Cajo Brendel
Die "Antiautoritäre Bewegung"
und ihr Weg in die Sackgasse
Der nachstehende Aufsatz Ist schon vor geraumer Zeit verfaßt worden, Der unmittelbare
Anlaß hat damals eine Abhandlung Klaus Hartungs gebildet, welche unter dem Titel
"Versuch die Krise der antiautoritären Bewegung wieder zur Sprache zu bringen"
vor etwa einem Jahre im "Kursbuch" Nummer 48 veröffentlicht wurde. Die auf der
Hand liegende Schlußfolgerung, es handele sich also um einen Gegenstand geringfügiger
Aktualität wäre trotzdem falsch. Denn die Krankheit welche der antiautoritären Bewegung
seit ihrer Geburt angehaftet und die Hartung zu diagnostizieren versucht hat, ist
keineswegs nur auf sie beschränkt. Es handelt sich um ein Übel, das viele Formen
aufzeigt und sich immer wieder bei allerhand Gruppen, die auf eine Umänderung der
Gesellschaft abzielen, manifestiert. Teilen sie doch fast alle die Ansicht, jene
gesellschaftliche Revolution sei entweder von der Verbreitung dieser oder jener
"Idee", oder von der Provokation der gefestigten Ordnung zu erwarten, indem
diese, gerade durch ihre Reaktion sich salbst als Unterdrückungsmacht entlarve.
Es wird somit Übersehen, daß es sich dabei um die Unterdrückung einer bestimmten Klasse
handelt, welcher man die Tatsache ihrer Unterdrückung nicht klarzumachen braucht und zwar
deshalb nicht, weil sie den Inhalt ihrer täglichen Erfahrung stellt. Sie hat davon schon
einen durchaus klareren Begriff als diejenigen die, trotz all ihres Gerades über die
Wesenszüge der kapitalistischen Gesellschaft, bisher wenig Verständnis dafür gezeigt
haben, daß die betreffende Unterdrückung auf gegensätzliche Interessen zurückzuführen
ist und, daß nur der daraus hervorgehende Interessenkampf jene Unterdrückung aufzuheben
vermag. Eine bestimmte Form von Unterdrückung hat in der Geschichte immer angehalten bis
sie von dem Kampf der Unterdrückten gesprengt wurde.
Gewiß, alle die wir hier meinen, hören nicht auf von den Arbeitern zu reden nachdem sie
diese einmal "entdeckt" haben. Den Arbeitern wollen sie das Bewußtsein
beibringen, daß die Gesellschaft umgewälzt werden soll. Sie können entweder nicht
einsehen oder nicht akzeptieren, daß jene, die da nicht müde werden von einer sozialen
" Revolution" zu reden, die Gesellschaft nicht zu revolutionieren vermögen, die
aber welche bloß ihre materiellen Interessen verteidigen ohne Oberhaupt eine Revolution
zu beabsichtigen gerade die Gesellschaft revolutionieren.
Hieraus geht hervor, daß die studentischen oder politischen Gruppen nicht nur den
Anspruch erheben, sie seien dazu berufen, den Arbeitern die Bedeutung des Klassenkampfes
darzulegen, sondern sich dazu noch als dessen Führer aufwerten. Das geht darauf hinaus,
daß sie die Arbeiter zu bevormunden versuchen und sich entweder empören oder sich
enttäuscht abwenden, wenn die Arbeiter solch eine Bevormundung zurückweisen. Diese
Gruppen glauben, der Klassenkampf könne erst "richtig" geführt werden, wenn
die Kämpfer sich "Einsicht" angeeignet haben. Sie fassen es nicht, daß
irgendeine Einsicht oder irgendein Bewußtsein keine Voraussetzung, sondern eine Folge des
Kampfes darstellt, eines Kampfes der sich von dem, welchen die Gruppen zu führen
behaupten, grundsätzlich unterscheidet.
Es geht den politischen und voluntaristischen Gruppen und Bewegungen das Verständnis
dafür ab, daß die Arbeiter von den Naseweisen des Arbeiterkampfes die Nase voll haben.
Sie verstehen erst recht nicht, daß ihr Benehmen den Interessenkampf der Arbeiterschaft
hemmt und benachteiligt. Darauf hinzuweisen, den Ansprüchen dieser Art Gruppen Schranken
zu setzen, ihre Illusionen aufzudecken, das eben ist das Ziel der nachfolgenden
Betrachtungen, die, glauben wir, ihre Bedeutung solange beibehalten werden, als von außen
her den Versuch unternommen wird, sich in den Klassenkampf einzumischen und die Arbeiter
als politische Objekte zu manipulieren.
I.
Vor zehn Jahren etwa wurde eine Reihe moderner Industrieländer - die USA, die BRD,
Frankreich, Japan, Italien und im kleineren Ausmaß auch England, Holland und Belgien -
jedesmal auf eigene Weise mit einer radikalen, von den Studenten ausgehenden und von ihnen
getragenen Beilegung konfrontiert. Friedrich Mager und Ulrich Spinnarke, die hinsichtlich
der Bundesrepublik und Westberlin das Phänomen schon frühzeitig zu analysieren versucht
haben, sprachen damals von einer durch Unbehagen geprägten Strömung, welche einer Kritik
am Hochschulwesen entsprang und demnächst in einem moralisch-engagierten Protest gegen
den vorgefundenen Staat und gegen die vielfach als Konsumgesellschaft definierte soziale
Ordnung mündete. Manger und Spinnarke charakterisierten diese Bewegung als eine
radikaldemokratische Opposition, welche die autoritären Züge in der Struktur der
heutigen Gesellschaft bloßzulegen versuchte, indem sie die ihr innewohnende Unruhe
ausbreitete und ihre Gegensätze exponierte. Kurz: mit einer antiautoritären,
herausfordernden, außerparlamentarischen Bewegung hatte man es zu tun, welche nach beiden
genannten, übrigens selbst nicht mehr der Studentenzeit angehörenden Forschern,
"einen bisher verschleierten Tatbestand aufklärte und demzufolge notwendig eine
Veränderung der Gesellschaft herbeiführte" 1). Ähnliche Gedanken wurden auch von
den Vertretern der Bewegung selbst entwickelt.
Heutzutage stellt diese ganze antiautoritäre Strömung kaum noch etwas vor. Ihr Glanz ist
überall gelöscht; was sie zu versprechen schien, hat sich nicht bestätigt. Mager und
Spinnarke hielten es durchaus für möglich, daß bestimmte Gruppen der Bevölkerung sich
mit ihr solidarisieren würden. Das genaue Gegenteil hat sich ereignet. Sie ist
eingeschrumpft und auseinandergerissen, einer tiefen Krise preisgegeben und völlig in die
Sackgasse geraten, oder besser: es hat sich gezeigt, daß sie immer schon auf dem Holzweg
war. Nirgendwo kann sie sich über einen Erfolg freuen. Sie liegt in den letzten Zügen,
sofern sie nicht bereits gestorben ist.
Aus welchem Grund hat die antiautoritäre Bewegung Pleite gemacht? Dadurch, so antwortet
Klaus Hartung im "Kursbuch" 2), daß sie eine Bewegung von beschränktem
Charakter war, eine Bewegung, die nicht imstande war, eine bestimmte Grenze, nämlich die
Klassengrenze, zu überqueren.
Wäre diese Äußerung Hartungs die Schlußfolgerung seiner Darlegung, hätte er bei
seinem Versuch die Krise der antiautoritären Bewegung 3) zu erklaren aufgezeigt, weshalb
sie an der innerhalb der modernen Klassengesellschaft gegebenen Schranke notwendigerweis
haltmachen mußte, und hätte er daraus die einzig mögliche Konzequenz gezogen, wir
hätten seiner Ansicht ohne Weiteres zugestimmt. Jedoch, Hartung folgert nicht, sondern es
handelt sich bei ihm um nichts weiteres als eine Behauptung, die abermals erläutert, daß
übereinstimmende Thesen, zumal wenn es dabei um eine beiläufige wie jene von Hartung
geht, nicht mit übereinstimmenden Standpunkten zu verwechseln sind.
Wir vertreten den Standpunkt, daß was Mager und Spinnarke sehr richtig als eine
radikaldemokratische Opposition umschrieben haben, deshalb nicht zu einer
gesellschaftlichen, die herrschende Ordnung umwälzenden Kraft werden konnte, weil diese
Opposition keine materiellen Interessen vertritt, die so ausgeprägt waren, daß sie sich
den materiellen Interessen widersetzen könnten, die der herrschenden Ordnung und deren
Ideologie zugrunde liegen. Eine Opposition, die nicht auf materielle Interessen fußt,
kann nie zu einer materiellen Macht werden und verliert früher oder später als
Opposition ihre Bedeutung. Auch dann wenn sie sich aus "denkenden Menschen, die sich
der bestehenden Gesellschaft gegenüber, kritisch verhalten" zusammensetzt, so
ändert das nichts an ihre gesellschaftlichen Hilflosigkeit. Weder ihre ehrliche
Entrüstung, zum Beispiel über das, was sie als die "Auswüchse" der
"Konsumgesellschaft" betrachten, noch die Aufrichtigkeit ihrer Proteste gegen
Nebenerscheinungen wie Polizeiwillkür, Umweltverschmutzung, Atomkraftwerke oder
Bewaffnung, braucht man anzuzweifeln. Dennoch müssen derartig Proteste ohne Wirkung
bleiben, solange die Protestierenden sich nicht auf latente Macht stützen können,
worüber aber nun die arbeitende Klasse verfugt ,da das gesamte gesellschaftliche Gebäude
auf der produktiven Arbeit beruht. Nur die Klasse der Industriearbeiter kann eine
gesellschaftliche Umänderung zustande bringen. Die einzig mögliche Revolution welche den
Kapitalismus stürzen kann, ist die proletarische. Der Glaube an eine andere Art
Umwälzung ist eine Illusion.
Wodurch die antiautoritäre Bewegung sich von Anfang an gekennzeichnet hat, ist nicht die
Abneigung gegen eine proletarische Revolution, wie man sie selbstverständlich in den
Kreisen der eigentlichen Bourgeoisie vorfindet, sondern die Geringschätzung ihrer
Möglichkeiten. Das Industrieproletariat, so ihre Meinung, weise eine immer geringere Zahl
auf und hätte nur noch eine schwindende Bedeutung. Dazu wäre es eine apathische Masse
von der ein revolutionärer Widerstand gegen die kapitalistischen Verhältnisse nicht oder
nicht mehr zu erwarten sei.
Der vorherrschende Mythos der schwindenden gesellschaftlichen Bedeutung der Arbeiterklasse
aber ist nur eine der vielen Erscheinungsformen bürgerlicher Ideologie. Infolge der
Konzentration das Kapitals und dem Verschwinden des sogenannten Mittelstandes gibt es
heute mehr Proletarier als je zuvor. Wie richtig es auch sein mag, daß jetzt mehr
Arbeiter im nichtproduktiven, keinen Mehrwert erzeugenden Dienstleistungsbereich wirksam
sind, ihre Stellung gegenüber dem Kapital ist dadurch unverändert. Auch sie verfügen,
mangels Kontrolle über die Produktionsmittel, nicht über die eigene Existenz. Als Paul
Mattick vor etwa zehn Jahren in seiner "Kritik an Herbert Marcuse" darauf
hinwies, fügte er hinzu, daß "Lohnarbeiter Proletarier sind, welche Tätigkeiten
sie auch immer ausüben" 4). Sie unterliegen, die herrschende Klasse trifft die
Entscheidungen, welche das Leben aller anderen in jeder Hinsicht bestimmen.
Das alles bedeutet, daß trotz einer Verschiebung von produktiver nach unproduktiver
Arbeit die latente Macht der arbeitenden Klasse gewachsen ist. Die Entwicklung der
modernen Technik hat die Gesellschaft völlig von einem ununterbrochenen
Produktionsvorlauf abhängig gemacht. Eine ungestörte Funktion der Dienstleistungen ist
dafür eine der unentbehrlichen Bedingungen. Das erklärt, weshalb trotz des Geschwätzes
von der verringerten Bedeutung der Arbeiterklasse, Parsonalvorstände, Soziologen und
Psychologen, Wohlfartspfleger und Betriebsärtze, Historiker und Volkswirtschaftler,
Juristen und Organisationsberater ihr mehr Aufmerksamkeit widmen, als in der
Vergangenheit.
Was die vermeinte Apathie betrifft: daß dieselben Arbeiter, die unter bestimmten
Umständen gleichgültig scheinen, unter anderen Umständen zu rebellieren anfangen, ist
ohne Zweifel ganz richtig aber nicht das wichtigste, was in diesem Zusammenhang zu
bemerken ist. Der Vorwurf, die Arbeiter seien nicht mehr imstande oder nicht mehr dazu
geneigt "revolutionären Widerstand" zu leisten, geht an der Tatsache vorbei,
daß die Arbeiter nie kämpfen oder gekämpft haben, um eine Umänderung der Gesellschaft
herbeizuführen, sondern nur um entweder ihre proletarische Lage zu verbessern oder deren
Verschlechterung vorzubeugen. Womit man es bei diesem ungerechten Vorwurf zu tun hat ist
ein doppelter Irrtum, ein Irrtum in Bezug auf das, was die Arbeiterklasse ist und ein
Irrtum in Bezug auf das, was sie demzufolge zu tun gezwungen sein wird.
Der Kampf der Arbeiter - wofür diejenigen, die sich da irren, übrigens kaum einen Blick
haben - ist zwar der Motor aller gesellschaftlichen Entwicklung, aber es wäre falsch, die
objektive Folge des proletarischen Verhaltens als sein subjektives Ziel hinzustellen.
Kritiker welche der Arbeiterklasse "Apathie" vorwerfen unterschieben ihr
faktisch eine Gleichgültigkeit für etwas, das sie nie angestrebt hat um nachher
festzustellen, daß sie infolge ihrer "Verbürgerlichung" darauf verzichtet
habe. Von dieser sogenannten Verbürgerlichung der Proletarierklasse ist aber schon
deshalb keine Rede weil, die Arbeiterschaft, auch wenn die Löhne steigen und das
Arbeitsklima sich bessert, doch immer die Negation der bürgerlichen Gesellschaft bildet,
und ihr angeblicher "Überfluß" nichts ist im Vergleich zu dem
"Überfluß" der anderen Klassen, woneben er sich stetig als relativer Mangel
abzeichnet. Unter kapitalistischen Verhältnissen, gleichviel ob sie durch Privatbesitz
oder durch Staatseigentum geprägt werden, existieren die Herrschenden auf Kosten des
Proletariats. Aus diesem Grunde vergegenwärtigt jede proletarische Aktion, wie
unbedeutend sie immer scheinen könnte, eine wesentliche Bedrohung der gefestigten
Ordnung, welche andrerseits gar nicht in Frage gestellt wird von irgendeinem Benehmen, das
aus der Idee, es gelte diese Ordnung zu stürzen, hervorgeht, eine Idee die nicht in
proletarischen Bestimmungen wurzelt. Die Klassentrennung der kapitalistischen
Gesellschaft, ist gleichzeitig die Trennung zwischen denjenigen die Revolution machen
wollen, ohne es zu können, und denjenigen welche die gesellschaftlichen Verhältnisse
revolutionieren, ohne es zu sollen.
II.
Was immer Klaus Hartung mit seiner Bemerkung, "die Grenze antiautoritärer Militanz
war eine Klassengrenze", auch gemeint haben soll, jedenfalls nicht, daß die
antiautoritäre Bewegung, zwar begeistert von der antibürgerlichen Idee der sozialen
Umwälzung, jedoch nicht auf dem Fundament antibürgerlicher Interessen gewachsen, zu
einer Machtlosigkeit verdammt war, die ihr Mißlingen unumgänglich machte. Daß sie an
der Klassengrenze haltmachte - für ihn, anders als für uns, keine logische Folge ihrer
wesentlichen Züge -, betrachtet er daher nicht als eine Unvermeidlichkeit, sondern als
einen der von ihr begangenen Fehler. Er gesteht offen ihren Mißerfolg, doch er stellt ihn
gleich mit einer politischen Niederlage oder mit einer verlorenen Schlacht. Er spricht
davon, als handele es sich um einen Mißerfolg bis jetzt und er schließt seine
Auseinandersetzung mit der vertrauensseligen, denn unbegründeten Versicherung, die
antiautoritäre Bewegung werde trotzdem siegen.
Für eine solche Vertrauensseligkeit gibt es in unserer Anschauung keinen Platz. Wir sehen
keinen Ausweg aus der Sackgasse, in welcher die als "neue Opposition"
begrüßte, außerparlamentarische und antiautoritäre Bewegung sich befindet und sich
nach unserer Meinung immer schon befunden hat. Nicht infolge ihrer sogenannten Fehler ist
sie in diese Sackgasse geraten, sie wurde dort geboren. Die Keime der Zersetzung hat sie
seitdem mit sich herumgetragen. Ihr endgültiger Untergang ist das unerbittliche
Schicksal, dem sie nicht entrinnen konnte. Was Hartung und anderen als Fehler, daß heißt
als vermeidbare Dinge, betrachten, das sind nur ebensoviele Merkmale ihrer wirklichen
Position. Wenn man davon tatsächlich schon lernen kann, dann nicht was die Bewegung
hätte tun sollen oder künftig unterlassen soll, sondern was sie ist.
Die antiautoritäre Bewegung nun ist das was sie von Anfang an war: eine Protestbewegung
jungar Leute aus bürgerlichen und kleinbürgerlichen Verhältnissen, die sich zwar gegen
die bürgerliche Wirklichkeit auflehnten - und deshalb zu Unrecht für antibürgerlich
gehalten wurden - aber keineswegs darüber hinausgingen. Sie Überholten die bürgerlichen
Verhältnisse nicht, es war ihnen faktisch darum zu tun, zu deren Anfang zurückzukehren.
Sie waren sich allerdings dessen nicht bewußt und konnten sich das betreffende
Bewußtsein kaum aneignen, weil ihre "sozialistische" Ideologie sie daran
hinderte. Indem sie, und nicht von ungefähr, Voluntaristen, das heißt politische
Idealisten waren, unterhielten sie ein bestimmtes Zukunftsbild. Was sie aber für die
Zukunft ansahen, war in Wirklichkeit die in die Zukunft projizerte Vergangenheit. Bernd
Rabehl, einer der sich angestrengt hat, aus dieser "neuen Opposition" eine, wie
er es nannte, "sozialistische Opposition" zu machen, hat bemerkt, daß "der
Protest der Studenten gegen die Entwicklung der formierten Gesellschaft zunächst eine
moralische Empörung war, die das Postulat der Demokratie gegen deren tatsächliche
Entwirklichung in der Bundesrepublik kehrte" 5). Das bedeutet soviel, als daß sie
den erstarrten Formen der parlamentarischen Demokratie mit ihrem bürokratischen
Machtapparat das Ideal einer echten und unmittelbaren Demokratie gegenüberstellten. Wir
halten, ohne uns mit Rabehl zu identifizieren, die Charakteristik für richtig und
möchten hinzufügen, daß hierbei die Ideale der jakobinischen Demokratie anstelle der
heutigen demokratischen Wirklichkeit gesetzt wurden. An die Arbeiterdemokratie wurde
einstweilen nicht gedacht. "Das Proletariat", erklärt Klaus Hartung, "war
uns zunächst gleichgültig"!
Anschließend schreibt Hartung, daß "nichts falscher wäre, als gerade darin die
(klein)bürgerliche Herkunft der Studentenrevolte nachweisen zu wollen". Die
Bemerkung trifft nicht auf uns zu. Wir leiten den kleinbürgerlichen Charakter der
"neuen Opposition" nicht her von ihrer Gleichgültigkeit hinsichtlich der
Arbeiterklasse, sondern wir erklären umgekehrt diese Gleichgültigkeit aus ihrem
kleinbürgerlichen Charakter. Wenn Hartung behauptet, das Proletariat wurde ignoriert,
weil es sich nicht rührte und "zum geschichtslosen Produzenten des Mehrwerts
geworden war", ohne an seinen Ketten zu zerren, so hat man es, im Gegensatz zu dem
was er als seine Meinung äußert, nicht mit "einer richtigen geschichtlichen
Wahrnehmung" zu tun, sondern mit einem geradezu kleinbürgerlichen Zerrbild. Dessen
Kleinbürgerlichkeit wird dadurch noch unterstrichen, daß Hartung hinzufügt, die neue
Opposition glaubte nicht "daß der Arbeiter, wenn er der Spur seiner materiellen
Interessen folgt, schon auf den revolutionären Weg stoßen wird" und, daß sie sich
eine revolutionäre Entwicklung nur vorstellen konnte als "der Ausbruch aus seiner
Situation", als "der Übertritt in das antiautoritäre Lager".
Hier findet man genau alle Grundzüge des modernen Jakobinertums wieder: die Varkennung
der wirklichen proletarischen Lage, die großartige Unterschätzung des Interessenkampfes
und die ebenso großartige Überschätzung der (revolutionären) Idee. Keine Spur von der
Erkenntnis, daß Ideen sich in der Geschichte immer nur blamiert haben, dafür aber das
Mißverständnis, die Arbeiter könnten nur "auf den revolutionären Weg
stoßen", falls sie sich unter die Fahne einer von radikalen Ideen erfüllte Bewegung
stellen würden, einer Bewegung also die sich selbst als revolutionäre Vorhut deutet.
III.
Die "neue Opposition" - sie mag den Anspruch recht weniger klar erheben als die
verschiedenen bolschewistischen Gruppen und Parteien -, betrachtet sich tatsächlich als
revolutionäre Vorhut. Das wird auch von Klaus Hartung festgestellt. Er spricht in diesem
Zusammenhang von der "historischen Krankheit der Studentenbewegung". Wo er den
Versuch unternimmt die Ursache dieser Krankheit aufzudecken, da meint er, sie wäre aus
einer Enttäuschung über das, was er, mit charakteristischer jakobinischen Wortwahl,
"das Volk" nennt, zu erklären. Er geht jedoch nicht so weit, daß er die
Enttäuschung selbst analysiert; er versteht sie nicht als einen Konflikt zwischen der
jakobinischen Theorie und der gesellschaftlichen Praxis.
So einen Konflikt gibt es bei jeder Avantgarde, ob sie sich als Partei konstituiert hat
oder nicht. Das ist Hartung insofern nicht entgangen, als er seine Kritik insbesondere auf
diese Organisationsform verlegt. Er hat erkannt daß die Partei, das heißt jede Partei,
ihre Theorie oder ihre Wahrheit als die Wahrheit hinstellt; er hat gleichfalls erkannt,
daß eine Partei ihren Mitgliedern die Sicht auf die, immer komplizierte, Wirklichkeit
benimmt. Aber er schweigt darüber, daß, wo immer die Kenntnis der Wirklichkeit
beschränkt ist, diese oder jene besondere Wahrheit als die allgemeine Wahrheit
hingenommen wird und somit ein geistiges Klima geschaffen wird, das für die Partei einen
günstigen Nährboden bildet.
Um konkret zu werden: sobald die radikale jakobinische Wahrheit bezüglich der
Unterdrückung des "Volkes" bei großen Teilen davon, das heißt bei der
Arbeiterklasse, keinen Widerhall findet, da wird das nicht der Tatsache zugeschrieben,
daß die proletarische Realität und der Arbeiterkampf etwas ganz anderes sind, als als
die jakobinische Studentenopposition glaubt, sondern es wird den Arbeitern fehlendes
Bewußtsein und demnächst einen Mangel an revolutionärem Willen vorgeworfen. Der
Avantgarde oder der Partei wird alsdann die Aufgabe zugeteilt, die Arbeiter bewußt zu
machen. Ihren "Mangel an einem revolutionären Willen" soll durch den
revolutionären Willen einer sogenannten Vorhut kompensiert oder sogar ersetzt morden.
So stark ist diese Tendenz, so kräftig setzt diese Entwicklung sich jeweils durch, daß
die gelegentlich dämmernde Ahnung, es komme doch weniger auf den revolutionären Willen
als auf die soziale Eigengesetzlichkeit, die reellen Widersprüche und die wirklichen
Kämpfe an, sie kaum abzuschwächen vermag. Der ehemalige Studentenführer Rudi Dutschke
zum Beispiel hat mal an jene Kritik erinnert 6), welche Marx an der Fraktion
Willich-Schapper im einstigen Bunde der Kommunisten geübt hat, nämlich daß sie "an
die Stelle der kritischen Anschauung eine dogmatische setze, an die Stelle der
materialistischen eine idealistische" und, daß "ihr der bloße Wille zum
Triebrad der Revolution" werde 7). An der betreffenden Stelle erörtert Marx, daß
die Arbeiter "15, 20, 50 Jahre Bürgerkriege und Volkskriege durchzumachen haben,
nicht nur um die Verhältnisse zu ändern, sondern um sich selbst zu ändern".
Dutschke aber versteht die Änderung um die es hier geht trotzdem nicht sosehr als
Selbständerung, jedoch vielmehr als eine die von außen her zustande gebracht werden
soll. Das ergibt sich daraus, daß er den Klassenkampf nicht als einen sozialen, sondern
als einen politischen Kampf versteht, den nicht die Arbeiter selbst, sondern die
sogenannten Arbeiterparteien zu führen haben 8). Nach Dutschke wäre dieser
"politische Klassenkampf" mit einem "bewußten Klassenkampf"
identisch. Darüber hinaus behauptet er, daß "nur im bewußten Klassenkampf das...
Selbstbewußtsein des Proletariats" entstehe, das er späterhin als
"revolutionäres Klassenbewußtsein" definiert 9).
Buchstäblich heißt das nichts geringeres als, daß in einem bereits b e w u ß t
geführten Kampfe abermals ein bestimmtes Bewußtsein erweckt würde. Was für eins
schon?,könnte man da fragen. Die einzig vernünftige Antwort kann nur diese sein, daß
hier das proletarische Bewußtsein der Öffentlichen Wirkung einer politischen Avantgarde
zugeschrieben, also als ein politisches Bewußtsein verstanden wird. Das ist tatsächlich
exakt die Auffassung der neuen Opposition, welche - wie es auch Mager und Spinnarka getan
haben - es von Anfang an für möglich gehalten hat, daß ihre Aktion andere Teile der
Gesellschaft zur Erkenntnis bringe und somit zum Handeln veranlasse. Es wird damit völlig
verkannt, daß man sich nie etwas anderem als der materiellen Wirklichkeit bewußt werden
kann und, daß die Wirklichkeit der Studenten grundverschieden ist von jener der
industriellen Arbeiterschaft, daß die erstere den politischen Verstand erzeugt, die
letztere aber den sozialen Instinkt, der sich zwar anfangs noch vom politischen Verstand
belügen läßt, nicht aber, wenn ein gewisser Entwicklungsgrad erreicht worden ist 10).
Daraus erklärt sich das, was Hartung ohne Zurückhaltung als die Ablehnung der von den
Studenten herangetragenen "Wahrheit" beschrieben hat, ein Verhalten ihnen
gegenüber, für welches eben von Arbeitern verwendete Wort wie "Euch müßte man mal
..." charakteristisch sind.
Die Studenten, die nicht am Produktionsprozeß teilnehmen, befinden sich der Gesellschaft
gegenüber in einer besonderen Situation. Insofern manche von ihnen anerkennen, daß die
Änderung der Umstände und die menschliche Tätigkeit oder Salbstveränderung
zusammenfallen und nur als revolutionäre Praxis gefaßt werden können, handelt es sich
bei ihnen um eine spezifische Anerkennung, die sich aus dieser, ihrer Situation erklärt.
Mit "revolutionärer Praxis" meinen sie, statt jener der tätigen Produzenten,
die Praxis der Revolutionäre für die es, wie immer für Leute die sich als
"Heerführer" betrachten, in erster Linie auf eine Strategie ankommt 11). Falls
so ein faustischer Revoluzzer einem, der täglich am Fließband steht, zu erkennen gibt:
"Geschäftiger Geist, wie nah fühl' ich mich dir", kann der Angeredete mit
Maphistopheles erwidern: "Du gleichst dem Geist den du begreifst, nicht mir!"
IV.
Der lebensgroße Unterschied zwischen der Wirklichkeit der Studenten und jener der
Arbeiter, wie auch dessen Folgen für das respektive Bewußtsein kann man eindeutig
erläutern anhand das Verhältnisses der neuen Opposition zum Staatsapparat das - hier
sind wir mit Hartung einverstanden - in der Geschichte der antiautoritären Bewegung eine
zentrale Rolle gespielt hat. Die Tatsache ist leicht zu verstehen. Wenn die Studenten zu
rebellieren anfangen, streben sie eine Hochschulreform an, damit sie nicht länger von
professoralen Fachidioten zu Fachidioten ausgebildet werden 12). Sie wollen die Chance
haben, sich "als Staatsbürger" zu entwickeln mittels politischer Information,
politischer Meinungsäußerung und politischer Diskussion. Sie verlangen eine
Demokratisierung der Universität. Diese hat jedoch nicht nur eine sehr bestimmte, jenem
Verlangen wenig entgegenkommende Funktion innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, sie
ist zugleich eine Anstalt der Obrigkeit. Hinter dem akademischen Senat, hinter dem Rektor
und hinter allen universitaren Instituten stehen das bürgerliche Gesetz und die
bürgerlichen Behörden mit ihrem Machtapparat. Der Konflikt zwischen Studenten und
Universität ist somit ein politischer Konflikt, weil es sich dabei um politische
Freiheiten handelt, in erster Instanz um das Recht, Sondermeinungen zu äußern Über
politische Fragen über zum Beispiel den Vietnamkrieg. Daß gerade hinsichtlich des
Vietnamkrieges moralische Gefühle stark mitgespielt haben, ändert den politischen
Charakter der Sache nicht im geringsten.
Im Gegensatz nun zu den Arbeitern, die bei ihrem sozialen Widerstand an erster Stelle mit
dem Unternehmertum, mit Betriebsverwaltungen, möglicherweise auch mit der
Gewerkschaftsbürokratie konfrontiert werden und erst indirekt, in einer späteren Phase
die Machtmittel der Obrigkeit zu spüren bekommen, haben es die rebellierenden Studenten
bei ihrem politischen Widerstand sofort mit der Obrigkeitsgewalt zu tun. Das ist der Fall
innerhalb der Universität, wenn die Polizei den Befehl bekommt, eins der
Universitätsgebäude auszuräumen, wie in Berlin am 19, April 1967. Es ist genau so
außerhalb der Universität, das heißt auf der Straße wohin der Streit auch dadurch je
langer je mehr verlegt wird, daß vom 16. Februar 1966 an innerhalb der Universität keine
politischen Zusammenkünfte oder Veranstaltungen mehr abgehalten werden dürfen. Somit
wird der Zusammenstoß der neuen Opposition mit der Obrigkeit von früh an einen
Zusammenstoß im buchstäblichen Sinne. Immer und immer wieder treffen die Studenten auf
die bewaffnete Macht.
Für die Arbeiter ist der Klassengegensatz zum Unternehmertum die tägliche und
vorherrschende Lebenserfahrung; für die Studenten aber ist es die Polizeigewalt. Nicht im
Produktionsbereich begegnen sie der bürgerlichen Gesellschaft und dem bürgerlichen
Staat, sondern auf der Straße, das heißt gerade dort wo der bürgerliche Staat ihnen
gegenüber das strategische Übergewicht besitzt. Über Hartungs Bemerkung, daß die
antiautoritäre Bewegung nicht auf der Straße geschlagen worden ist, kann man andrer
Meinung sein. Unbestreitbar aber ist es, daß sie dort keineswegs gesiegt hat. Daher auch
weist Hartung zwei Seiten weiter darauf hin, daß die Studenten einen Begriff vom
Staatsapparat im Kopf haben, "der so umfassend und total ist, daß sich gegen ihr
nichts machen läßt". Daraus wird dann allerdings von den Studenten gefolgert, es
käme darauf an, ihn "endgültig zu zerschlagen". Das aber ist eine reine
Phrase; was da vorhergeht ist genau die theoretische Abspiegelung von dem was die
Studenten in ihrer Praxis erfahren haben.
Die Arbeiter machen eine ganz andere Erfahrung, wenn da zum Beispiel im Frühling 1969 in
der bundesdeutschen Industrie ganz spontan "wilde" Streiks losgehen und die BRD
von einer Streikwelle getroffen wird welche schließlich in den Septembertagen ihren
Höhepunkt erreicht, so ist nicht bloß das Unternehmertum, nicht bloß die
Gewerkschaftsbewegung, sondern die ganze offizielle Gesellschaft einschließlich des
Staatsapparats ihr gegenüber völlig hilflos.
Für die antiautoritäre Bewegung kamen, schreibt Hartung, die Septemberstreiks als ein
Schock. Sie war, fügt er hinzu, "auf die spontanen Kämpfe des Proletariats nicht
vorbereitet." Sie war es tatsächlich nicht, trotz ihrer anfänglichen Erwartung, die
Universitätsrevolte könnte auf andere gesellschaftliche Bereiche und Klassen übertragen
werden. Bernd Rabehl nannte etwa ein Jahr vor dem Ausbruch der Streikbewegung von 1969 den
Gedanken an solch eine Übertragung "leichtfertig", "den Ausdruck einer
'ungestümen' Logik" (mehr ungestüm als logisch soll er wohl gemeint haben) und er
charakterisierte ihn als ein "Wunschdenken" 13). Die Ereignisse vom "Herbst
1969 - und spätere die eine Wiederholung derartigen spontanen Streikbewegungen
verzeichneten - haben keineswegs den Nachweis gebracht daß Rabehl sich damals irrte. Denn
die Septemberstreiks sind etwas ganz anderes als eine Übertragung der Studentenbewegung
auf die Arbeiterklasse; sie bedeuten durchaus nicht, daß die Arbeiter sich unter die
Fahne der neuen Opposition stellen. Die wesentliche Bedeutung dieser Streikwelle - das
Vorgehen von unten auf, das Fehlen einer traditionellen Streikführung seitens der
Gewerkschaften 14) und viele andere Einzelheiten weisen es nach - ist diese, daß die
Arbeiter selbst handelnd auf der Bildfläche erscheinen. Im September 1969 zeigen die
Arbeiter nicht, daß sie die Studenten als ihre Vorhut akzeptieren, sie liefern im
Gegenteil den Beweis, daß sie keine solche Vorhut brauchen.
Die Septemberstreiks von 1969 liegen als soziale Bewegung nicht auf der gleichen
Längenachse wie die politische Studentenbewegung, sie stehen damit in geradem
Widerspruch. Der Gedanke, die antiautoritäre Bewegung solle als eine Avantgarde der
Arbeiterklasse funktionieren, sie verkörpere "den revolutionären Willen", sie
sei dazu berufen, dem Proletariat bewußt zu machen, daß es gegen die bestehenden
Verhältnisse zu kämpfen habe, ist während der Septemberstreiks abermals als ein Mythos
entlarvt worden, und zwar nicht mittels theoretischer Argumente, sondern vom
Klassenauftritt der Arbeiter, der unmittelbar aus ihrer Situation hervorging, Also: die
studentische Ideologie entspricht nicht der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Der Untergang
der neuen Opposition findet eben darin seinen Grund.
V.
Hartung, wir haben schon darauf hingewiesen, spricht nicht vom Untergang der
antiautoritären Bewegung. Er träumt noch immer von ihrem künftigen Sieg. Dennoch hat er
einen Blick für ihre Mißerfolge, aber er sucht deren Ursache nicht dort wo er sie nach
unsrer Meinung suchen sollte. Deswegen faßt er sie als Mißerfolge, welche die
antiautoritäre Beilegung überwinden könnte.
Was er zum Beispiel die ''Dogmatisierung" der neuen Opposition nennt, die Tatsache,
daß sie unter Hochdruck seitens der wie Pilze emporgewachsenen bolschewistischen Gruppen
gerät und dadurch zu einer bestimmten politischen Linie gezwungen wäre, verstehen wir
ganz anders als er. Infolge des politischen und jakobinischen Charakters der neuen
Opposition, den wir schon kennengelernt haben - und der sie weniger "neu" macht
als sie wohl scheinen mag - haben bolschewistische Theorien für sie eine unwiderstehliche
Anziehungskraft. Denn der Bolschewismus ist nun einmal die konsequenteste Form des
modernen Jakobinertums in der heutigen Gesellschaft. Nicht der Dogmatismus hat die
Realität beiseite geräumt, wie es Hartung behauptet, sondern die reelle Gestalt der
antiautoritären Bewegung macht sie zu einer leichten Beute des bolschewistischen Dogmas.
Nicht die bolschewistischen Gruppen zwingen die antiautoritäre Bewegung auf eine
politische Linie. Deshalb weil die neue Opposition naturgemäß eine politische Linie
verfolgt, wird sie gleichsam von selbst zum Bolschewismus 15) gedrängt.
Darüber zu streiten, ob damit ein künstlicher Nebel ringsum die politische Wirklichkeit
erzeugt wird - wie Hartung behauptet - oder schon an einem früheren Zeitpunkt, hat kaum
einen Zweck. Es kommt nicht sosehr darauf an wann, sondern darauf weshalb die politische
Wirklichkeit sich vermischt und sie vermischt sich weil die neue jakobinische Opposition
immer schon der gesellschaftlichen Wirklichkeit den Rücken zugekehrt hat. Nach Hartung
hat sie "die Bühne der Klassengesellschaft gebaut" auf der ihre Angehörigen
sich bis jetzt "um die richtigen Kulissen streiten". Das Bild trifft zu unter
der Bedingung, daß dabei besonders betont wird, daß es sich um eine Bühne handelt auf
der eine bestimmte Auffassung der Klassengesellschaft in jeweiliger Regie dargestellt
wird. Auf diese Darstellung, nicht auf die soziale Realität, richtet die neue Opposition
das Auge. Aber weder die lebensechteste Kulisse, noch selbst das fundierteste Kostüm
können etwas daran ändern, daß solch eine Darstellung mit der wirklichen
Klassengesellschaft und mit dem wirklichen Klassenkampf nicht identisch ist. Nachdem man
sich vorher einem Wunschtraum hingegeben hat, vergafft man sich in einer
Wunschuorstellung, in einer Illusion. Hartung mag daran nicht glauben, das Ende solcher
Illusionen ist immer die Katastrophe!
Daß und wie der Bolschewismus immer kräftiger in die antiautoritäre Bewegung
durchstößt, das geht sonnenklar aus Hartungs Schilderung hervor. In dieser Hinsicht ist
sie besonders eindringlich. An gewisser Stelle spricht er von dem Bestreben der neuen
Opposition, sich auf der Basis von "Was tun?", das heißt den leninistischen
Prinzipien gemäß, zu organisieren. An andrer Stelle ist die Rede von dem von uns auch
bei Rabehl verzeichneten Versuch einer "Transformation der antiautoritären Beilegung
in eine proletarische Bewegung". Hartung bringt dazu ein Zitat in dem es sogar heißt
"der studentische Kampf" (Hervorhebung von mir - C.B,) sei "in einen
proletarischen Kampf transformierbar" 16). Wo er auf die durch den Versuch
ausgelöste Diskussion eingeht, betrachtet er sie als "die Wende der Bewegung".
Sie kommt in eine Stromschnelle. Kaum ein halbes Jahr später ist der Spaltpilz an der
Arbeit. Die Einheit der neuen Opposition gehört der Vergangenheit an. Aber, so immer noch
Hartung, die Studenten schätzen das für Nichts "weil es das Proletariat zu
organisieren galt".
Hartung nennt das "eine Selbsttäuschung", eine Qualifikation wogegen wir nichts
einzuwenden haben. Er beschreibt diesen Gang der Ereignisse auch so, daß die Studenten
anfangen "für andere, für den Arbeiter Politik zu entwerfen". Wieder anderswo
stellt er fest, daß "die radikale Bewegung sich in eine militante Minderheit
verwandelt", Aber es gelingt ihm nach unserer Überzeugung nicht, die Ursachen von
alledem aufzudecken; er faßt die von ihm geschilderte Entwicklung nicht als eins
natürliche Entwicklung. Wenn er sich schon kritisch über die Nachahmung der
leninistischen Organisationsform äußert, dann nur, weil "Lenin die
Organisationsprinzipien von Was tun?' unter der historischen Bedingung der Allmacht
der russischen Geheimpolizei entwickelt" habe, also innerhalb einer Situation die es
in Deutschland nicht gibt. Bei Hartung findet man nicht die geringste Spur jener anderen,
doch schon längst bekannten Anschauung, daß die jakobinische Auffassung der Revolution,
nach welcher das Proletariat nicht salbst das erforderliche "revolutionäre
Bewußtsein" erwerben kann 17), für Lenin entscheidend gewesen ist. Dadurch, daß
Hartung im jakobinischen Milieu gebildet worden und mit der jakabinischen Ideologie
politisch aufgewachsen ist, legt er den Finger nicht auf die eigentliche Wunde, nicht auf
Lenins Jakobinismus. Es leuchtet ihm nicht ein, daß gerade dieser Jakobinismus der
verhängnisvolle Stern ist, unter dem die neue Opposition auf die Welt gekommen ist,
Tatsächlich: die Anschauung, den Arbeitern sollte man von außen her Bewußtsein
beibringen, sie könnten - um die Worte Hartungs zu wiederholen - nicht von sich aus
"auf den revolutionären Weg stoßen", haben wir schon als ein Merkmal auch der
frühen antiautoritären Bewegung zu unterscheiden gelernt. Wenn Hartung darauf etwas
näher eingeht bemerkt er, das Proletariat profitiere "mittelbar von der Ausbeutung
der Dritten Welt". Das ist eine Ansicht die völlig übergeht, auf welche Weise im
Kapitalismus ökonomische Kategorien wie Lohn, Preis und Profit überhaupt zustande
kommen, und die faktisch nichts anderes ist, als die auch von Lenin verkündete Theorie
der sogenannten "Arbeiteraristokratie".
Der Zusammenhang dieser Theorie mit dem Jakobinertum der Bolschewiki kann ebensowenig
verneint werden, wie der Zusammenhang der jakobinischen Auffassungen mit dem der neuen
Opposition anhaftenden Voluntarismus. Hierüber äußert sich Hartung besonders
unbestimmt. Bald scheint er dessen Vorhandensein zuzugeben, bald scheint er sich von einer
Kritik daran zu distanzieren, zum Beispiel wenn er erwähnt, daß einer wie Jürgen
Habermas den Studenten ihre voluntaristische Ideologie vorgeworfen hat. Jedoch, das
Jakobinertum der Studentenbewegung, ihr von Haus aus politischer Charakter und ihr
Voluntarismus, das heißt die Bedeutung, welche sie dem "revolutionären Willen"
zuschreibt, bilden ein unzertrennbares Ganzes, das sich aus ihrer Distanz von der
Arbeiterklasse ergibt. Von dieser Distanz bringt Hartung treffende Beispiele ohne daran
die nach unserer Meinung unentrinnbare Schlußfolgerungen zu verbinden. Er betrachtet die
Klassengrenze, vor welcher die Studenten stehengeblieben sind als eine Kluft, die sie nach
seiner Meinung hätten überbrücken sollen, nicht als ein Hindernis, woran sie zerschellt
sind.
Nicht weil als antiautoritär oder nicht antiautoritär genug war ist die neue Opposition
zugrunde gegangen, sondern weil sie glaubte, sie müsse die Arbeiter bevormunden. Aber die
Arbeiter brauchen keine Bevormundung und sie lassen sich nicht länger bevormunden. Die
antiautoritäre Bewegung hat es erfahren. Zu ihrem Verhängnis.
1.Mager und Spinnarke, "Was wollen die
Studenten?", Frankfurt am Main/ Hamburg 1967, S. 152/153.
2.Kursbuch 48: Klaus Hartung, "Versuch, die Krise
der antiautoritären Bewegung wieder zur Sprache zu bringen", weiterhin abgekürzt
als Hartung.
3.Bequemlichkeitshalber sprechen wir von der
antiautoritären Beilegung. Wir sind uns bewußt, daß diese sich in mancherlei Formen
darbietet und, daß es sich nicht um eine Bewegung handelt, die sich als solche
konstatiert hat. Es gibt in der Gesellschaft eins Menge Erscheinungen die alle
antiautoritäre Tendenzen aufweisen. Bald gehen sie in einander über, bald treten sie
scharf getrennt auf und wie das mit den meisten sozialen Erscheinungen oder Bewegungen der
Fall, ist, ihr Anfang kann des öfteren nur schwer festgestellt werden. Zu der
antiautoritären Bewegung könnte man auch den autonomen Arbeitskampf rechnen, weil er die
bürgerlichen Machtverhältnisse in Frage stellt. Wir tun das hier nachdrücklich nicht.
Wo in diesem Aufsatz von der antiautoritären Bewegung die Rede ist, verstehen wir
darunter jene Bewegung, die sich zwar gegen die existierende Ordnung richtet, dabei aber
nicht über die Grenzen der bürgerlichen Gesellschaft hinwegschreitet, sogar dann nicht
wenn sie selbst vom Gegenteil überzeugt ist. Weil es sich bei alledem im Allgemeinen um
Bewegungen oder Kundgebungen junger Intellektuelle handelt, steht im Mittulpunkt unserer
Betrachtungen das, was man gewöhnlich die Studentenbewegung nennt.
4.Paul Mattick, "Kritik an Herbert Marcuse",
Frankfurt am Main 1969, S. 60.
5.Bernd Rabehl, "Von der antiautoritären
Bewegung zur sozialistischen Opposition" in: Uwe Bergmann, Rudi Dutschke, Wolfgang
Lefèvre und Bernd Rabehl, "Rebellion der Studenten oder die neue Opposition",
Reinbek 1968. Dort S. 174. Weiterhin abgekürzt als Rebellion der Studenten.
6.Rudi Dutschke, "Die Widersprüche des
Spätkapitalismus, die antiautoritären Studenten und ihr Verhältnis zur Dritten
Welt" in: Rebellion der Studenten, S. 40
7.Karl Marx, "Enthüllungen über den
Kommunisten-Prozeß zu Köln", MEW, Band 8, S. 41
8.Dutschke, Rebellion der Studenten, S. 41
9.Dutschke, Rebellion der Studenten, S. 40 und 41.
10.vgl. Karl Marx, "Kritische Randglossen zu dem
Artikel 'Der König von Preußen und die Sozialreform' von einem Preußen", MEW, Bd.
1, S. 406
11.Nicht von ungefähr liest man in der Einführung
zum Büchlein von Bergmann, Dutschke usw.: "In diesem Buch soll versucht werden, eine
mögliche Strategie für eine außerparlamentarische Oppositionsbewegung
aufzuzeigen",
12.So buchstäblich in einem Flugblatt das am 26.
November 1966 in der Berliner Universität verlesen wurde. Man sehe: Rebllion der
Studenten, S. 22/23
13.Bernd Rabehl, Rebellion der Studenten, S. 176
14.Man sehe z, B. den Bericht "Die
Septemberstreiks 1969", herausgegeben vom Institut für Marxistische Studien und
Forschungen, Frankfurt am Main 1919, worin auf S. 59 den Gang der Ereignissse bei den
Stahlbetrieben "Union" und "Phoenix" geschildert wird. In einem
Spiegel-Interview gab damals der inzwischen verstorbene IG Metall-Führer, Otto Branner,
zu, daß er von den Septemberstreiks völlig überrascht wurde»
15.Wenn wir in diesam Zusammenhang vom
"Bolschewismus" reden, dann meinen wir nicht irgendeine besondere politische
Position, wie jene der DKP, der KP-ML oder sonstige entweder trotzkistischen oder
maoistiachen Organisation, von welchen die antiautoritäre Bewegung sich immer, wenn auch
nicht immer scharf genug, distanziert hat, sondern den Bolschewismus im allgemeinen. Wir
beziehen uns auf eine Position, die wesentlich als bolschewistisch definiert werden kann.
16.Hartung, S. 34.
17.In "Was tun?" behauptete Lenin, ein
"sozialistisches Bewußtsein" könne den Arbeitern "nur von außen her
beigebracht werden"; aus derselben Zeit wie jener Broschüre stammt der Aufsatz
"Die dringendsten Aufgaben unserar Bewegung". Darin hieß es: "Ohne
politische Partei..., ist das Proletariat nicht imstande, sich zum bewußten Klassenkampf
emporzuschwingen" (vgl. Lenin, "Ausgewählte Werke", Wien/Berlin 1932, Band
2, S, 52 und S. 14). In seinem Aufsatz "Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte
zurück" (geschrieben 1904) nannte Lenin sich selbst nachdrücklich einen Jakobiner
und er charakterisierte dort seine Gegner als Girondisten (vgl. Lenin, "Ausgewählte
Werke", Bd. 2 a.0. S. 436).
. |