Cajo Brendel
WEN ODER WAS VERTRITT GORBATSCHOW UND
WAS IST DAS WESEN VON PERESTROIKA?
1.
ANNA. SANDOR, eine ungarische Publizistin, die an der Karl Marx Universität in Budapest
politische Ökonomie studierte und seit 1977 für verschiedene Tageszeitungen im Westen
Entwicklungen und Ereignisse in Osteuropa kommentiert hat, veröffentlichte im vergangenen
Jahr ein Buch in dem sie Gorbatschow einen Manager nannte (l). Es würde schwierig sein,
glauben wir, ihn besser zu charakterisieren. Einmal galt der verstorbene Anastas Mikojan
als der typische Vertreter des osteuropäischen Managertums, das vom Jugoslawen Milovan
Djilas vor langer Zeit schon als eine 'neue Klasse' gedeutet wurde. Gorbatschow ist es in
noch viel stärkerem Maße. Der Mann hat Rechte studiert, hat enge Verbindungen zu
hervorragenden Persönlichkeiten der russischen Intelligenz (2) und gleicht überhaupt
nicht einem Bürokraten. Es ist aber nicht so, daß er als die Triebkraft die auf Reformen
lossteuert zu betrachten sei. Es ist vielmehr so, daß infolge einer dringlichen
Reformnotwendigkeit Gorbatschow in den Vordergrund getreten oder geschoben worden ist.
Dabei handelt es sich um Reformen die keineswegs die Stellung oder die Macht der neuen
herrschenden Klasse angreifen oder verringern. Im Gegenteil, es handelt sich um Reformen
die ihre Stellung befestigen und stärken. Von alledem findet man unter andrem die Beweise
auf fast jeder Seite von Gorbatschows Buch 'Perestroika, das mittlerweile auch in
deutscher Übersetzung vorliegt.
Das russische Wort 'Perestroika' bedeutet 'Umstrukturierung' oder 'Reform'. Im so
titulierten Werk - in dem alle von Gorbatschow vorher schon in seinen Reden behandelten
Gegenstände in fast gleicher Weise neubehandelt werden - wird vom Verfasser schon auf
einer der ersten Seiten dargelegt was man unter 'Perestroika' zu verstehen hat. Auch nach
ihm handelt es sich um eine dringliche Notwendigkeit, die aus 'tief einschneidenden
EntwicklungsProzeßen in einer für Änderungen reife Gesellschaft hervorgehen'. Er fügt
hinzu, daß es das Bedürfnis an diesen Änderungen 'schon sehr lange gibt'.
Das Bedürfnis von dem Gorbatschow spricht wurde vor einem Vierteljahrhundert etwa schon
gespürt von Alexej Kosygin, der damals - nach dem Sturz von Nikita Chrustschow - der
zweite Mann in Rußland war. Auch Kosygin, eng befreundet mit Mikojan und wie dieser ein
typischer Manager, war danach bestrebt Reformen durchzuführen. Diese gingen darauf hinaus
seine Klasse mehr Bewegungsfreiheit zu besorgen. Kosygin erkannte eine Wirtschaftskrise
und wollte dem Managertum mehr Unabhängigkeit auf Kosten der zentralen Planung gewähren
um ihr die Stirn zu bieten (3).
Die Übereinstimmung seiner Ideen mit jenen, die im Buche von Gorbatschow entwickelt
werden ist auffallend. Dort ist von 'wirtschaftlichen Mißerfolgen ', 'Stagnation',
'rückgängigen wirtschaftlichen Wachstum' und derartigen Erscheinungen die Rede;, welche
zu der 'einzig möglichen Schlußfolgerung' führten, 'nämlich daß das Land sich am
Rande einer Krise befand'. Die Reform, welche Stagnation und drohende Krise verhüten
soll, basiert, schreibt Gorbatschow, 'auf eine eingreifende Vergrößerung der
Unabhängigkeit der Betriebe, auf ihre Übergang auf vollkommene Selbständigkeit
hinsichtlich finanzielle Verantwortung und Finanzierung'. Er verheimlicht nicht, daß dies
Hand in Hand mit weniger zentralen Planung gehen wird.
Daß die Auffassungen Kosygins und jene von Gorbatschow weitgehend mit einander
übereinstimmen ist ein klarer Hinweis dafür, daß sie nicht in ihren jeweiligen Köpfen,
sondern in der russischen Gesellschaft entstanden sind, das heißt: in verschiedenen
Köpfen zu gleicher Zeit. Was Perestroika anbetrifft kann das schwer verneint werden. Als
1986 ein russischer Parteikongress stattfand, da wurden von Gorbatschow keine
wirtschaftlichen Reformen angekündigt. Kaum war der Kongreß zu Ende, da erklärte Abel
Aganbegjan, ein bekannter Volkswirtschaftler, Mitarbeiter des Novosibirsker
Wirtschaftsinstituts der Sowjetakademie der Wissenschaften und dazu auch noch
Wirtschaftsberater des Krenis: dasjenige was Gorbatschow als Wirtschaftspolitik
vorschwebte, stimme keineswegs überein mit des was erforderlich sei.
Was man brauche, sei eine 'durchgreifende Reform', so erörterte er. Andere
Volkswirtschaftler, Mitarbeiter von Aganbegjan, hatten mittlerweile sowohl schriftlich als
mündlich, fortschrittliche Ideen entwickelt und sich kritisch über die in Rußland
bestehende Wirtschaftsstruktur geäußert. Besonders radikal waren ihre Ideen übrigens
noch nicht. Bald aber gingen andere Wirtschaftler - wie Otto Latsis in der Zeitung
Moskovskije Novosti und Sjmeljow in der Monatschrift Novyj Mir - ein betrachtliches Stück
weiter. Sie befürworteten weniger Planwirtschaft und mehr Marktwirtschaft, die
Beseitigung verlustbringender Betrieben, Konkurrenz - sowohl russischer Firmen
untereinanders als von jenen mit ausländischen - Barikenreform und eine Menge andsrer
einschneidenden Änderungen. Sie bilden bis jetzt (noch) nicht alle, aber doch schon in
ausgiebigem Maße einen Teil von dem was heute Perestroika genannt wird.
Perestroika ist bestimmt nicht fix und fertig von Gorbatschow präsentiert worden.
Perestroika hat erst nach und nach Form gekriegt und vieles deutet darauf, daß
Gorbatschow manchmal vielmehr derjenige war, der 'geschoben' wurde als derjenige, der
'schob'. Das gleiche trifft zu für Glasnost, die 'Offenheit', die 'Änderung im Denken'
und im politischen Klima. Gorbatschow, der in seinen frühen Jahren ein liniengetreuer
Stalinist war, ist nur zögernd den Weg nach Glasnost gegangen. Im Jahre 1986 noch
erklärte er in einer Veranstaltung mit russischen Schriftstellern, daß bei der
Beurteilung der Stalinzeit die größte Zurückhaltung und die größte Vorsicht das Gebot
seien. Ein Jahr später, am 10. Juli 1987, sprach er jene Worte, die man in seinem Buch
'Perestroika' zurückfinden kann: "Wir müssen niemals verzeihen oder beschönigen
was in 1937 und 1938 geschehen ist. Niemals! Jene, die damals an die Macht waren, sind die
Schuldigen". Das aber verkündete er, nachdem er, früher im Jahre, einen kräftigen
Rückenstoß bekommen hatte.
Am 13. März 1987 veröffentlichte die Prawda einen Artikel von einem gewissen Georgi
Smimov, einer von Gorbatschows Beratern, Smimov setzte darin auseinander, daß Chrustschow
nach dem berühmten 20. Parteikongress versuchte einen Anfang zu machen mit
Dezentralisation und Demokratisierung, damit der wirtschaftlichen Stagnation zu Ende
kommen könne. Es handelte sich, nach Smimov, um eine Politik welche gleichsam von der
gesellschaftlichen Wirklichkeit wurde vorgeschrieben. Die Gegner Chrustschows jedoch
verhinderten sie und stürzten ihn. Die Tendenz des Artikels war ganz klar: man sollte
zurückkehren zu dem wozu der 20. Parteikongress und die dort an Stalin verübte Kritik
den Ansatz hatte gebildet (4).
Smimov lieferte mehr oder weniger die theoretische Grundlage für den Prozeß von
Perestroika. Wie jede Theorie war auch die seinige weniger ein Programm als eine
Abspiegelung einer sich anzeigende wirkliche Entwicklung, Was inroer die politischen
Folgen dieser Entwicklung sein möchten, in erster Instanz war es eine wirtschaftliche
Entwicklung bei der unverkennbar um größere Produktivität ging. In sein Buch behauptet
Gorbatschow, "Offenheit' und eine 'neue Denkart' seien die Voraussetzungen für den
Erfolg von Perestroika, Wir sehen den tatsächlich unlöslichen Zusammenhang anders. Nicht
infolge einer neuen Denkart hat man die Notwendigkeit wirtschaftlicher Reformen verstanden
sonder aus ihrer Notwendigkeit ging eine neue Denkweise hervor. Diese Denkweise war ihre
Begleiterscheinung.
Vor kurzem hat irgendwo eine Tageszeitung bemerkt, daß es schwer zu erklären ist, daß
ein aus einer großen Zahl von entschiedenen Gegnern von Perestroika zusammengesetztes
Kommite eben Gorbatschow zum Generalsekretär der Partei gewählt wurde. Diese
Schwierigkeit aber gibt es nur dann, wenn man Glasnost und Perestroika als die
persönliche Idee von Gorbatschow betrachtet, eine Idee welche er Eingang finden und gegen
Kritik und Obstruktion verteidigen müßte. Es ist richtig, daß die von Gorbatschow in
sein Buch 'Perestroika' gegebene Vorstellung und die Weise, in der diese Schrift verfaßt
worden ist, daß deren Ton und Sprache also, diesen Eindruck hervorrufen. Dieser Eindruck
aber ist falsch! Das zeigt sich unter anderem hierdurch, daß die von Stalin befohlene, so
viele Opfer fordernde Kollektivierung der Landwirtschaft, an die im April 1987 in der
Literaturnaja Gazeta scharfe Kritik verübt wurde (5), nur ein wenig früher von
Gorbatschow gepriesen und 'einen Erfolg der Partei und des Staates' genannt war,
Was die sogenannte 'Idee' Gorbatschows wäre, ergibt sich als eine Auffassung die von
anderen früher und genauer formuliert worden ist, eine Auffassung also die durchaus nicht
als eine nur von ihm vertretene betrachtet werden kann. Dazu ist es eine Ansicht welche er
sich nur mühsam erworben hat. Neu, wie er selber vorgibt, ist diese 'Idee' schon
ebensowenig. Damals, gemeint sind Kosygins Zeiten, wurden dieselben Ansichten welche
heutzutage von Wirtschaftlern wie Aganbegjan und Sjmeljov entwickelt werden in Rußland
schon von Prof. Liberman vorgebracht. Dann sind sie in der Tschechoslowakei von Prof. Ota
Sik verteidigt worden.
In sein Buch hat Gorbatschow Perestroika eine 'Revolution' genannt. Jedoch die Reformen,
die sich in Rußland als notwendig und unumgänglich zeigen können bestimmt nicht mit
diesem Wort charakterisiert werden, denn sie lassen die herrschenden
Produktionsverhältnisse unverletzt. Sie heben nicht die Lohnarbeit auf, auf welche im
russischen Staatskapitalismus genauso wie im Kapitalismus der westlichen Welt die
Produktion basiert. Deshalb zerstören sie ebensowenig die organisierte Beherrschung der
Lohnarbeiter. Was Perestroika berührt ist das System der zentralen Planung, das System
infolge dessen Produktion und Distribution von einer Zahl in Moskau nieder gelassene
Ministerien und Büros festgestellt und reguliert werden. Das bedeutet, daß die
Wirtschaft nicht länger oder jedenfalls viel weniger als vorher mit Feder und Papier und
anhand von reellen oder kaum reellen Statistiken reguliert werden soll, sondern daß
ökonomische Kategorien wie Profit und Verlust, Nachfrage und Angebot, somit
Produktivität eine wichtige Rolle spielen werden.
Gorbatschow läßt außer Zweifel daß es sich hierum handelt, "Das Wesentliche von
dem was wir uns vorstellen", schreibt er,... "ist die Ablösung überwiegend
administrativer Methoden durch überwiegend wirtschaftliche Methoden. "
Was dahinter steckt? In einer auf Lohnarbeit basierende Gesellschaft wird das
gesellschaftliche Leben wie von einer unsichtbaren Hand geführt und von wirtschaftlichen
Kategorien wie der Wert der Arbeitskraft und der Mehrwert beherrscht. Innerhalb so einer
Gesellschaft herrscht gleichwohl das Gesetz der Kapitalakkumulation, eine Akkumulation
deren Größe pro Unternehmen, das heißt den Umfang der Investierungen, nicht
administrativ bestimmt werden kann, sondern abhangt von den Betriebsergebnissen, mit
anderen Worten von der Menge des produzierten Mehrwerts, Lenin hat jemals aufgeseufzt,
daß 'die Maschine aus den Händen rutsche, nicht dorthin ginge, wohin jener, der sich am
Lenkrad befinde, steuere'. Gorbatschow, wenn er daran ist, beklagt sich in seinem Buch
darüber, daß 'die Gesellschaft immer unlenkbarer wird'. Wahrend eines langen
historischen Zeitabschnitt - die Periode welche man als jene der ursprünglichen
Akkumulation oder die beginnende Industrialisierung deuten könnte - war zentrale Planung
und die damit verbunden Macht der Parteibürokratie unumgänglich. Mittlerweile ist schon
längst den Punkt erreicht an dem die zentrale Planung die wirtschaftliche Entwicklung
stört.
Die Aufhebung dieser Störung ist Perestroika und Gorbatschow sagt unumwunden daß dadurch
der Einfluß der Bürokratie vermindern und - das aber wird mit dem Mantel der Liebe
zugedeckt - jene der Manager wachsen wird. Er nennt das 'Demokratisierung' . Das ist eine
Fahne die verschiedene Ladungen decken kann. In diesem Fall ist scheinbar ein politisches
Ideal darin verpackt, in Wirklichkeit verbirgt sich dahinter eine unumgängliche
Konsequenz der kapitalistischen Produktion.
Selbstverständlich werden die in Rußland herrschenden Produktionsverhältnisse von
Gorbatschow nicht als Kapitalismus charakterisiert. Er spricht fortwährend von '
Sozialismus ' und bedient sich von Worten wie ' sozialistischer Markt ', ' sozialistischer
Wettbewerb' und 'sozialistischer Aufbau'. Aber der Markt hört natürlich nicht damit auf
Markt zu sein daß man ihm ein anderes Zettel aufklebt. Und die Lohnsklaverei bleibt
Lohnsklaverei, genau so wie Mehrwertproduktion immer Mehrwertproduktion bleibt, mit noch
so vielen Phrasen man das auch zu entkräften versucht.
Gorbatschow haben wir eben gesagte deckt mit dem Mantel der Liebe jene Tatsache zu, daß
eine wachsende Macht der Manager die regelrechte Folge von Perestroika sein wird. Er tut
mehr. Als Sprachrohr der Managerklasse versucht er den Eindruck zu erzeugen, daß
Perestroika etwas anderes vorstellt als wirklich der Fall ist. Er tut das unter ändern
auf jene Seiten seines Buches wo er an ihm gerichtete Briefe zitiert.
Ein gewisser V. A. Brikovskis - ob das ein Arbeiter ist oder nicht bleibt unerwähnt -
schreibt:
".... Zum ersten Mal in vielen Jahren zeigen die Leute der Parteiführung und der
Regierung ein menschliches Antlitz.... Was die Menschen über Ihre Politik? Ich will Sie
nicht zum Narren haben... Ich werde nicht von der bevorrechtete Klasse der Gesellschaft
reden. Da ist alles klar, Viele mochten das Leben was sie jetzt führen weiterführen,,.
Ich will reden von den Proletariern, von den Menschen für welche Perestroika in Gange
gebracht worden ist. Leider verstehen sie Ire Politik noch nicht ganz und mißtrauen sie
die immer noch.... Das Gehirn taut nicht so leicht..."
Die Absicht ist klar. Es kommt namentlich auf den einen Satz an, in dem behauptet wird,
Perestroika sei für die Proletarier in Gange gesetzt worden. Daß in diesem Brief ohne
Zurückhaltung gesagt wird, es gibt in Rußland Proletarier sowie eine herrschende Klasse
wird von Gorbatschow mit im Kauf genommen. Und warum nicht? Aus Erfahrung weiß er, wenn
man nur immer wiederholt daß es in Rußland 'Sozialismus' gäbe, da werden vielen die
Existenz einer herrschenden Klasse, die Existenz von Proletariern, ja sogar die Existenz
von Ausbeutung und Unterdrückung ohne weiteres hinnehmen.
Gehirne die tauen sollen? Nicht jene der russischen Arbeiter so sieht es aus. Daran
mangelt nichts. Sie lassen sich von Gorbatschow nicht hinters Licht führen und bringen
Perestroika immer noch nicht allzuviel Vertrauen hingegen. Was die nicht naher angedeutete
Stellung des angeführten Briefsdhreibers betrifft; wir haben den festen Eindruck, er
gehört nicht der Arbeiterklasse an,
(1) Anna Sandor, geboren 1944, heiratete einen Holländer. Sie verweilt seit 1974 in den
Niederlande. Sie ist Mitarbeiterin verschiedener Zeitungen und verfasste eine Reihe von
Artikeln über die wirtschaftlichen Reformen in Ungarn die später gesammelt wurden unter
dem Titel 'Der ungarische Durchbruch'. 1988 erschien ihr Buch 'Gorbatschow der Manager'.
(2) Prof. Louis Menashe in der amerikanischen Zeitschrift Democratic Left von nov./dec.
1987.
(3) Daß es damals mit einer Verwirklichung von Kosygins Reformpläne nichts geworden ist,
ist darauf zurückzuführen daß zu jener Zeit die Macht der neuen Klasse noch nicht groß
genug war um sie durchzusetzen. Es gab - wie zwanzig Jahre später in China - ein
unaufhörlicher Kampf zwischen Manager und Bürokraten. Dabei schien mitunter die eine
Gruppe , dann die andere zu siegen und manchmal hielten sie einander ins Gleichgewicht. So
ein vorübergehendes Gleichgewicht führte dazu daß auf dem 24. russischen Parteikongress
ein doppelgeschlechtiges Kompro-miß vorgeschlagen wurde das selbstverständlich keine
Lösung war und nur zur Folge hatte daß die Notwendigkeit von Reformen sich später viel
kräftiger aufdrängte und das an einem Zeitpunkt an dem das Ma-nagertum betrachtlich
stärker war und demgemäß handelte.
(4) Wir geben den Inhalt von Smimovs Artikel wieder anhand einer Betrachtung von Dev
Murarka in der amerikanischen Wochenzeitung The Nation vom 24. Oktober 1987. Murarka war
lange Zeit in Moskau als Journalist tätig. Er ist der Verfasser eines Buches unter dem
Titel 'Gorbachov:
The Limits of Power '. Sein Aufsatz in der amerikanischen Vfochenzei-tung enthält viele
wortlichen Zitate aus Smimovs Verhandlung,
(5) Die Kritik von der wir reden stammt von Viadünir Tikhonov, einem Agrarspezialisten.
Tikhonovs Ansichten sind ausführlich von Dev Murarka am 24. Oktober '87 in The Nation
wiedergegeben worden.
2.
MICHAEL GORBATSCHOWS Buch 'Perestroika' gleicht einem Trompetenschall. Es ist eine
Propagandaschrift, die mitreißen und überzeugen will, ein Text, der als Waffe in einem
Krieg gegen die russische Parteibürokratie fungiert. Der lebendige Stil, die
eindringliche Art der Beweisführung, sie sollen die Stimmung heben jener Truppen die in
die Schlacht zogen, sich zum Kampf anschicken oder immer noch zögern sich daran zu
beteiligen. Und wie immer bei solchen Schriften, die numerische Stärke der eigenen
Truppen wird möglichst günstig vorgestellt, der Gegner wird als schwach und als faktisch
schon besiegt geschildert. Zudem wird ein verbales Feuerwerk abgebrannt in der
unverkennbaren Absicht möglichst viel Begeisterung wachzurufen in den weitesten
Bevölkerungskreisen.
Wer bei Gorbatschow liest, daß die russischen Arbeiter 'anfingen sich von ihrer
verfassungsgemäßen Recht auf direkte Beteiligung an den Staatsangelegenheit zu
entfremden', wer da liest, daß in Rußland die Macht 'für die Arbeiter' anstatt 'durch
die Arbeiter' verwendet wurde, wer vernimmt, daß er es für notwendig hält 'die Sowjets
als Organe der politischen Macht zu rehabilitieren' und dann weiter noch liest, daß das
Volk die Produktion führen soll ', der könnte vielleicht schlußfolgern, daß wir ein
wenig zu eilig waren als wir im ersten Abschnitt dieser Analyse Perestroika 'bestimmt
keine Revolution' nannten. Und wer bei der Lektüre richtig bemerkt hat daß Gorbatschow -
der Unverbindlichkeiten dieser Art freigebig herumstreut - immer wieder auf Lenin
verweist, der könnte den Eindruck bekennen, es handelte sich beim Verfasser um jenen
Lenin, der einmal die Losung "Alle Macht den Räten" anhob. Aber dieser Eindruck
ist falsch und wir brauchen unser Urteil über Perestroika nicht zu widerrufen.
Überall dort wo Gorbatschow von den Sowjets und von deren künftigen Rolle oder Punktion
infolge Perestroika redet. Wird entweder sein Text verschwommen oder er nimmt es nicht so
genau mit der historischen Wahrheit. "Es fehlt Gorbatschow", hat einer von
seinen Kritikern bemerkt, "an historisches Gefühl. Seine historischen Analysen sind
geradezu primitiv im Vergleich mit jenen Stellen die von seiner ökonomischen Kenntnis
zeugen" (l) . Weil aber Gorbatschow kaum, oder besser gesagt durchaus keine
historische Analysen macht, aus diesem Grunde auch keine 'primitive' Was sein 'Gefühl'
betrifft: daß er den Unterschied zwischen ein Märchen und die Wirklichkeit nicht weiß,
wagen wir nicht zu behaupten, Daß er aber trotzdem Märchen erzählt ist eine Tatsache.
Obwohl gerade er derjenige ist, der veranstaltet hat, man müsse endlich mal mehr Licht
leuchten lassen auf die jüngste Vergangenheit und daß die weißen Stellen in Rußlands
jüngster Geschichte zu entfernen seien, läßt Gorbatschow, kaum streift er die
Geschichte oder zieht er historische Vergleiche, möglichst viele Sachen im Dunkeln.
Was Gorbatschow entweder direkt oder indirekt behauptet, daß es mit den Sowjets
allmählich schief gegangen ist, daß sie 'in irgend einer Weise' - welche das läßt er
durchaus dahingestellt sein - 'in den Hintergrund gedrungen sein' und daß 'ein
Verwaltungssystem, das auf administrative Anordnungen und Befehlen fußt, entstanden' sei.
Wer nimmt hier nicht unwillkürlich die Hand des Diktators Stalin war, den Stalin der
Lenins Werk rückgängig macht? Tatsächlich, das wird suggeriert, obwohl Gorbatschow sich
immer noch sehr sorgfältig dafür hütet Stalin mit Namen zu nennen. Was aber suggeriert
wird, stimmt in keiner Hinsicht.
Die Revolution von 1917 - Lenin wußte es und hat es unumwunden erklärt - war eine
bürgerliche Revolution, die aber im Gegensatz zu den bürgerlichen Revolutionen in
Westeuropa der Schwache der russischen Bourgeoisie wegen durch die arbeiter durchgeführt
werden mußte (2).
Die gesellschaftlichen Verhältnisse die aus dieser Umwälzung hervorgingen und die
Sowjets paßten nicht zu einander, egal ob es sich um wirkliche Arbeiterräte handelte wie
die Fabrikkommitees es fast immer waren, oder um sogenannte Räte, die nicht aus
Arbeitern, sondern aus intellektuellen Vertretern von 'linken' oder weniger 'linken'
Parteien zusammengesetzt waren. Ein Parlament nach westlichem Muster - wie die kurzweilige
Konstituante - paßte dazu ebensowenig. Daher handelten die Bolschewiki nach 1917 sowohl
mit der Konstituante als mit den Sowjets ganz anders als man auf Grund dessen was Lenin je
über die Konstituante und die Sowjets schrieb hätte erwarten können.
Was aber genau zu den neuen gesellschaftlichen Verhältnissen paßte war die Macht der
Partei, welche 'Diktatur des Proletariats' genannt wurde, aber Diktatur über das
Proletariat war. Und zu dieser Partei paßte ein Staatsapparat, das wiederum als 'Apparat
des proletarischen Staates' definiert wurde, jedoch das Apparat des alten Staates war (3).
Wie dem auch sei, Gorbatschow verschweigt, daß die Sowjets spätestens nach Januar 1818,
das heißt zwei Monate nachdem die Bolschewiki ans Ruder kamen, keine reelle Bedeutung
mehr gehabt haben (4). Jeder Macht beraupt wurden und blieben sie seitdem reine Ornamente.
Nicht in den Sowjets, welche weniger als je den echten Arbeiterräten ähnlich waren und
sind - wurden und werden in Rußland die Entscheidungen gefasst und weder die Situation zu
Lenins Zeiten noch die unter seinen Nachfolgern rechtfertigt es von Sowjetrußland oder
von der Sowjetunion zu reden.
Der Grund weshalb Gorbatschow, wenn er von den Sowjets redet so wenig konkret und so wenig
genau ist, ist schnell aufzudecken. Wenn er schon behauptet, er mochte sie 'als Organe der
politischen Macht rehabilitieren', da meint er doch bestimmt nicht, daß er sie zu
wirkliche Räte umändern will. Deshalb erwähnt er mit keinem Wort der lebensgroße
Unterschied zwischen den Fabrikkomitees (und
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sogar den anders zusammengesetzten Sowjets) von 1917 einerseits und andrerseits dem
bloßen Schatten der davon übriggeblieben war nachdem die Bolschewiki angefangen hatten
die russische Revolution 'in gut geordnete Bahnen" zu führen. Hätte er auf diesen
Unterschied hingewiesen, so wäre er gezwungen gewesen genau und ohne Umwege oder Fransen
darzulegen ob er nun die Sowjets wohl oder nicht ihre ursprüngliche Form (und
Machtposition) wiedergeben mächte. Indem er verschwammen blieb konnte er Illusionen
wachrufen. Solche zum Beispiel wie der Brief Schreiber hegte den wir im ersten Abschnitt
ans Wort kommen ließen.
Gorbatschow, Vertreter und Sprachrohr der neuen in Rußland emporgestiegenen und inner
einflußreicheren Managerklasse, will bestimmt nicht den Sowjets jene Stellung wiedergeben
welche sie dereinst am Vorabend der Oktoberrevolution und während deren ersten Wochen
innehatten (5). Er spricht über 'die Ausdehnung der Rechte und der wirtschaftlichen
Autonomie von Unterhemen, sagt aber nicht daß er den in diesen Unternehmen tätigen
Arbeitern Rechte oder irgend eine Möglichkeit zu selbständigen Entscheidungen gewähren
will. Er äußert sich zwar kritisch über ' die Ablosung der Sowjets durch Einrichtungen
der Partei ', aber er setzt dabei das Wort 'Ablösung' zwischen Anführungszeichen und
gibt damit zu verstehen, daß die Sowjets nie ganz und gar verschwanden. Aus dem ganzen
Kontext geht überdies hervor, daß er mit dieser 'Ablösung' nicht auf das was 1918
geschah hinzielt. Wenn Gorbatschow an gewisser Stell nachdrücklich erklärt;
"Selbstverständlich werden wir die Sowjetmacht nicht ändern ', so bezieht sich das
auf die existierende 'Sowjetmacht', die keine ist.
Die Bestätigung von alledem findet man auf jenen Seiten seines Buches wo er ohne
Zurückhaltung erklärt, daß 'die Partei ihre Aufgabe erfüllen muß', sei es denn daß
er dabei an eine etwas andere Partei als die heutige denkt. Die Reform, die mit dem Wort
Perestroika angedeutet wird ist tatsächlich eine Reform (keine Umwälzung) des jetzt in
Rußland bestehenden Wirtschaftssystem, Dementsprechend ist sie auch eine Reform der
Partei, welche in der Vergangenheit auch schon verschiedene Male reformiert worden ist.
Wenn Gorbatschow ' Glasnost ', Offenheit, Diskussion und Kritik befürwortet, da meint er
'Demokratie für die Manager', eine 'Demokratie' also, die genau so wie die bürgerliche
Demokratie im Westen eine Demokratie von und für die herrschende Klasse ist.
Was diese 'Demokratie', die alles andere als eine Arbeiterdemokratie ist, für die
russischen Arbeiter bedeuten könnte, das wird im Buch Perestroika nur vereinzelt und auch
dann nur beiläufig angedeutet. Es geschieht dort wo Gorbatschow darauf hinweist daß
Perestroika nicht zuletzt deshalb Gebot der Stunde ist weil die wirtschaftliche Lage
bessere Arbeitsdißiplin und größere Produktivität verlangt. Aber er redet und schreibt
darüber abermals in verhüllenden Worten. Es wird jedoch wohl kaum einen russischen
Arbeiter geben der nicht versteht daß dies auf tüchtiger arbeiten und zwar höchstens
für denselben Lohn herauskommt weil ja Perestroika obendrein die Konkurrenzlage der
russischen Betriebe zu verbessern versucht.
Gorbatschows Wirtschaftsberater haben nicht gezögert um - als Bestandteil der Reformen -
auch die Annahme eines gewissen Maß an Arbeitslosigkeit zu befürworten. In ihren
Darlegungen bildete das eine logische Konsequenz von Perestroika. Aber Gorbatschow, dem
die Aufgabe anvertraut wurde Perestroika zu 'verkaufen' hat sich natürlich beeilt, sich
von derartigen Konsequenzen zu distanzieren. Trotzdem machen diese Sachen es nur zu
Begreiflich daß Begeisterung der Arbeiter für Perestroika wohl weniger groß als
Gorbatschow es in seinem Buch glauben machen will.
Aber, wenn die russischen Arbeiter keine helle Begeisterung aufweisen und die
Parteibürokraten, weil Perestroika ihre Macht zugunsten der Manager verringern wird ,
sich rundheraus feindselig benehmen, welche Chance hat denn Perestroika? Deutet die
Tatsache daß Gorbatschow 1987 gezwungen war einen von seinen ergebensten Anhängern zu
entlassen nicht darauf hin daß seine Position besonders ungewiß ist? Wir zielen hier
natürlich auf den Sturz von Boris Jeltsin, der in der Moskauer Parteiorganisation
gipfelte und nicht davor zurückschreckte noch viel radikalere Reformen zu verteidigen als
Gorbatschow, der sich immer als gewandter Diplomat und tüchtiger Public Relationsmann
benimmt (6).
Nach unserer Meinung ist Perestroika, trotz des begreiflicherweise starken und mitunter
geheimen Widerstand oder Sabotage der Bürokraten nicht gefährdet. Der Ökonom Aganbegjan
hat, obwohl die großen Änderungen im russischen Wirtschaftssystem noch stattfinden
müssen, trotzdem den Entwicklungsprozeß von Perestroika unentrinnbar und unumkehrbar
genannt. Jene Änderungen die Mittlerweile schon Tatsache sind, verhindern nach ihm eine
Rückkehr zum vorhergehenden System. "Wir haben keine Wahl", so hat er
hinzugefügt. Sein Kollege Sjmeljov teilt diese Meinung. "Ohne Perestroika", so
hat dieser sich geäussert, "werden wir an der Seitenlinie der Geschichte enden und
zu einem unterentwickelten Lande herabsinken". Mit anderen Worten aber mit demselben
Nachdruck hat Gorbatschow auf die Notwendigkeit der Reformen hingewiesen. "Stillstand
können wir nicht länger ertragen", schreibt er in seinem Buch. Damit hat er
tatsächlich das Geheimnis von Perestroika preisgegeben. Es sind die Bewegungsgesetze des
kapitalistischen Wirtschaftsleben welche die Reformpläne hervorgerufen haben. Daß der
Prozeß nicht wieder rückgängig gemacht werden kann, das liest man auch bei ihm.
Perestroikas Unumkehrbarheit bedeutet jedoch nach unserer Meinung nicht, daß Gorbatschows
Gegner im Politbüro ihn nicht stürzen könnten oder daß die Reformen nicht zeitweilig
eingestellt werden könnten. So etwas ist in den sechziger Jahren auch geschehen. Da hat
man sehen können daß gesellschaftliche Entwicklungen, wie unvermeidlich auch, nicht
immer wie nach Noten gehen und manchmal sprungweise sich vollziehen. Auf die Dauer aber
ist der Sieg des Managertums über die Parteibürokratie gewiß. Ob dieser Sieg, der sich
im Laufe von mehr als zwanzig Jahre immer deutlicher angezeigt hat schon in kurzem
errungen werden wird kann kaum prophezeit werden. Aber kommen wird er, mit Gorbatschow
oder eventuell mit einem andern.
Gorbatschow richtet in seinem Buch auch ausführlich seine Aufmerksamkeit auf die Folgen
von Perestroika für die Beziehungen zwischen Rußland und die übrige Welt. Perestroika,
so seine Auffassung, führt zu einer friedlichen Außenpolitik, zu besseren Beziehungen
zwischen Moskau und Washington, zwischen Rußland und alle anderen Länder. Auf
politischer Ebene, so erklärt er, bedeutet Perestroika internationale Zusammenarbeit
statt Konfrontation.
Selbstverständlich trägt Gorbatschow in der zweiten Hälfte seines Buches seine
Fähigkeiten als Diplomat und politischer Propagandist zur Schau. Aber es wäre falsch ihn
deswegen nicht seriös zu nehmen. Man muß sich nämlich vergegenwärtigen, daß die
russische Managerklasse an Zusammenarbeit genau soviel Interesse hat als jede andere
Bourgeoisie. Handel treiben will sie und einer der Gründe weshalb sie Reformen anstrebt
ist, daß sie mit ihren Produkten will konkurrieren auf dem Weltmarkt. Nicht mit Panzern
oder mit SS-Raketen,- sondern mit billigen Waren will sie andere Länder bombardieren.
Dieser Wunsch datiert nicht von Gestern. Bolschewistische Manager haben ihn früher schon
gezeigt. Mikojan war damals, als die ungarische Revolution Ende Oktober 1956 ihr
Höhepunkt erreichte, zum Rückzug der russischen Truppen und zur Hinnähme von Ungarns
Austritt aus dem Warschaupakt bereit (7). Kosygin, ebenso ein typischer Manager, war
zwölf Jahre später Gegner einer russischen Intervention in die Tschechoslowakei.
"Perestroika", schreibt Gorbatschow, " wird die Welt lebbarer machen,,..
Friedlicher Wettbewerb zwischen den unterschiedlichen Systemen wird sich unbehindert
entwickeln können... die Menschen in allen Ländern werden wohlhabend und glücklich
leben können..." Es ist als hörte man die Freihändler und die liberalen Sprecher
der jungen britischen industriellen Bourgeoisie aus den Flitterwochen des Kapitalismus.
Wir meinen das nicht sarkastisch. Wir bemerken es nur um das Wesen von Perestroika
aufzuzeigen, um zu verzeichnen wen und was Gorbatschow vertritt und za-. demonstrieren
daß es eine klare Änlichkeit der einen Kapitalistenklasse mit der anderen gibt, wenn sie
auch nicht in jeder Hinsicht identisch sind,
(1) Peter Reddaway in der amerikanischen Zeitschrift The New Republic vom l. Februar 1988.
(2) Lenin, Gesammelte Werke, Bd. XI, I. Teil, S. 28-29.
(3) Vgl. Lenin, Protdkol des 4. Weltkcngress der III. Internationale, 1922. Ein Ausdruck
wie 'proletarischer Staat' ist ein typisch bolschewistischer Ausdruck der völlig
übergeht, daß die Arbeiter die Macht nur erobern können indem sie das Staatsapparat
zerschlagen und daß dort wo es ein Staatsapparat gibt die Arbeiter keine Macht ausüben.
(4) Am 3. Januar 1918 wurde ein Dekret erlassen wodurch die bisher durch die Räte
ausgeübte Macht dem Obersten Wirtschaftsrat zufiel. Es folgte am 27. Februar ein
Beschluß infolge dessen die Betriebsräte den vom Staat kontrolierten Gewerkschaften
untergeordnet wurden,
(5) Wir lassen hier außer Betracht daß viele Sowjets (nicht alle)
keine echte Arbeiterräte waren. Aber sogar diese - nicht den echten Räten gleichenden -
Sowjets waren noch keineswegs die Ornamente welche sie nur alzubald werden sollten. Aber
selbst diese Art von Sowjets wünscht Gorbatschow offenbar nicht.
(6) Die Leser sollen bedenken, daß der Artikel geschrieben wurde als die Rehabilitierung
Jeltsin noch nicht stattgefunden hatte,
(7) Vgl. Tibor Msray, 'Ihirfceen days that shook the Kremlin.
3.
Was wir bisher verdeutlicht haben ist, daß die 'Demokratisierung' von der Gorbatschow und
die seinigen fortwährend reden, alles weniger als eine Arbeiterdemokratie ist. Wir haben
das gefolgert aus der Art der heutigen Entwicklung der Sowjetgesellschaft und aus dem
Charakter den die jetzigen Reformen deshalb notwendigerweise haben müssen. Es wird kaum
einen russischen Arbeiter geben, so sagten wir, der nicht versteht daß Gorbatschows
Änderungen auf tüchtiger Arbeit für höchstens denselben Lohn hinausgehen. Weil dem so
ist, wird es für die sowjetischen Machthaber immer wichtiger scharf im Auge zu behalten
wie die Arbeiter exakt reagieren auf die durchgreifende Änderungen ihrer Lage. Denn bei
ihrem zähen Kampf gegen die bürokratischen Vertreter des alten Systems wäre bedeutsamer
Klassenkampf wohl gerade das letzte was Gorbatschows Anhänger brauchen könnten.
So konnte es Dezember '88 geschehen, daß eine der ersten Maßnamen der russischen
Behörden nachdem von Arbeiterunruhen im Autowerk von Jaroslavij die Rede war daraus
bestanden hat sich eines Soziologenteams Hilfe zu sichern. Was man herauszufinden
verlangte war, welche Rückwirkung die in Jaroslavij stattgefundene Demonstration auf die
Arbeiter in den übrigen Teilen des Landes hatte oder haben könnte.
Heute wissen wir, daß es bei dieser einen Demonstration nicht bleiben wird. Ganz
abgesehen von den massenhaften, nationalistisch gefärbten Streiks in Estland, Armenien
und Nagorni-Karabach hat es mittlerweile schon verschiedene Arbeitskonflikte gegeben
welche immer die Lage der Werktätigen betrafen. Je nachdem die Reform der
Sowjetwirtschaft Fortschritte macht werden diese Konflikte zunehmen an Zahl und Größe.
Eins der Paradepferde von Perestroika ist das neue Gesetz über die Staatsunternehmung.
Dieses Gesetz verfügt daß die Unternehmungen in Rußland mehr Autonomie bekennen können
und , wenn möglich, sich selbst erhalten können müssen. Dazu ist es selbstverständlich
ein Haupterfordernis, daß die Angestellten die äußerste Dißiplin wahrnehmen, denn ohne
diese ist es praktisch ausgeschlossen daß ein Betrieb ohne Verluste und Konkurrenzfähig
auf dem Sowjetmarkt oder sogar auf dem Weltmarkt vorgehen könnte. Ganz im Einklang mit
seinen 'Demokratisierungs'ideen hat Gorbatschows Regierung die Verbundenheit der
Angestellten der Staatsuntemehmungen mit der Produktion anregen wollen indem sie die
Arbeiter die Aussicht auf Gewinnanteile eröffnete und eine gewisse Form von Mitbestimmung
' in den Fabriken einführte. Das alles aber förderte eher die Betriebsergebnisse als die
sogenannte 'sozialistische Selbstverwaltung' die mit diesem Gesetz und anderen Gesetzen
ins Leben gerufen wäre. Im Fall Jaroslavij zeigte sich das besonders klar.
Denn was geschah nun eigentlich in Jaroslavij? (1). Einerseits hatte es eine umfassende
Propagandakampagne gegeben die dazu dienen sollte das Personal bei der Lösung
empfindlicher Probleme der Produktion zu beziehen. Zu gleicher Zeit aber hatte die
Betriebsführung in herkömmlicher Weise die von ihr aufgestellten Pläne ohne jede
Rücksprache durchgeführt. Dazu gehörte der Arbeitsplan fürs nächste Jahr. Die
Betriebsführung bestimmte einfach daß es 1988 fünfzehn Samstage geben würde an denen
gearbeitet werden mußte. Der Plan hatte, wie von alters her, die Zustimmung der
Gewerkschaft, die schon von vornherein eine große Zahl Samstage mit Arbeit einkalkuliert
hatte. Um den Schein von Perestroika und der Demokratisierung zu wahren ließ die
Betriebsführung der Form wegen den Plan in den Arbeiterkollektiven diskutieren. Darauf
sollte er von dem neuen Organ der sogenannten Betriebsselbstverwaltung, dem Rat dar
Arbeiterkollektiven, genehmigt werden,
Als nun den Plan der Betriebsführung diskutiert würde, da meinten die sechzig
Arbeiterkollektiven, es genüge, wenn nur an acht Samstagen gearbeitet werde. Dieser
Standpunkt wurde dem Rat der Arbeiterkollektiven übermittelt. Dieser Rat aber hat nicht
einen der Arbeiterkollektiven, sondern der Direktor des Betriebs zum Vorsitzenden. Auch
das gehört zu Perestroika, es sei denn daß es bei der Propaganda nicht erwähnt wird.
Die Folge war daß auch der Rat der Arbeiterkollektiven in Jaroslavij den Plänen der
Betriebsführung in Bezug auf fünfzehn Samstage an denen gearbeitet werden sollte,
zustimmen mußte. Diese Scheinmitbestimmung wirkte auf die Arbeiter der Autofabrik wie das
rote Tuch. Jedenfalls taten sie alles um zu verhindern daß die Betriebsführung nach
ihrem Willen tun konnte. Sie beharrten auf den Standpunkt der Assemblee der
Arbeiterkollektive: acht Samstage genügen!
Um den Widerstand der Arbeiter zu brechen rief die Betriebsführung eine Versammlung von
Vertretern aus den Arbeiterkollektiven herbei. Diese sollten über den Antrag von
fünfzehn Samstagen abstimmen. Schon vor der Versammlung fing die Betriebsführung an auf
diese Vertreter Druck auszuüben. Die schließliche Folge war, daß die Abstimmung doch zu
Gunsten der Betriebsführung ausfiel. Für ihren Plan stimmte eine geringe Mehrheit mit
dem Vorbehalt es dürften im Jahre '89 nicht mehr als acht Samstage gearbeitet worden.
Eine Schlüsselstellung wurde bei alledem von dem 'offiziösen' Arbeiterführer Makarov
eingenommen. Ungeachtet der Wut der Arbeiter gelang es ihm ihren Widerstand in 'gut
geordnete Bahne' zu führen und einen öffentlichen Konflikt mit den Behörden zu
vermeiden. Damit erntete er das Lob von Zeitungen wie die Izvestija, welche sonst nicht
davor zurückschrecken vergleichbare 'Arbeiterführer' als Lump oder 'Hooligan' an die
Wand zu malen. Offenbar betrachten die Sowjetbehörden das Verhalten von Leuten wie
Makarov als eine Perspektive für die richtige Behandlung künftiger Arbeiteraktionen.
Daß diese sich ereignen werden ist ebenso sicher als daß Perestroika modernere, mehr auf
den Markt bezogene Produktionsverhältnisse in Rußland introduzieren wird. Die Soziologen
die das Zentralkomitee herangezogen hat haben an Hand Enqueten in 25 Betrieben
festgestellt, daß 69% der befragten Arbeiter Aktionen befürwortet von jener Art wie die
im Jaroslavijer Autowerk. Sogar 46% zeigte sich bereit seine Position 'bis zum bitteren
Ende' zu verteidigen (2).
In dieser Situation hat die offizielle Gewerkschaftsbewegung ihre Rolle gespielt. Sie
kritisierte nicht den Zweck der Wirtschaftsreform. Das wäre unter sowjetischen
Verhältnisse für ein öffentliches Institut auch völlig undankbar. Sie kritisierte auch
nicht sosehr das Benehmen der Betriebsführung in Jaroslavij. Durch ihren Vorsitzenden
wurde Demokratisierung angeregt und sie rügte den 'Machtmißbrauch' den von
Betriebsführungen in den Organen der 'Betriebsselbstverwaltung sollte verübt werden. In
dieser Weise, hieß es, würden die Räte zu reinen Beratungsorganen der Betriebsführung
herabgewürdigt.
Es fragt sich natürlich ob durch derartige Äußerungen die Gewerkschaften je erlöst
werden können aus der Lage in der sie sich seit Jahr und Tag in der Sowjet-Wirtschaft
befinden, nämlich die von fügsamen Dienern der Interessen von Betriebsverwaltungen und
Parteiführern. Offenbar will die gewerkschaftliche Zentrale sich kräftiger als die
Interessenvertreterin der Sowjetarbeiter profilieren. Auch das gehört zu Perestroika.
Denn eine Politik welche die Führung der 'sozialistischen Staatsunternehmen ' von der
bürokratischen Kontrolle durch den Gosplan befreit und sie mehr Bewegungsfreiheit
gewährt für eine finanziell gesunde Betriebsführung TOUß notwendigerweise größere
Gegensätze innerhalb der Unternehmungen selber hervorrufen. Solche Gegensätze können
nicht mehr beschwichtigt werden von einer Gewerkschaftsorganisation deren wichtigsten
Tätigkeit es ist Betriebsausflüge und Ferienkolonien fürs Personal zu organisieren.
Die sowjetischen Gewerkschaften können, kurz gesagt, Perestroika am besten dienen indem
sie sich 'streitbar' gebärden. Es ist aber zu bezweifeln ob sie so ihren schlechten Ruf,
veranlasst durch sechzig Jahre von Gefälligkeit den herrschen Mächten gegenüber,
loswerden können. Die Ära von Perestroika scheint vielmehr den offiziösen
'Arbeiterführern' zu gehören, wenn nicht jenen von Typ Makarov, denn doch jenen welchen
den Bnpörerem gleichen deren es so vielen in der russische Geschichte gegeben hat. Was
wird aus den Lautsprechern des demokratisierten Betriebsrundfunk erschallen: die
Internationale oder das Lied des Räuberhauptmanns Stenka Razin?
(1) Für die Schilderung der Ereignisse benutzten wir die bemerkenswert offenen Berichte
in den russischen Zeitungen Izvestija, Trud und Sowetskaja Rossija von Dezember '87 und
Januar '88 sowie deren Erläuterung im Research Bulletin von Radio Free Eu-rope vom 22.
Februar 1988,
(2) Izvestija vom 7. Januar 1988.
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