Pascal Beucker

Vorwärts und vergessen?


Am 2. Juni jährt sich zum dreißigsten Mal das Ereignis, das eine "jener Phasen des Aufbruchs" auslöste, die, wie Jürgen Habermas irgendwann mal treffend bemerkt hat, "in wenigen Augenblicken, noch bevor sie Gestalt annehmen, zerfallen, um auf Jahre hinaus die Phantasie zu beschäftigen". Am 2. Juni 1967 erschoß der Polizeiobermeister Karl-Heinz Kurras den 26jährigen Studenten Benno Ohnesorg. Danach entstand, was gemeinhin unter den Labels "Studenten-", "68er-Bewegung" oder kurz als "APO" firmiert: Die (west-) deutschen Studierenden kamen in Aufruhr - das politische Klima an den Hochschulen kippte beinahe über Nacht nach links. Nach über hundert Jahren, in denen deutsche Studierende die Avantgarde der Reaktion und des Antisemitismus verkörpert hatten, wurde nun die studentische Linke majoritär - eine Linke, die über den traditionellen sozialdemokratischen und parteikommunistischen Horizont hinausging. Es entstand für eine kurze Zeit eine Linke, die anders dachte als ihre (Nazi-)Väter und Mütter und anders leben wollte; eine Linke, die sich als antiautoritär, hedonistisch und sozialistisch verstand.

Von der damaligen produktiven Unruhe ist nicht viel übriggeblieben. Das, was man heute noch gemeinhin als Linke bezeichnet, befindet sich seit längerem in einer Existenzkrise. Die einstigen Protagonisten der Revolte haben zu ihrem überwiegenden Teil einen wohlsituierten Platz in der Gesellschaft eingenommen. Und diejenigen, die schon damals nichts vom Ausbruch aus bürgerlichen Lebensverhältnissen gehalten haben, und für die als links gat und gilt, genauso spießig wie der Rest zu sein, aber Ernst Busch statt Patrick Lindner zu hören, nehmen die gut angekommenen Ex-Revoluzzer als Kronzeugen für den vermeintlich falschen Weg.

Der inzwischen verstorbene christdemokratische Publizist Ludolf Herrmann schrieb Anfang der 80er Jahre: "Hitler haben wir, wenn auch vielleicht noch nicht endgültig, bewältigt. Nicht bewältigt aber haben wir die Bewältigung Hitlers, wie sie zur Studentenrebellion von 1968 und zu den fundamentalen Umwertungen der Folgezeit geführt hat ... Die Wende, die wir benötigen, besteht nicht darin, daß wir ein weiteres Mal 1933 oder 1945 verdauen, sondern daß wir den nachträglichen Ungehorsam gegen Hitler überwinden. Wir haben uns geschichtlich von uns selbst entfremdet und müssen nun versuchen, diese Entfremdung aufzuheben."

Heute heiratet eine 27jährige "aufrechte KOmmunistin" an Marxens Geburtstag im weißen Rüschenkleid und erzählt, die Familie sei "eine unersetzliche Quelle von Glück und Lebensqualität". Monogamie gilt als Ausdruck von "Frauenbefreiung", Wohngemeinschaften sind "out", und "Autonome" vberkünden in Aufrufen zu ihren "revolutionären" 1. Mai-Demonstrationen neben allerlei pseudo-linksradikalem Schnickschnack, daß "Alkohol und andere Drogen" dort nichts zu suchen hätten - Hans-Jürgen Krahl würde sich im Grabe wälzen. Auch Gründe tragen inzwischen im Bundestag Schlips und Kragen, vor allem die in den Jahren `68 gerade erst Geborenen (die Vertreter des Bundes der Heimatvertriebenen Ost haben sich ohnehin auch schon zu SED-Zeiten kulturell nicht besonders von Dregger & Co. unterschieden). Den finalen Todesstoß für den Versuch eines kulturellen Bruchs mit der tumbdeutschen Spießeridylle setzten in den Jahren 1989ff. die heimgeholten Produkte realsozialistischer Erziehung.

Und wie sieht`s mit dem "Hauptwiderspruch" aus? Obwohl der Klassenkampf von oben mit aller Entschlossenheit geführt wird, ist der Widerstand gegen Staat und Kapital so klein und brav wie nie. Während die Straßenkämpfer von eisnt ohnehin ihren Frieden mit Staat und Kapital gemacht haben, ist das Häuflein "Aufrechter", die noch nicht von "Zivilgesellschaft" sprechen, wenn es um kapitalistische Herrschaft geht, heute weniger denn je in der Lage, den Frieden des Kapitals zu stören. Dafür stehen wieder kollektiv Sorgen um Volk und Vaterland auf der Tagesordnung, was heute heißt: die Rettung des "Standortes Deutschland". Prima Klima.

"Vergeßt 68"? Im Gegenteil: Bei allem auch produzierten Unsinn und wichtigtuerischem Gehabe sollte ohne Nostalgie, ohne Verklärung nichts vergessen werden von dieser "letzte(n) Bewegung, die noch nichts vom Ozonloch wußte" (Cohn-Bendit/Mohr): Weder die umherschwiefenden Haschrebellen noch die Ohrfeige Beate Klarsfelds; wder die "Schlacht am Tegeler Weg", noch die Lektüretips von damals: Agnoli, Block, Marcuse, Lukács. Und auch Dutschke, Krahl und Meinhof sollten nicht vergessen werden. Nichts vergessen, auch wenn man die Aktivisten von eisnt heute in der Regel vergessen kann. Seit wann diskreditieren sich Ideen nur deswegen, weil ihren Protagonisten der lange Atem fehlt? Gerade bei Verhältnissen, die versteinerter denn je scheinen, und einer überwiegend unfähigen und unerträglichen "Linken" ist der Gedanke keineswegs überflüssig, daß es sogar in diesem Land der Richter und Henker mal den Versuch eines emanzipatorischen Aufbruchs gab - so unzulänglich er war. Wenn ein solcher Gedanke auch nur den einen oder die andere vor der Resignation bewahren mag, ist das doch immerhin etwas.

Anmerkung: Pascal Beucker ist Redakteur der UNI-Konkret. Dieser Artikel erschien in: UNI-KONKRET, Sommersemester 1997, S. 5.