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KRONSTADT: von Cajo Brendel I. Die Deutung jener historischen Ereignisse, die vor mehr als fünfzig Jahren als "der Aufstand von Kronstadt 1921" in die Geschichte eingegangen sind (bzw. krampfhaft daraus entfernt wurden),ist aufs engste verknüpft mit der gesellschaftlichen Position des jeweiligen Interpreten oder anders gesagt: sie wird von seiner Stellungnahme zu den in der Gesellschaft tobenden Klassenkämpfen geprägt und bedingt. Wer die russische Revolution 1917 als eine sozialistische Umwälzung betrachtet, wer die, in den Jahren des Bürgerkrieges gefestigte bolschewistische Herrschaft für eine proletarische Macht hält, der muß notwendigerweise das, was damals in jener Inselfestung am finnischen Meerbusen vor sich ging, als einen konterrevolutionären Versuch zur Stürzung des jungen "Arbeiterstaates" auffassen. Wer umgekehrt gerade im Auftreten der Cronstädter einen revolutionären Akt erblickt, der gerät früher oder später zu ganz entgegengesetzten Ansichten über die russischen Entwicklungen und über die wirkliche Lage in Rußland. Das alles scheint selbstverständlich zu sein. Aber es kommt noch etwas mehr hinzu. Der Bolschewismus ist nicht bloß eine Wirtschafts- oder Staatsform, dessen Existenz damals - nicht nur in Kronstadt, sondern auch in Petrograd, in der Ukraine und in großen Teilen Südrußlands - auf des Messers Scheide stand, er bildet gleichzeitig eine in den russischen Revolutionskämpfen gereifte, auf die russischen Verhältnisse zugeschnittene Organisationsform. Nach dem bolschewistischen Oktobersieg wurde und wird sie von den verschiedensten politischen Seiten den Arbeitern aller Länder aufgedrängt. Als sich die Bevölkerung von Kronstadt gegen die Bolschewiki erhob, da hat sie nicht nur die bolschewistischen Machtansprüche entschieden zurückgewiesen, sondern auch die traditionellen bolschewistischen Parteiauffassungen und die Partei als solche in Frage gestellt. Hier liegt der Grund, weshalb jeder Meinungsstreit über organisatorische Probleme der Arbeiterklasse nur allzuoft die Diskussion über Kronstadt miteinbezieht und weshalb jede Diskussion über Kronstadt unausweichlich auch die Differenzen über die Taktik und Organisationsfragen des proletarischen Klassenkampfes offenlegt. Das heißt also: der Aufstand von Kronstadt hat auch nach mehr als einem halben Jahrhundert immer noch eine brennende Aktualität. Wie kolossal auch seine historische Bedeutung sein mag, sie wird weit überragt von seiner praktischen Bedeutung für die heutigen Arbeitergenerationen, für alle, die am proletarischen Kampf teilnehmen. Leo Trotzki war einer derjenigen, der diese Bedeutung nicht verstand. Als er 1938 seinen Aufsatz "Viel Lärm um Kronstadt" veröffentlichte (l),seufzte er: "Man könnte glauben, der Aufstand von Kronstadt hat nicht vor 17 Jahren, sondern gestern stattgefunden." Gerade um jene Zeit, als er diese Worte schrieb, unternahm Leo Trotzki tagaus, tagein jede erdenkliche Anstrengung, die stalinistische Geschichtsfälschung und die stalinistischen Legenden zu entlarven. Daß er dabei niemals die Grenze der leninistischen Revolutionslegende überschritt, ist eine Tatsache, die wir hier beiseite Lassen können. II. Der Aufstand von Kronstadt zerstörte einen sozialen Mythos: den Mythos, daß im bolschewistischen Staat die Macht in den fänden der Arbeiter liegt. Weil dieser Mythos unzertrennlich mit der ganzen bolschewistischen Ideologie verbunden war (und bis heute noch ist), weil in Kronstadt mit der Verwirklichung der echten Arbeiterdemokratie ein bescheidener Anfang gemacht wurde, deshalb bildete Kronstadt für die, sich an der Macht befindenden Bolschewiki eine tödliche Gefahr. Nicht die militärische Stärke Kronstadts - zum Zeitpunkt des Aufstandes durch den zugefrorenen Meerbusen ohnehin stark beeinträchtigt -, sondern die entmystifizierende Wirkung des Aufstandes bedrohte die bolschewistische Herrschaft, und das sogar stärker, als es je von Seiten der Interventionsarmeen Denikins, Koltschaks, Judenitschs oder Wrangeis hätte geschehen können. Aus diesem Grunde waren die bolschewistischen Führer von ihrem Standpunkt aus - oder besser gesagt: infolge ihrer gesellschaftlichen Position (die ihren Standpunkt natürlich bedingte) - einfach gezwungen, ohne Zaudern den Aufstand in Kronstadt niederzuschlagen. (2) Während die Aufständischen, wie Trotzki es ihnen angedroht hatte, "wie Fasane abgeknallt" wurden, wurde von der bolschewistischen Führung in ihrer Presse der Cronstädter Aufstand als Konterrevolution bezeichnet. Dieser Schwindel wird seit jenen Tagen von Trotzkisten und Stalinisten gleich eifrig verbreitet und hartnäckig aufrecht erhalten. Der Umstand, daß in bestimmten, sowohl menschewistischen als auch weißgardistischen Kreisen Kronstadt offene Sympathie entgegengebracht wurde, verfestigte die trotzkistische und stalinistische Version. (3) Eine dürftigere Begründung der offiziellen Legende ist wohl kaum möglich. Hat sich nicht Trotzki selbst in seiner "Geschichte der russischen Revolution" mit vollem Recht über die politischen Kenntnisse und über das gesellschaftliche Verständnis des reaktionären Cronstadtsympathisanten Professor Miljukow stark herablassend geäußert? Nur weil Miljukow und die ganze weißgardistische Presse mit Kronstadt sympathisierten, aus diesem Grunde soll der Aufstand von Kronstadt konterrevolutionär gewesen sein? Wie wäre, dieser Vorstellung entsprechend, die "Neue ökonomische Politik", die kurz nach Kronstadt in Rußland eingeführt wurde, zu beurteilen? Der Bourgeois Ustrialow gab ihr ganz offen seinen Segen! Aber das veranlaßte die Bolschewiki keineswegs dazu, die NEP als "konterrevolutionär" zu verschreien. Diese Tatsache ist ebenfalls symptomatisch für die ganze demagogische Art bei der Legendenbildung. Von letzterer möchten wir uns nunmehr abwenden. Sie ist natürlich von Interesse, schon wegen ihrer sozialen Funktion, die jedoch nur aus dem tatsächlichen Verlauf der Ereignisse, aus dem gesellschaftlichen Entwicklungsprozeß, aus dem sozialen Charakter der russischen Umwälzung heraus verstanden werden kann. III. Der Cronstädter Aufstand 1921 bildet den dramatischen Höhepunkt einer Revolution, die ihrem sozialen Inhalt nach kurzerhand als bürgerlich definiert werden muß. Er ist von dieser bürgerlichen Revolution der proletarische Ausläufer, genau so wie unter fast ähnlichen Umständen die Mai-Ereignisse in Katalonien 1937 den proletarischen Ausläufer der spanischen Revolution bilden oder wie im Jahre 1796 die Verschwörung von Babeuf eine proletarische Tendenz in der großen bürgerlichen französischen Revolution darstellt. (4) Daß sie alle drei mit einer Niederlage endeten, hat die gleichen Ursachen; es fehlten jedesmal die Bedingungen und Voraussetzungen für einen proletarischen Sieg. Das zaristische Rußland nahm am ersten Weltkrieg als ein zurückgebliebenes Land teil. Es hatte zwar aus militärisch-politischen Bedürfnissen eine Industrialisierung vorangetrieben und damit die allerersten Schritte auf kapitalistischem Wege zurückgelegt, aber das in diesem Zusammenhang entstandene Proletariat war zahlenmäßig klein im Verhältnis zu der ungeheuren Masse der russischen Bauern. Gewiß, das politische Klima des zaristischen Absolutismus hätte den kämpferischen Geist der russischen Arbeiter außerordentlich gesteigert. Das ermöglichte ihnen, der heranreifenden Revolution ein bestimmtes Gepräge zu geben, konnte aber ihren Verlauf nicht ausschlaggebend bestimmen. Trotz der Existenz der Putilowwerke-, der Erdölanlagen im Kaukasus, des Kohlenbergbaues im Donetzrevier und der Moskauer Textilfabriken bildete die Landwirtschaft die wesentliche wirtschaftliche Grundlage der russischen Gesellschaft. Zwar hatte es 1861 so eine Art Bauernbefreiung gegeben, aber trotzdem waren die Überreste der Leibeigenschaft bei weitem nicht verschwunden. Die Produktionsverhältnisse waren feudalistisch und entsprechend war der politische Oberbau; Adel und Klerus waren die herrschenden Klassen, die mit Hilfe der Armee, der Polizei und des Beamtentums ihre Macht in dem Riesenreich des Großgrundbesitzes ausübten. Demzufolge hatte die russische Revolution des 20. Jahrhunderts die wirtschaftliche Aufgabe, den Feudalismus mit seinen sämtlichen Begleiterscheinungen - wie die der Leibeigenschaft - aufzuheben. Sie sollte die Landwirtschaft industrialisieren und unter die Bedingungen der modernen Warenproduktion stellen, sie hatte alle feudalen Ketten der bestehenden Industrie zu lösen. Politisch hatte diese Revolution die Aufgabe, den staatlichen Absolutismus zu zerschlagen, die Bevormundung durch den Feudaladel aufzuheben und eine Regierungsform und eine Staatsmaschine zu entwickeln, die die Lösung der wirtschaftlichen Aufgaben der Revolution politisch garantierten. Es ist klar, daß diese wirtschaftlichen und politischen Aufgaben mit jenen übereinstimmten, die im Westen die Revolutionen des 17,, 18. und 19. Jahrhunderts zu erfüllen hatten. (5) Nur wurde die russische Revolution - wie später die chinesische - durch ihre besondere Eigentümlichkeit charakterisiert. In Westeuropa, vor allem in Frankreich, war die Bourgeoisie die Trägerin des gesellschaftlichen Fortschritts, die Vorkämpferin des Umsturzes gewesen. Im Osten war sie, aus dem schon erwähnten Grunde, schwach. Dazu waren ihre Interessen mit denen des Zarismus eng verbunden. Das heißt, die bürgerliche Revolution in Rußland mußte ohne die Bourgeoisie und sogar gegen sie vollzogen werden. IV. Lenin hat die Eigentümlichkeit der russischen Revolution sehr genau erkannt. "Die Marxisten", schrieb er, "sind vom bürgerlichen Charakter der russischen Revolution unbedingt überzeugt. Was bedeutet das? Das bedeutet, daß jene demokratischen Umgestaltungen der politischen Ordnung und jene sozialökonomischen Umgestaltungen, die für Rußland notwendig geworden sind, an und für sich nicht nur keine Untergrabung es Kapitalismus, keine Untergrabung der Herrschaft der Bourgeoisie bedeuten, sondern daß sie umgekehrt zum ersten mal gründlich den Boden für eine breite und rasche ... Entwicklung des Kapitalismus säubern ..." (6) Anderswo heißt es:" "Der Sieg der bürgerlichen Revolution bei uns ist unmöglich (als) Sieg der Bourgeoisie. Das scheint paradox zu sein, ist aber so. Die vorherrschende Bauernbevölkerung, ihre fürchterliche Unterdrückung vom halbfeudalen Großgrundbesitz, die Kraft und das Bewußtsein des schon in der sozialistischen Partei organisierten Proletariats, alle diese Umstände verleihen unserer bürgerlichen Revolution einen besonderen Charakter. Diese Besonderheit beseitigt nicht den bürgerlichen Charakter der Revolution." (7) Sine Bemerkung haben wir hier allerdings hinzuzufügen: die Partei, von der hier Lenin spricht, war weder sozialistisch, noch konnte man behaupten, daß das Proletariat in ihr organisiert wäre. Es stimmt natürlich, daß sie sich von den sozialdemokratischen Parteien des Westens, die vom Boden des bürgerlichen Parlamentarismus aus loyale Opposition betrieben und die Umwandlung der kapitalistischen in die sozialistische Gesellschaft mit allen Mitteln zu verhindern suchten, in mancherlei Hinsicht unterschied, aber nicht im sozialistischen Sinne. Die Partei Lenins strebte in Rußland nach einer revolutionären Veränderung der Verhältnisse, aber es handelte sich dabei um eine Revolution, die sich, wie Lenin ja selbst auch zugibt, in anderer Form im Westen längst vollzogen hatte. Diese Tatsache blieb für die russische Sozialdemokratie im allgemeinen und für die bolschewistische Partei im besonderen nicht ohne Einfluß. Lenin und die Bolschewiki waren der Auffassung, daß kraft der Klassen Verhältnisse in Rußland ihrer Partei die Rolle der Jakobiner zukomme. Nicht ohne Grund definierte Lenin den Sozialdemokraten als "einen mit den Massen verbundenen Jakobiner"; nicht ohne Grund schuf er seine Partei als ein Komitee von Berufsrevolutionären; nicht ohne Grund erblickte er in seiner Schrift "Was tun?" ihre Aufgabe in dem Kampf gegen die Spontaneität. Als Rosa Luxemburg zu Anfang dieses Jahrhunderts diese Auffassungen kritisierte, hatte sie recht, gleichzeitig jedoch auch unrecht. Recht hatte sie insofern, als die leninistische Verschwörerorganisation mit den natürlichen - d. h. aus dem, beim Kapitalverhältnis vorausgesetzten, Klassengegensatz emporwachsenden - Organisationsformen der kämpfenden Arbeiter nichts zu tun hatte. Was sie aber übersah - und damals wohl auch übersehen mußte - war, daß es einen solchen Kampf der Proletarier im modernen Sinne in Rußland entweder nur in sehr kleinem Ausmaß oder überhaupt nicht gab. In Rußland, wo die Aufhebung des Kapital Verhältnisses und der Lohnarbeit nicht auf der Tagesordnung stand, handelte es sich um einen anderen Kampf. Für diesen Kampf war gerade die bolschewistische Partei am meisten geeignet. Sie erfüllte ganz und gar die Bedürfnisse der Revolution, die ihr bevorstand. Daß die Organisationsform dieser Partei - der sogenannte demokratische Zentralismus - mit der Diktatur der Zentrale über die Masse ihrer Mitglieder enden würde (wie Rosa Luxemburg es vorhergesagt hatte), hat sich als durchaus richtig erwiesen und das gerade war in jener "bürgerlichen Revolution mit ihrem besonderen Charakter" erforderlich. V. Die bolschewistische Partei holte sich ihre geistigen Waffen beim Marxismus, der einzigen radikalen Theorie, bei der sie zur Zeit anknüpfen konnte. Dieser aber war der theoretische Ausdruck eines hochentwickelten Klassenkampfes, wie ihn Rußland nicht kannte und für den in Rußland auch das richtige Verständnis fehlte. So geschah es, daß das, was sich auf russischem Boden als "Marxismus" entwickelte, mit dem Marxismus nur den Namen gemein hatte, in Wirklichkeit aber dem jakobinischen Radikalismus eines Auguste Blanqui zum Beispiel viel näher stand als den Auffassungen von Marx und Engels. Mit diesem Blanqui hatte Lenin u. a. - wie auch Plechanow - jenen, den dialektischen Materialismus fernstehenden naturwissenschaftlichen Materialismus gemein, der in Frankreich, am Vorabend der großen, klassischen Revolution, die Hauptwaffe im Kampf gegen Adel und Religion gewesen war. In Rußland herrschten eben ähnliche Verhältnisse wie im vorbürgerlichen Frankreich. Der Marxismus, so wie Lenin ihn verstand - und verstehen mußte -, ermöglichte ihm einen tiefen Einblick in die wesentlichen Probleme der russischen Revolution. Derselbe Marxismus versah die russische bolschewistische Partei mit einem Begriffsapparat, der sowohl zu ihren Aufgaben als auch zu ihrer Praxis im krassesten Widerspruch stand. Das bedeutet, wie Preobraschenski 1925 auf einer Moskauer Gouvernementskonferenz öffentlich eingestand, daß der Marxismus in Rußland zu einer Ideologie geworden war. Selbstverständlich war die revolutionäre Praxis der russischen Arbeiterklasse - soweit es sie gab - mit der Praxis der, die Interessen der bürgerlichen russischen Revolution als ein üanzes vertretenden, bolschewistischen Partei durchaus nicht im Einklang. Als sich 1917 die russischen Arbeiter erhoben, gingen sie, entsprechend ihrer Klassennatur, weit über die Schranken der bürgerlichen Umwälzung hinaus; sie versuchten, ihr eigenes Los zu bestimmen und ihren eigenen Willen als Produzenten mit Hilfe ihrer Sowjets, ihrer Räte, durchzusetzen. Die Partei, die "immer recht" hat und der Arbeiterklasse den Weg zeigen soll, den diese selbst, wie die Führer behaupten, ohne die Partei nicht finden kann, hinkte hinterher. Sie war gezwungen, die Räte einstweilen ebenso anzuerkennen wie die Tatsache, daß eine breite Bauernschicht existierte. Weder das eine noch das andere entsprach ihrer Doktrin, die das Ergebnis sämtlicher revolutionärer Bedingungen war. Weder für die eine noch für die andere revolutionäre Praxis gab es in Rußland auf die Dauer die materiellen Voraussetzungen oder eine soziale Grundlage. VI. Was geschah, war folgendes: der Kapitalismus (kaum entwickelt) wurde nicht gestürzt; es blieb die Lohnarbeit, von der Marx bekanntlich gesagt hat, sie setze das Kapital voraus, wie umgekehrt seinerseits das Kapital die Lohnarbeit voraussetze. Nicht die russischen Arbeiter bekamen die Verfügung über die Produktionsmittel, sondern sie fiel der Partei (oder dem Staat) zu. Der russische Arbeiter blieb demzufolge Mehrwertproduzent. Daß der Mehrwert nicht einer Klasse von Privatkapitalisten zufloß, sondern dem Staate bzw. den den Staat bestimmenden Parteiinstanzen, bedeutete zwar, daß die wirtschaftliche Entwicklung Rußlands - infolge der Abwesenheit einer bürgerlichen Klasse - andere Wege ging als die im Westen, änderte aber nichts an der Position des russischen Arbeiters als Ausbeutungsobjekt oder Lohnsklave. Von einer Machtausübung durch die Arbeiterklasse kann keine Rede sein. Der zaristische Staat war zwar zerbrochen, aber an seine Stelle war nicht die Rätemacht getreten. Die von den Arbeitern Rußlands spontan gebildeten Räte wurden von der bolschewistischen Regierung so schnell wie möglich, d.h. bereits im Frühsommer 1918, entmachtet und zu völliger Bedeutungslosigkeit verurteilt. Die wirtschaftliche Grundlage des Landes bildete, anstelle der früheren Leibeigenschaft oder der Knechtschaft halbfeudaler Form, die ökonomische Sklaverei, von der Trotzki 1917 schrieb, sie sei "unvereinbar mit der politischen Herrschaft des Proletariats". Diese These war richtig, jedoch bedienten sich die Bolschewiki - nachdem sie zu Unrecht ihre Herrschaft als die der Arbeiterklasse ausgaben - der politischen Herrschaft, um angeblich die Unterdrückung der russischen Proletarier aufzuheben. Aber aufgrund des Fehlens einer wirklichen Arbeitermacht entwickelte sich die politische Herrschaft nicht in ein Befreiungs-, sondern in ein Unterdrückungsinstrument. Im bolschewistischen Rußland herrschte zwischen dem Ausbruch bar. Lenin seufzt: "Das Steuer entgleitet den Händen ... der Wagen fährt nicht ganz so, und häufig ganz und gar nicht so, wie derjenige, der am Steuer sitzt, sich einbildet." Eine russische Gewerkschaftszeitung berichtet, daß es 1921 477 Streiks gegeben hat mit insgesamt 184.000 Streikenden. Einige andere Zahlen: 1922 - 505 Streiks mit insgesamt 154.000 Streikenden; 1924 - 267 Streiks, davon 151 in Staatsbetrieben; 1925 - 199 Streiks, davon 99 in Staatsbetrieben. (9) Die Zahlen beweisen einen langsamen Rückgang der Aktivitäten. Die ganze Bewegung erreicht 1921, zur Zeit des Aufstandes von Kronstadt, ihren Höhepunkt. Am 24. Februar 1921 streiken die Petrograder Arbeiter. Sie fordern: Freiheit für alle Werktätigen; Aufhebung aller Sonderdekrete; freie Wahlen für die Sowjets. Es sind die gleichen Forderungen wie die, die nur wenige Tage später auch in Kronstadt erhoben werden. Eine allgemeine Unruhe hat das Land erfaßt. Um die Jahreswende 1920/21 ist das bolschewistische Rußland der Schauplatz einer tiefen Auseinandersetzung. Unmittelbar geht daraus die von zwei ehemaligen Metallarbeitern geführte "Arbeiter-Opposition" hervor. Sie verlangt die Ausschaltung der bolschewistischen Partei, Aufhebung der Parteidiktatur und ihre Ersetzung durch die Selbstregierung der produzierenden Hassen. Mit einem Wort: sie verlangt Rätedemokratie und Kommunismus! Die allgemeine russische Lage wurde wenig später in dem schon erwähnten Kronstadtdokument ebenso knapp wie treffend charakterisiert: "Durch eine gerissene Propaganda wurden die Söhne des werktätigen Volkes in die Reihen der Partei gezogen und dort an die Kette einer strengen Disziplin gelegt. Als sich die Kommunisten dann stark genug fühlten, schalteten sie zuerst Schritt für Schritt die Sozialisten anderer Richtungen aus, und schließlich stießen sie die Arbeiter und Bauern selbst vom Ruder des Staatsschiffes weg, fuhren aber gleichzeitig fort, das Land in deren Namen zu regieren." (10) Februar 1921 kommt es in Petrograd zum handfesten Protest. Durch die Vororte der Stadt ziehen proletarische Demonstrationszüge. Die Rote Armee erhält den Befehl, sie auseinanderzujagen. Die Soldaten weigern sich, auf die Arbeiter zu schießen. Die, Parole heißt: Generalstreik! Am 27. Februar ist er eine Tatsache. Am 28. Februar treffen zuverlässige, regierungstreue Truppen in Petrograd ein. Die Streikführung wird verhaftet; die Arbeiter werden in die Fabriken getrieben. Der Widerstand ist gebrochen. Aber noch am selben Tag erklären sich die Matrosen des Panzerschiffes "Petropawlowsk" auf der Reede von Kronstadt für freie Sowjetwahlen und für Presse- und Versammlungsfreiheit; für die Arbeiter, wohlbemerkt! Die Mannschaft des Panzerschiffes "Sewastopol" schließt sich ihnen an. Am nächsten Tag bekunden 16.000 Menschen auf dem Hafenplatz in Kronstadt ihre Solidarität mit den Petrograder Streikenden. VII. In der genannten Zeitspanne zwischen dem Ausbruch der Revolution und den Ereignissen des Jahres 1921 steht die russische Arbeiterschaft in einem unaufhörlichen Kampf. Im Laufe des Jahres 1917 schreitet sie viel weiter voran, als es die Bolschewiki gewollt haben. Zwischen März und Ende September 1917 gibt es 365 Streiks, 38 Fabrikbesetzungen und 111 Absetzungen der Betriebsführung.[8] Die bolschewistische Losung "Produktionskontrolle durch die Arbeiter" ist unter diesen Umständen zum Scheitern verurteilt. Die Arbeiter enteignen die Produktionsmittel auf eigene Faust, bis das Dekret über die Arbeiterkontrolle vom 14.November 1917 (nur eine Woche nach der bolschewistischen Machtergreifung also!) diese Aktivitäten bremst. Nach dem Mai 1918 darf die "Nationalisierung" nur noch vom Obersten Wirtschaftsrat vorgenommen werden. Kurz vorher, April 1918, wurde die individuelle Verantwortung der Betriebsdirektoren wieder eingeführt; jene brauchten dem Betriebspersonal keine Rechenschaft mehr zu geben! Januar 1918 werden die Betriebsräte liquidiert. Bald machen sich - nach der Überwindung des sogenannten Kriegskommunismus - die ökonomischen Gesetze der Warengesellschaft bemerkbar. Lenin seufzt: "Das Steuer entgleitet den Händen ... der Wagen fährt nicht ganz so, und häufig ganz und gar nicht so, wie derjenige, der am Steuer sitzt, sich einbildet." Eine russische Gewerkschaftszeitung berichtet, daß es 1921 477 Streiks gegeben hat mit insgesamt 184.000 Streikenden. Einige andere Zahlen: 1922 - 505 Streiks mit insgesamt 154.000 Streikenden; 1924 - 267 Streiks, davon 151 in Staatsbetrieben; 1925 - 199 Streiks, davon 99 in Staatsbetrieben.[9] Die Zahlen beweisen einen langsamen Rückgang der Aktivitäten. Die ganze Bewegung erreicht 1921, zur Zeit des Aufstandes von Kronstadt, ihren Höhepunkt. Am 24. Februar 1921 streiken die Petrograder Arbeiter. Sie fordern: Freiheit für alle Werktätigen; Aufhebung aller Sonderdekrete; freie Wahlen für die Sowjets. Es sind die gleichen Forderungen wie die, die nur wenige Tage später auch in Kronstadt erhoben werden. Eine allgemeine Unruhe hat das Land erfaßt. Um die Jahreswende 1920/21 ist das bolschewistische Rußland der Schauplatz einer tiefen Auseinandersetzung. Unmittelbar geht daraus die von zwei ehemaligen Metallarbeitern geführte "Arbeiter-Opposition" hervor. Sie verlangt die Ausschaltung der bolschewistischen Partei, Aufhebung der Parteidiktatur und ihre Ersetzung durch die Selbstregierung der produzierenden Massen. Mit einem Wort: sie verlangt Rätedemokratie und Kommunismus! Die allgemeine russische Lage wurde wenig später in dem schon erwähnten Kronstadtdokument ebenso knapp wie treffend charakterisiert: "Durch eine gerissene Propaganda wurden die Söhne des werktätigen Volkes in die Reihen der Partei gezogen und dort an die Kette einer strengen Disziplin gelegt. Als sich die Kommunisten dann stark genug fühlten, schalteten sie zuerst Schritt für Schritt die Sozialisten anderer Richtungen aus, und schließlich stießen sie die Arbeiter und Bauern selbst vom Ruder des Staatsschiffes weg, fuhren aber gleichzeitig fort, das Land in deren Namen zu regieren."[10] Februar 1921 kommt es in Petrograd zum handfesten Protest. Durch die Vororte der Stadt ziehen proletarische Demonstrationszüge. Die Rote Armee erhält den Befehl, sie auseinanderzujagen. Die Soldaten weigern sich, auf die Arbeiter zu schießen. Die, Parole heißt: Generalstreik! Am 27. Februar ist er eine Tatsache. Am 28. Februar treffen zuverlässige, regierungstreue Truppen in Petrograd ein. Die Streikführung wird verhaftet; die Arbeiter werden in die Fabriken getrieben. Der Widerstand ist gebrochen. Aber noch am selben Tag erklären sich die Matrosen des Panzerschiffes "Petropawlowsk" auf der Reede von Kronstadt für freie Sowjetwahlen und für Presse- und Versammlungsfreiheit; für die Arbeiter, wohlbemerkt! Die Mannschaft des Panzerschiffes "Sewastopol" schließt sich ihnen an. Am nächsten Tag bekunden 16.000 Menschen auf dem Hafenplatz in Kronstadt ihre Solidarität mit den Petrograder Streikenden. VIII. Die Bedeutung der Kronstadtrebellion kann kaum überschätzte werden. Sie leuchtet wie ein Fanal. In ihrer Zeitung schreiben die Aufständischen: "Wofür kämpfen wir? Die Arbeiterklasse hoffte, durch die Oktoberrevolution ihre Befreiung zu erringen. Als Resultat ist eine noch größere Unterdrückung der Menschen eingetreten. Das ruhmreiche Wappen des Arbeiterstaates - Hammer und Sichel - hat die bolschewistische Regierung mit dem Bajonett und dem Gitter vertauscht, um das ruhige und angenehme Leben der Kommissare und Beamten zu beschützen." Das alles heißt, daß damals für die bolschewistische Herrschaft in Kronstadt die Stunde der Wahrheit gekommen war, so wie die Juni-Insurrektion des französischen Proletariats 1848 die Stunde der Wahrheit für die radikale französische Republik war. Hier wie dort machte das Proletariat seine Leichenstätte zur Geburtsstätte einer rein kapitalistischen Entwicklung. In Frankreich zwang es damals die bürgerliche Republik, sogleich in ihrer wahren Gestalt aufzutreten, als der Staat, dessen eingestandener Zweck die Verewigung der Kapitalherrschaft war. In Kronstadt zwangen die Matrosen und Arbeiter die bolschewistische Partei gleichfalls, in ihrem wahren Gewande aufzutreten: als eine unverhüllt arbeiterfeindliche Institution, deren einziger Zweck die Errichtung des Staatskapitalismus war. Mit der Niederwerfung des Aufstandes wurde für ihn der Weg frei. In den Straßen von Paris wurden damals die proletarischen Hoffnungen von General Cavaignac im Blute erstickt. Der Aufstand von Kronstadt wurde von Leo Trotzki niedergeschlagen. Er wurde im März 1921 zum Cavaignac, zum Gustav Noske der russischen Revolution. Er, der bekannteste und der angesehenste Vertreter der Theorie der permanenten Revolution, verhinderte - so wollte es die Ironie der Geschichte - den ernsthaftesten Versuch seit dem Oktober 1917, die Revolution In Permanenz zu machen. Dieser Verlauf aber war unvermeidlich. Es fehlte für einen Sieg der Cronstädter jede materielle Voraussetzung. Das einzige, was ihnen hätte helfen können, war eben jene Permanenz der Revolution, auf die wir hinwiesen. Das haben die Cronstädter selbst gewußt und verstanden. Deshalb richteten sie Fortwährend Telegramme an ihre Klassengenossen auf dem russischen Festland, die zur tatkräftigen Unterstützung aufforderten. Die Cronstädter setzten ihre Hoffnung auf "die dritte Revolution" , so wie tausende von Proletariern in Rußland auf Kronstadt hofften. Was aber als "die dritte Revolution" bezeichnet wurde, war im agrarischen Rußland jener Tage, mit seiner verhältnismäßig geringen Arbeiterschaft und mit seiner primitiven Wirtschaft, nichts als eine Illusion. "In Kronstadt", sagte damals Lenin zu einem Zeitpunkt, als der Aufbau der bolschewistischen Kronstadtlegende noch kaum begonnen hatte, "will man die Weißgardisten nicht, will man unsere Macht nicht - eine andere Macht gibt es aber nicht." (11) Lenin hatte insofern recht, als es sie tatsächlich in jenem Moment nicht gab, jedenfalls nicht in Rußland. Ihre Möglichkeit aber haben, wie es die deutschen Arbeiter taten, die Cronstädter doch aufgezeigt. Sie, nicht die Bolschewiki, haben mit ihrer Kommune und mit ihrem frei gewählten Sowjet das Vorbild einer proletarischen Revolution und einer Arbeitermacht gegeben. Man lasse sich durch ihren Schlachtruf "Sowjets ohne Kommunisten" nicht irritieren. Als "Kommunisten" bezeichneten sich dieselben Usurpatoren, die sich auch heute noch - zu Unrecht - als solche bezeichnen: die bolschewistischen Verfechter des Staatskapitalismus, die damals eben den Streik der Petrograder Arbeiter unterdrückt hatten. Der Name "Kommunist" war 1921 den Arbeitern von Kronstadt ebenso verhaßt wie 1953 den ostdeutschen Arbeitern und 1956 den Arbeitern in Ungarn. Jedoch haben die Arbeiter von Kronstadt ebenso wie jene ihre Klasseninteressen beherzigt. Demzufolge sind ihre proletarischen Kampfmethoden bis heute von großer Wichtigkeit für alle ihre Klassengenossen, die - wo immer auch in der Welt - selbständig ihren Kampf führen und aus der Erfahrung wissen, daß ihre Befreiung nur ihr eigenes Werk sein kann. FUSSNOTEN: (1) In englischer Sprache erschien der Aufsatz Trotzkis unter dem Titel: "Hue and Cry over Kronstadt. A Peoples Front of Denouncers in The New International", April 1938, S. 104. Der deutsche Titel wurde von mir aus der holländischen trotzkistischen Presse jener Zeit rückübersetzt, in der, nur wenige Wochen nach der englischen Erstveröffentlichung, der Aufsatz gleichfalls publiziert worden war. (2) Von diesem Zwang spricht auch Trotzki in seiner Stalinbiographie, Es heißt dort (englische Ausgabe: Stalin,An appraisal of the man and his influence, edited and anno-tated from the Russian by Charles Malamuth, London,1947, S. 337): "Das, was die Sowjetregierung widerwillig in Kronstadt tat, war eine tragische Notwendigkeit."Nichtsdestoweniger ist schon im nächsten Satz, der Legende gemäß, wieder von "einer Handvoll reaktionärer Bauern und aufständischer Soldaten" die Rede. (3) In bestimmten menschewistischen und weißgardistischen Kreisen, d. h. nicht in allen! Es soll sich wohl hauptsächlich um jene gehandelt haben, die sich zur Zeit außerhalb Rußlands befanden. In einem zeitgenössischen Dokument wird erwähnt, wie die sich noch in Rußland befindlichen, zerschlagenen Überreste der Weißgardisten mit solch sicherem Instinkt die von Kronstadt ausgehende proletarische Drohung spürten, daß sie sich zur Niederwerfung des Aufstandes den bolschewistischen Machthabern bedingungslos zur Verfügung stellten. ("Die Wahrheit über Kronstadt", 1921. Vollständige Wiedergabe dieses Werkes in deutscher Übersetzung in: "Dokumente der Weltrevolution", Bd. 2: "Arbeiterdemokratie oder Parteidiktatur", Ölten, 1967, S. 297 ff.) (4) Die Beispiele wären nach Belieben zu vermehren. Man vergleiche auch die Bewegung der Levellers (d.h. Gleichmacher) in der englischen Revolution des 17. Jahrhunderts. (5) Vgl. den sozialen Charakter der russischen Revolution 1917 in "Thesen über den Bolschewismus", Erstveröffentlichung in "Rätekorrespondenz" Nr. 3, August 1934; Neuauflage im Kollektiv-Verlag, Berlin, o.J. (6) W.I. Lenin, "Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution". Ausgewählte Werke, Bd. l, S. 558, Dietz-Verlag, Berlin, 1964. (7) Wir zitieren Lenin indirekt aus einem Aufsatz von N. In-sarow, der September 1926 in der Zeitschrift "Proletarier" veröffentlicht wurde. Insarow bediente sich der russischen Ausgabe von Lenins Gesammelten Werken, die im russischen Staatsverlag erschienen. Die Stelle befindet sich dort, wie er angibt, Bd. 11, l. Teil, S. 28. (8) Die Angaben wurden von F. Pollock ("Die planwirtschaftlichen Versuche in der Sowjetunion 1917-1927", Leipzig 1929, S. 25) dem Werke von Y. G. Kotelnikow und V. L. Melier, "Die Bauernbewegung 1917" (in dem auch Zahlen über Streiks und Arbeiteraktionen enthalten sind), entnommen . (9) Die Statistik der Streiks und Streikenden entstammt der russischen Gewerkschaftszeitung "Voprocy Truda", 1924, Nr. 7/8. Die Redaktion bemerkt dazu, daß die Angaben noch nicht einmal vollständig seien. Wir zitieren abermals nach Pollock, a.0. In dem (historischen) ersten Teil ihres Buches "Labour Disputes in Soviet Russia 1957-1965", Oxford 1969, S. 15, gibt auch Mary McAuley Angaben über die Zahl der russischen Streiks in den ersten Jahren nach der Revolution. Sie basieren auf Mitteilungen von Revzin in der "Vestnik Truda" 1924, Nr.5-6, S. 154-60. Die Zahlen stimmen mit jenen Pollocks überein. (10) "Die Wahrheit über Kronstadt 192l", "Dokumente der Weltrevolution", a.a.O., Bd. 2, S. 500. (11) "Dokumente der Weltrevolution" Bd. 2, S. 288. |