet wie später. Das läßt sich an ihrem Verhalten zur
Organisationsfrage wie an ihrer Deutung der sowjetischen Gesellschaftsordnung nachweisen.
2.
Als Gorter in einem berühmten Aufsatz sich kritisch mit Lenin auseinandersetzte, da
verstand er den Rätekommunismus, der damals noch nicht namentlich erwähnt wurde, kaum
als einen Gegensatz zum Bolschewismus. Im Gegenteil! Gorter betonte sogar, er sei in
manchen Dingen völlig mit Lenin einverstanden. Er warf ihm bloß vor, eine grundfalsche
Einschätzung des westeuropäischen Kapitalismus, der westeuropäischen Arbeiterklasse und
somit der in Westeuropa existierenden gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen zu
haben. Seine, Lenins Weisungen und Richtlinien für die westlichen Parteien der inzwischen
gegründeten Dritten Internationale seien deshalb falsche Richtlinien, welche diese
kommunistischen Parteien nicht befolgen könnten und nach Gorter nicht befolgen sollten.
Gorter blieb einen Schritt hinter Rühle zurück. Dieser hatte zwar, ebenso wie Gorter,
noch kein völlig klares Verständnis für den Grundcharakter der russischen Revolution,
für das, was sie geschafft hatte und noch schaffen würde, aber er hielt die Parteien der
Dritten Internationale schon nicht mehr für kommunistisch. Es vergingen aber nur wenige
Jahre, da setzte sich der Rätekommunismus viel deutlicher gegen den Bolschewismus ab. Der
sogenannte kommunistische oder sozialistische Oktober, so sein Standpunkt, hat mit dem
Zarismus und den feudalen Verhältnissen aufgeräumt, und damit für kapitalistische
Verhältnisse den Weg frei gemacht.
Die Rätekommunisten haben sich mit dieser bloßen Feststellung nicht zufrieden gegeben.
Sie haben darauf hingewiesen, daß eine Produktionsweise, die, wie die russische, die
Lohnarbeit voraussetzt, d.h. die Arbeitskraft als eine Ware und den Wert dieser Ware als
Grundlage aller Wirtschaftsprozesse, zu nichts anderem führt als zu Mehrwerterzeugung und
Ausbeutung der Arbeiterschaft. Sie betonten, daß es nichts ausmacht, ob der produzierte
Mehrwert zum privaten Kapitalisten oder zum Staat als Eigentümer der nationalisierten
Produktionsmittel fließt und daß Marx schon erläuterte, daß deren Verstaatlichung
keinen Sozialismus bedeutet.
Die Rätekommunisten haben mehr getan. In der eingangs zitierten Schrift haben sie
aufgezeigt, daß im Staatskapitalismus Rußlands - den Lenin einmal so charakterisierte,
daß die Maschine nicht dorthin gehe, wohin sie der Führer lenke und daß nicht die
Bolschewisten die [Wirtschafts-] Maschine führen, sondern umgekehrt die Maschine die
Bolschewisten - die Produktion denselben Gesetzen gehorcht wie im Fall der klassischen
kapitalistischen Privatwirtschaft.
Aufhebung der Ausbeutung, so heißt es dort (mit einem Hinweis auf Marxens Randglossen zum
Gothaer Programm und mit einem Zitat aus Engels Anti-Dühring), kann es nur geben, wenn
die Lohnarbeit aufgehoben wird, d.h. wenn nicht länger die Menge der für einen
Produzenten benötigten Güter durch den Wert seiner Arbeitskraft bestimmt wird, sondern
durch seine Arbeit, besser gesagt: durch die verwendete Arbeitszeit. Um von einer
Assoziation freier und gleicher Produzenten sprechen zu können, muß die Arbeitszeit die
Recheneinheit der Produktion bilden.
Eine ausführliche Wiedergabe der ökonomischen Auseinandersetzungen und Erläuterungen in
der genannten Schrift ist hier nicht möglich. Worauf es ankommt: ihre
rätekommunistischen Verfasser haben zweierlei geleistet. Sie erklärten, mit dem
Zeigefinger Richtung Moskau, was der Kommunismus nicht ist und prüften zugleich die
Voraussetzungen und Bedingungen einer wirklichen kommunistischen Gesellschaft. Damit wurde
der Gegensatz zwischen Rätekommunismus und Bolschewismus klarer als vorher
herausgearbeitet.
3.
Aus dem bisher Gesagten geht logischerweise hervor, daß der Rätekommunismus keine
Spezialkritik am Stalinismus darstellt, sondern eine Kritik am Bolschewismus schlechthin.
Die Rätekommunisten verstehen den Stalinismus nicht als eine Art «Konterrevolution»,
welche die Oktoberrevolution ihrer Früchte beraubt hätte. Für sie ist der Stalinismus
eben eine Frucht jener Revolution, die dem Kapitalismus in Rußland endgültig die Tore
geöffnet hat. Lenin durfte in seinem Testament vor ihm warnen, Stalin war
nichtsdestoweniger sein Erbe, der Stalinismus eine Erbschaft des Bolschewismus und der
bolschewistischen Revolution.
Am Bolschewismus und an dieser Revolution hatten die Rätekommunisten wichtige Phänomene
kritisiert. Allmählich jedoch, in dem Maße, wie sich der Grundcharakter dieser
Umwälzung deutlicher erkennen ließ, mündeten diese unterschiedlichen Kritiken in eine,
die ihre respektiven Zusammenhänge aufdeckte. Da war nicht länger von «falschen»
Einschätzungen, von einer «untauglichen» Organisation oder von einer «verderblichen»
Politik die Rede. Da wurden alle Erscheinungen des Bolschewismus und alle Stufen seiner
Entwicklung als der begreifliche Ausfluß, als die logische Konsequenz seiner
gesellschaftlichen Aufgabe und Funktion verstanden.
Diese theoretische Entwicklung aber ging langsam vor sich, analog den gesellschaftlichen
Entwicklungen, in deren Verlauf sich die rätekommunistischen Ansichten und die
rätekommunistische Praxis wandelten. Der Rätekommunismus, der die in der russischen wie
in der deutschen Revolution gebildeten Räte als Organe der proletarischen Machtausübung
begrüßt und theoretisch erfaßt hatte, trat - paradox - anfangs als Partei auf, ein
Auftreten, das besonders Schröder äußerst aktiv initiierte. Es entstand die K.A.P.D. in
Deutschland, die K.A.P.N. in den Niederlanden, die sich weder an die Wahlen für das
bürgerliche Parlament beteiligen noch Politik treiben wollten.
Rühle, der - wie wir gesehen haben - 1920 die Revolution «keine Parteisache» nannte und
eigentlich bis ins hohe Alter in die Partei «im Grunde nicht eine Organisationsform des
Proletariats, sondern der Bourgeoisie» erblickte, definierte trotzdem - aus taktischen
Üerlegungen - die K.A.P.D. und ihre holländische Schwesterpartei als «neue
kommunistische Partei, die keine Partei mehr ist». So verstand sie auch Gorter, genauso
verstanden die beiden Parteien sich selbst.
Vier Jahre später, 1924, äußerte Rühle sich ganz anders: «Eine Partei mit
revolutionärem Charakter im proletarischen Sinne», schrieb er, «ist ein Unding. Sie
kann nur revolutionären Charakter im bürgerlichen Sinne haben und da nur an der Wende
zwischen Feudalismus und Kapitalismus». Aus den hier erwähnten Gründen sind die
«Undinge» denn auch innerhalb eines knappen Jahrzehnts von der gesellschaftlichen Bühne
verschwunden. Die Idee aber flackerte bisweilen - aus bestimmten, hier zu vernachlässigen
Ursachen - wieder auf. So zum Beispiel in Fünf Thesen über den Klassenkampf, einem Text,
den Pannekoek 1946 verfaßte. Dann starb die Idee für immer.
Mittlerweile entwuchs der Rätekommunismus seiner Kindheit. Die Tatsache, daß er die
russische Revolution als eine bürgerliche, die in Rußland herrschenden
Produktionsverhältnisse als staatskapitalistisch verstand, erweiterte seinen Blick für
Dinge, von denen einige erst heute reif für nähere Untersuchungen sind. Andere, schon
früher analysierte Phänomene erschienen später in einem helleren Licht.
4.
Die bedeutungsvollste Leistung in dieser Hinsicht lieferte 1938 Pannekoek, als er im
Rahmen einer Abhandlung über Lenins Philosophie den ganzen Bolschewismus nochmals einer
näheren und gründlichen Betrachtung unterzog.
Pannekoek hat in dieser Schrift nicht nur nachgewiesen, daß der Marxismus von Lenin eine
Legende ist, das sein angeblicher Marxismus sich im Widerspruch mit dem wirklichen
Marxismus befindet, er hat zugleich die Ursache dafür bloßgestellt. «In Rußland war
der [auf der Tagesordnung stehende] Kampf gegen den Zarismus im hohen Maß gleichartig mit
den früheren Kämpfen gegen den Absolutismus in Europa. Auch in Rußland waren Kirche und
Religion die stärksten Stützen des Regierungssystems... So war der Kampf gegen die
Religion hier eine gesellschaftliche Notwendigkeit.» Daraus ergibt sich, daß, was Lenin
in Bereich der Philosophie für historisch-materialistische Auffassungen hielt, sich
praktisch kaum unterschied vom französischen bürgerlichen Materialismus des 18.
Jahrhunderts, der damals als geistige Waffe gegen Kirche und Religion entwickelt worden
war.
In ähnlicher Weise, d.h. indem auf die Übereinstimmung der vorrevolutionären
gesellschaftlichen Verhältnisse in Rußland und Frankreich hingewiesen wurde, erklärten
schon früher rätekommunistische Texte den Blanquismus der Bolschewiki oder die Tatsache,
daß Lenin für sich und für die Mitglieder seiner Partei das Wort Jakobiner als
Ehrenname beansprucht hatte und daß sie der Auffassung waren, daß ihrer Partei die Rolle
der Jakobiner der russischen bürgerlichen Revolution zukomme.
Tatsächlich, bürgerlich nannte Lenin zu einem Zeitpunkt, als er noch keine Legenden oder
Mythen zu bewahren hatte, die bevorstehende Revolution. Die rätekommunistischen
Theoretiker konnten ihm darin nur zustimmen. Daß im März 1918, also nur wenige Monate
nach der Oktoberrevolution, die Sowjets ihrer bereits schrumpfenden Macht endgültig
beraubt wurden, ging in rätekommunistischer Sicht aus dem Charakter dieser Revolution
hervor. Die russischen Sowjets, ob sie sich nun wirklich aus echten Vertretern der
Arbeiterklasse zusammensetzten oder nicht, paßten jedenfalls keineswegs in ein System,
das nichts anderes war und sein konnte, als der politische Überbau staatskapitalistischer
Produktionsbedingungen. Es war eine Parteiherrschaft, die Diktatur jener politischen
Instanz, die über die nationalisierten Produktionsmittel verfügte und somit, wie sonst
jeder privater Unternehmer, auch über die Produkte.
Der Kommunismus, so wie er von der Rätebewegung verstanden wird, steht zu diesem System
in einem scharfen Gegensatz. Aus rätekommunistischer Sicht ist eine Parteidiktatur mit
einer Gesellschaftsformation, deren ökonomische Grundlage in der Beseitigung der
Lohnarbeit und der daraus hervorgehenden Ausbeutung besteht, unvereinbar. Einer
Gesellschaft, in der die Produzenten frei und gleich sind, ist logischerweise die
Demokratie der Produzenten inhärent. Sie ist selbstverständlich etwas anderes als die
angebliche «proletarische» Diktatur und ihre zum Terror führende Gewalt.
Was den Mitte 30er Jahre unter Stalin seinen Gipfelpunkt erreichenden Terror betrifft, so
war er in rätekommunistischer Sicht nichts wesentlich Neues. Er hatte bereits unter Lenin
eingesetzt. Und seine kolossale Steigerung später konnte nicht aus Stalins Charakter,
sondern eher als Begleiterscheinung des Industrialisierungs- und
Proletarisierungsprozesses, also als Begleiterscheinung einer ursprünglichen
Akkumulation, wie sie sich anderswo auch vollzogen hatte, verstanden werden.
Daß die russischen Bolschewiki ihre Gesellschaft als kommunistisch bezeichnen konnten,
kam daher, daß sie zu Unrecht meinten, die Verstaatlichung der Produktionsmittel sei der
Sturz des Kapitalismus. Das war eine schon von Marx und Engels kritisierte Auffassung, die
- ach wie lang ist's her - auch die Sozialdemokratie vertrat, als sie noch vom Sturz der
kapitalistischen Gesellschaft redete. Mit Rücksicht darauf könnten - wie es Rühle getan
hat - die Bolschewiki als (radikale) Sozialdemokraten betrachtet werden.
Über das, was auf Grund seiner gesellschaftlichen Lage und seiner theoretischen
Auffassungen vom Bolschewismus zu erwarten war, schrieb Pannekoek: «... die
Arbeitermassen haben [wie Moskau es fordert] der kommunistischen Partei zu folgen, ihr die
Führung und nachher die Herrschaft zu überlassen, während die Masse der
Parteimitglieder in fester Disziplin der Parteiführung zu gehorchen hat». Das Fazit:
«Die für ihre Befreiung kämpfende Arbeiterklasse wird die Philosophie Lenins auf ihrem
Weg finden als die Theorie einer Klasse, die ihre Knechtschaft und Ausbeutung zu erhalten
sucht.» Es waren prophetische Worte! Wie prophetisch, erfuhren 1953, 15 Jahre nach ihrer
Niederschrift, die Bauarbeiter der damaligen Ostberliner Stalinallee, als der Leninismus
mit Panzern auf sie losfuhr.
Pannekoek war nicht der einzige Rätekommunist, der, indem die Theorie immer klarer
ausgearbeitet wurde, die Aufmerksamkeit auf den Unterschied zwischen Marx und Lenin
lenkte. Das gleiche tat der seit 1926 in den USA lebende Paul Mattick, der sich schon
frühzeitig mit Problemen der Arbeiterbewegung befaßte. Mattick tat dies in indirekter
Weise. Sein Aufsatz hieß Die Gegensätze zwischen Luxemburg und Lenin. Darin
beschäftigte er sich mit der Marxschen Kritik an dem bürgerlichen Revolutionär Arnold
Ruge, um nachzuweisen, daß sie in jeder Hinsicht übereinstimmt mit der Luxemburgschen
Kritik an Lenin, weil sich Lenins Auffassungen denen von Ruge näherten. Dabei zeigte er
nicht nur, wie weit Lenin vom proletarischen Standpunkt Marxens entfernt war. Indem er
Lenin mit dem Marx auf den Leib rückte, warf er auch ein helles Licht auf die Marxschen
Ansichten selbst.
Gegen Lenin, der die ganze Revolution zu einer Frage des bewußten Eingreifens seiner
jakobinischen Berufsrevolutionäre machte, führte Mattick in Marxens Spuren an, daß ein
Mehr an politischem Verständnis auch ein Mehr nutzloser, irrationeller Kämpfe für das
Proletariat bedeutet, da das politische Verständnis seine viel richtigeren
Klasseninstinkte verschleiert und die Arbeiter blind gegen ihre wirklichen
gesellschaftlichen Aufgaben macht.
5.
Matticks Darlegungen streiften einen Punkt, der von rätekommunistischer Seite immer
wieder betont wurde. Nicht von einer revolutionären Intelligenz erzogen, sondern auf
Grund ihrer Klassenlage in der Gesellschaft, die sie zum spontanen Selbsthandeln zwingt,
gehen die Arbeiter in den Kampf. Der Kapitalismus wird nicht gestürzt, weil die Arbeiter
die Revolution machen wollen, sondern die Revolution ist unvermeidlich, weil der
Klassenkampf im Kapitalismus unvermeidlich ist. Mit dieser Auffassung verwirft der
Rätekommunismus auch die Leninsche These, daß es «ohne revolutionäre Theorie keine
revolutionäre Praxis» gäbe. Es ist, so wirft er Lenin vor, gerade umgekehrt: ohne
revolutionäre Praxis keine revolutionäre Theorie! Und das schon deswegen, weil jede
Theorie die gedankliche Zusammenfassung einer bestimmten Wirklichkeit ist. Ohne etwas,
worüber zu theoretisieren ist, gäbe es keine Theorie.
Die rätekommunistische Theorie fußt auf den in unserem Zeitalter geführten
Klassenkämpfen und auf den heutige Entwicklungstendenzen der kapitalistischen
Gesellschaft, wie die Marxsche Theorie auf den damaligen Klassenkämpfen und den Tendenzen
des Kapitalismus seiner Zeit beruht. Und das als Ergebnis der gleichen
Untersuchungsmethode. Wenn der Rätekommunismus nachdrücklich bestreitet, daß die
Arbeiter in fester Disziplin irgendeiner Parteiführung zu gehorchen haben, wenn er
Spontaneität und Selbstbestimmung befürwortet, dann deshalb, weil die wirklich vor sich
gehende Entwicklung des Klassenkampfes immer deutlicher einen nicht zu vernachlässigenden
Beweis dafür liefert, daß eine neue, durch Unabhängigkeit von jeder sogenannten
«Vorhut» gekennzeichnete, von welcher bankrotten Ideologie auch immer beeinflußte
Bewegung der Arbeiter selbst die einzig mögliche Perspektive bildet.
Eine selbständige, von der traditionellen völlig verschiedene neue Arbeiterbewegung kann
nach rätekommunistischer Ansicht nicht künstlich errichtet werden. Sie wächst aus der
Gesellschaft infolge sozialer Kämpfe. Worauf sie lossteuert, ob sie dessen bewußt ist
oder nicht, ist die Rätedemokratie!
Cajo Brendel
CAJO BRENDEL, geboren 1915 in Den Haag (Niederlande). Nach dem Verlassen des Elternhauses
schlägt er sich abwechselnd als Arbeiter oder Arbeitsloser durch; Sympathien für den
Trotzkismus. Schloß sich 1934 der holländischen rätekommunistischen Gruppe
Internationaler Kommunisten (GIC) an. Von Anfang 1952 bis Ende 1954 einer der Redakteure
der holländischen Zeitschrift Spartacus. Seit 1965 Mitherausgeber der Monatsschrift Daad
en Gedachte.
Wichtigste Veröffentlichungen in deutscher Sprache: Lenin als Stratege
der bürgerlichen Revolution, in: Schwarze Protokolle, Nr. 4, Berlin 1973; Autonome
Klassenkämpfe in England 1945-1972, Berlin 1974; Henriette Roland Holst als
Voluntaristin, Einführung zu ihrer Broschüre Die revolutionäre Partei, Berlin 1972.
Eine Auswahl weiterer Schriften von Cajo Brendel in deutscher Sprache:
Autonome Klassenkämpfe in Großbritannien (1976, Monographie)
Die "Gruppe internationale Kommunisten in Holland. Persönliche Erinnerungen
aus den Jahre 1934-1939, in: Jahrbuch Arbeiterbewegung. Theorie und Geschichte 2, 1974
Über die wirklichen Lehren des Rotterdamer Hafenstreiks, in: Die soziale Revolution ist
keine Parteisache, nr. 1, 1971
Betrachtungen zum jüngsten Bergarbeiterstreik in Großbritannien, in: Die Aktion, nr. 2,
1985
Wen oder was vertritt Gorbatschow? Zum Wesen der Perestroika, in: Die Aktion, 1989
Anmerkungen zur Neuformierung der revolutionären Linken, in: Die Aktion, 1994
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