Georg Fülberth

Schlußstrich


Mit großer Freude las ich einmal irgendwo die Überschrift "Vergeßt 1968!" Der nachfolgende Artikel enttäuschte insofern, als darin nicht vergessen, sondern num x-ten Mal mit der Studentenbewegung abgerechnet wurde. Jetzt ist auch das erledigt, so daß das Thema seitdem endgültig abgehakt werden kann.

Daran sollten wir uns fortan wirklich halten. Über 1968 ist alles Richtige gesagt, und wer dem etwas Neues hinzufügen wollte, könnte nur noch wenig Erhellendes beisteuern, nach dem Schema: "Gestern Revolutionär - heute Computer-Verkäufer".

Ähnlich sollte auch mit der Geschichte der kommunistischen Bewegung 1917-1991 verfahren werden.

Schlußstrich? Mit zwei Ausnahmen:

Erstens: Als Gegenstände der historischen Wissenschaften bleiben die beiden Themen natürlich bestehen. Sie sollen insofern nicht schlechter behandelt werden als der Gallische Krieg.

Zweitens: Wer die Arbeiterbewegung und das, was an der Studentenbewegung erträglich war, verleumdet, muß auch weiterhin seine Antwort erhalten.

Das ist Arbeit genug. Sie kann aber kein Anlaß sein, sich aktuell in sei es nostalgischer, sei es schmähender Absicht an abgelebten Gegenständen hochzuziehen, weil man zur Gegenwart nichts zu sagen hat.

Wir lesen doch immer wieder, seit 1989 sei in Deutschland und in der Welt vieles anders geworden. Also sollten wir uns jetzt mit diesen Neuigkeiten kämpferisch befassen, statt immer wieder hinter jene Zeit-Barriere zurückzufallen.

Wer`s dennoch gern historisch hat, könnte sich ja fragen, weshalb manches Projekt, das seit dem Untergang der Alten Sozialistischen Welt begonnen wurde, so viel kurzlebiger war als diese. Ich nenne drei Themen für selbstkritische Besinnungsaufsätze:

1. Die 1989 gegründete "Radikale Linke" zerstritt sich anläßlich der Bundestagswahl 1990. Zu Beginn des Golfkrieges 1991 gab sie sich den Rest.

2. Für Vernünftige auch im Westen ist die PDS bei Bundestags- und Europawahlen eine schöne Gelegenheit, ihr die Stimme zu geben. Sie kommt aber (von wenigen lokalen Ausnahmen abgesehen= über den Osten nicht hinaus. Wie erklären dies diejenigen, welche uns ab 1990 mit einer Neuen Sozialistischen Partei gewinkt haben?

3. Und auf die Selbstkritik der Gorbatschowisten warte ich immer noch.

Aus der Zeit vor 1989 sind einige Organisations- und Publikationshülsen übriggeblieben, die es wert sind, daß sie auch im nächsten Jahrtausend noch benutzt werden: die Tageszeitung "junge Welt", monatlich KONKRET und für mich übrigens nach wie vor die DKP (Die Ansicht, welche ich einmal drucken ließ: es sei besser, sie löse sich auf, war falsch.) Sie werden aber nur etwas taugen, wenn sie sich nicht länger überwiegend durch 1917, 1945 und 1968 legitimieren, sondern durch das, was sie zur Entwicklung seit 1989/90, zur Gegenwart und Zukunft zu sagen und zu tun haben.

Dies sind die Gründe, weshalb jedem, der seinen Verstand beisammen hat, zur Apologie oder Beschimpfung der Studentenbewegung nichts mehr einfallen kann, darf und wird.

Anmerkungen: Georg Fülbert ist Professor an der Philipps-Universität in Marburg. Dieser Text erschien erstmalig in: UNI-KONKRET, Sommersemester 1997, S. 4.