Karl-Heinz Schubert

Zur Geschichte der westberliner Basisgruppen

aus: Aufbruch zum Proletariat

Die Basisgruppen als Betriebsgruppen

Zunächst verstellten aber die Ereignisse im August 1968 in der CSSR eine Debatte über die zukünftige Perspektive der Basisgruppen und ihrer möglichen Vernetzung. Mit dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes schien ein Sozialismusmodell gewaltsam beseitigt, für das sich linkssozialdemokratische und trotzkistische Kräfte innerhalb der Linken besonders begeistert hatten. Die im Zuge der französischen Mairevolte aufgeflackerten Differenzen zur SEW/DKP verschärften sich, da diese als "Bruderparteien" den Einmarsch unterstützten. Erstmalig traten organisierte maoistische Kräfte auf, die aus der marxistisch-leninistischen Sicht der chinesischen KP dieses Ereignis als "sozialimperialistischen" Akt verurteilten.

Vermittelt über die CSSR-Frage zeichneten sich nun die Konturen/1/ der zukünftigen ideologischen und politischen Fraktionen der im Zerfallen begriffenen westberliner APO ab. Einem Zerfall, der auch im westberliner SDS bereits weit vorangeschritten war./2/ In den Basisgruppen wurden diese Differenzen zwar ebenfalls ausgetragen, aber die "Praxis" in Stadtteil und Betrieb ließ für ellenlange Debatten, wie sie im Uni-Spektrum nun an der Tagesordnung waren, kaum Raum. Es entstand die Situation, wo die sogenannten "relevanten Genossen" mit Hilfe ihrer "materialistischen Ableitungen" versuchten, von außen in die Basisgruppen hineinzuwirken, um sich so eine "Hausmacht" für die notwendig werdende Strategiedebatte zu schaffen. Einen anschaulichen Beleg für diese Tendenz schuf Christian Semler mit seinem Redebeitrag auf der 23.o.DK des SDS: "Ich werde Euch jetzt mal sagen, wie das im Moment bei uns aussieht. Faktisch ist es so, daß die einzelnen Gruppierungen - von den Kindergärten über den Aktionsrat zur Befreiung der Frau, über die ad hoc-Gruppen an der Universität, über die Basisgruppen, über die Justizkampagne, über die Elemente, die noch von der KU (Kritische Universität) vorhanden sind, bis zu den Genossen, die Lehrlinge und Schüler agitieren - daß dieses System eben kein System bildet, sondern sich in einem fortwährenden Auflösungsprozeß befindet." Und er folgerte daraus, "...daß wir in Berlin vor der entscheidenden Frage stehen, ob es uns gelingen wird, diese verschiedenen Gruppierungen, die sich im Grund nicht mehr in einer Organisation ansiedeln...diese einzelnen Gruppierungen wieder in einer Zentrale zusammenzufassen."/3/

Ab Herbst 1968 - als erste die BG Wedding - begannen die Basisgruppen Betriebszeitungen herauszugeben./4/ Ziel dieser Zeitungen war es, durch Enthüllungen, die sich auf betriebliche Konflikte bezogen, betriebinterne Konflikte zu "aktivieren", um so die "Voraussetzungen für Klassenbewußtsein und -organisation" zu schaffen. Gleichzeitig verordnete man sich aber eine "vorläufige Abstinenz von Aktionen" - wie z.B. Mietkampagnen - , um sich stattdessen mit solchen theoretischen Fragen zu beschäftigen, die unmittelbar an die Entwicklung einer Betriebsstrategie geknüpft waren. Hierbei bildete der Begriff der "Arbeiterkontrolle" gleichsam eine Zentralkategorie für die zukünftige Strategie, die sich von einer reformistischen und/oder revisionistischen Betriebspolitik absetzen sollte. Hinter diesem Begriff stand die auf Rosa Luxemburg zurückgehende Auffassung, daß sich erst in der spontanen Aktion das proletarische Klassenbewußtsein herausbildet. Ausdruck solch einer Höherentwicklung des Arbeiterbewußtseins wären dann die selbstorganisierten betrieblichen Vertretungsorgane der Arbeiter - die Räte, deren Aufgabe es wäre, auf Betriebsebene die direkte politische und ökonomische Kontrolle auszuüben. Indem dadurch zunehmend Arbeiter über die Produktion zu herrschen begännen, würde eine Phase der Doppelherrschaft entstehen. In dieser Phase würden die Staatsmacht und die Fabrikräte gleichgewichtig nebeneinanderstehen, bis im Akt der sozialistischen Revolution die Staatsmacht zerschlagen und auf die Räte übergehen würde./5/

Auf dieser Linie rekonstruierten sich die Basisgruppen und konnten in kurzer Zeit tatsächlich eine Reihe betrieblicher Verankerungen herstellen. Bis Anfang 1969 hatte die BG Wedding vier Betriebsgruppen aufgebaut, die im Herbst neugegründete BG Tempelhof verfügte ebenfalls über vier, die BG Zehlendorf, Spandau und Tegel hatten Ende 1968 jeweils eine und die Anfang 1969 gegründete BG Tegel zwei Betriebsgruppen. Um sich von den Betriebsgruppen der SEW abzugrenzen, die lediglich als DGB-larvierte Informanten der "Wahrheit" in betrieblichen Konflikten in Erscheinung traten, nannten sie sich "Betriebsbasisgruppen". Parallel zu dieser betrieblichen Verankerung richtete man eine wöchentliche VV der Basisgruppen ein, wo Erfahrungsberichte gegeben und strategische Diskussionen geführt wurden. Den Erfolg betrieblicher Verankerung sollte man im Nachhinein nicht überschätzen, denn er trat schon dadurch ein, daß es seit Ende der 50er Jahre keine offene, klassenkämpferische Opposition in den westberliner Betrieben mehr gegeben hatte. Dies lag zwar auch an der SEW - aber nicht ursächlich. In den 50er und 60er Jahren wurde jede oppositionelle betriebliche Regung quasi dem Landesverrat gleichgestellt und brutal verfolgt./6/

Diese neuen konzeptionellen Grundlagen der Basisgruppenpolitik waren nicht aus den Erfahrungen des gerade vergangenen Sommers abgeleitet, sondern schon zuvor aus dem SDS heraus in der Projektgruppe Räte/Shop Steward entwickelt worden./7/ Nun griff man darauf Ende 1968 zurück. Nicht nur daß diese Auffassung plausibel erschien, sie koppelte auch die Studenten von fruchtlos erscheinenden Auseinandersetzungen an der Uni ab und wies ihnen die Perspektive der direkten Arbeit im Zentrum der Gesellschaft - im Proletariat - zu. Im Herbst 1968 veröffentlichte dazu Eike Hemmer, ein studentischer Aktivist der BG Wedding, im FU-Spiegel einen zentralen Artikel./8/ Ausgangspunkt seiner Überlegungen war die nicht zu übersehende Tatsache der drohenden Atomisierung des Protestpotentials im Sommer 68. Dies gesetzt, ging er sofort über zu erklären, daß die Arbeiterklasse unter den gegenwärtigen kapitalistischen Bedingungen grundsätzlich aus sich heraus kein politisches Klassenbewußtsein entwickeln könne. Vielmehr würde ihr derzeitiges Lagebewußtsein durch die organisatorische Aufspaltung in Gewerkschaft und Partei verstärkt festgeschrieben. Hier hätte die Politik der revolutionären Studenten einzusetzen. Sie sollten "Primärerfahrungen am Arbeitsplatz" verallgemeinern und diese "in Richtung sozialistisches Bewußtsein" politisieren. Die Organisationsform der Betriebsbasisgruppen vermittelt über den strategischen Begriff "Arbeiterkontrolle" barg für E. Hemmer die Chance in sich, die Trennung von Partei und Gewerkschaft - von politischem und ökonomischem Kampf - direkt aufzuheben und "organisatorisch und agitatorisch" den "Kampf gegen den Staatsapparat mit der Betriebsarbeit" zu verbinden. Da diese Perspektive - Abbruch des Studiums oder zumindest Ausrichtung des Studiums an den selbstentdeckten Erfordernissen der proletarischen Revolution - subjektiv als Klassenverrat/9/ - zumindest aber als Verzicht auf eine bürgerliche Berufskarriere verstanden wurde, schlug dies an der Uni nicht in eine kollektive Strategie um, sondern rief stattdessen dort eine diffuse Diskussion über eine revolutionäre Berufsperspektive in den "Überbauberufen" hervor. Hieran sollten nun auch die Studienangebote der bürgerlichen Universität ausgerichtet sein. Es wurde die Ära der sogenannten Theorie/Praxis-Seminare eingeleitet, wo man von der Uni aus in den Stadtteilen Projekte (Kinderläden-Schülerläden-Randgruppenarbeit-Knastarbeit-Betriebsarbeit) ins Leben rief, in die man nun den ganz persönlichen Beitrag zum Klassenkampf hineininterpretierten konnte und dennoch zu seiner Examens- und/oder Diplomarbeit kam. So wurde das WS 68/69 an den westberliner Hochschulen zu einer riesen Aktions- und Diskutierveranstaltung/10/, die weiterhin von sogenannten zentralen Kampagnen überdeckt wurde. In diesen Kampagnen begannen sich die Fraktionen der APO verstärkter ideologisch zu bekämpfen und der Beteiligungserfolg an den jeweiligen Kampagnen wurde zum Gradmesser der Richtigkeit der eigenen Linie.


Anmerkungen:

/1/ In der BG Friedenau gab es zum Beispiel eine offene Auseinandersetzung mit den Mitgliedern des SEW-Kreisvorstandes Schöneberg wegen des Einmarsches der Warschauer Pakt-Truppen in die CSSR. In der "Wahrheit" vom 12.9.68 machte der Vorsitzende der SEW, Danelius, deutlich, wo die Grenze zwischen der SEW und der APO in dieser Frage verlief: "Wenn einige führende Vertreter der Studentenbewegung von uns als Preis für eine `punktuelle Aktionseinheit` die Distanzierung von militärischen Maßnahmen der sozialistischen Länder erwarten, so antworten wir darauf: Wir sind nicht bereit diesen Preis zu zahlen." Die August/September-Ausgabe der Zeitschrift "was tun" (a.a.O.) machte ihrerseits die Grenzziehung zur SEW deutlich, indem sie dem auf dem Titelbild abgebildeten Lenin folgende Parole in den "Mund" legte: "Organisiert die Revolution gegen alle, die die Prinzipien des Sozialismus tagtäglich mit Füßen treten! Stürzt die großen und kleinen Breschnews, Ulbrichts, Kadars..."

/2/ siehe dazu: Rechenschaftsbericht des Bundesvorstandes des SDS an die 23. o. Delegiertenkonferenz, in: neue kritik Nr.50, Ffm Oktober 1968, insbesondere S.83ff

/3/ zitiert nach: WOLFF, Frank, WINDAUS, Eberhard, Studentenbewegung 1967-1969, Protokolle und Materialien, Ffm 1977, S.211; es darf nebenbei erinnert werden, daß es nur ein gutes Jahr brauchte, bis Chr. Semler seine "Zentrale" hatte, die KPD-AO.

/4/ siehe dazu: TITELSEITE der 1. Betriebszeitung der westberliner Basisgruppen für AEG-TELEFUNKEN, ­Hrg.: Basisgruppe Wedding, Oktober 1968, Quelle: Taifun-Verlagsarchiv, FLUGBLATT DER BASISGRUPPE WEDDING, Thema: Betriebskinder-gärten ­ Hrg.: Basisgruppe Wedding, vermutlich Winter 1968/69, Quelle: Privatbesitz, FLUGBLATT DER BASISGRUPPE WEDDING, Thema: OSRAM ­Hrg.:Basisgruppe Wedding, vermutlich Winter 1968/69, Quelle: Privatbesitz

/5/ siehe dazu: BERICHT DER BASISGRUPPE WEDDING, ­ Zirkular für die westberliner Basisgruppen, vermutlich Herbst 1968, Quelle: Privatbesitz

/6/ siehe dazu: Senator für Inneres von Berlin: Denkschrift - Östliche Untergrundarbeit gegen Westberlin, 2.Aufl., Nov. 1960, bes.: S.50, Auszug aus einem polizeilichen Verhörprotokoll wg. "Einschmuggelns" von 3 Ausgaben der "Wahrheit" in die Firma Orenstein & Koppel (Spandau) in einer Aktentasche.

/7/ Im Frühjahr hatte die Projektgruppe Räte eine Übersetzung von Artikeln aus der englischen Shop Steward Bewegung in Westberlin mithilfe des Oberbaumverlages im Umlauf gebracht. Im Vorwort merkten sie zur Frage der Entwicklung einer Strategie für eine revolutionäre Arbeiterpolitik an: "In diesem Prozeß kommt der Außerparlamentarischen Opposition lediglich eine aufklärerische Hilfsfunktion zu, da der Übergang von der Fremdbestimmung zur Selbstbestimmung der Arbeiter den bloßen Ersatz einer Führungsclique durch eine andere, diesmal studentische, von vornherein ausschließt."

/8/ HEMMER, Eike: Freiräume für Gegenmacht, ­ FU-Spiegel Nr.67, Hrg.: AStA der FU Berlin, Westberlin 1968

/9/ vgl. dazu, Kommune 2: Die Revolutionierung des Bürgerlichen Individuums, Westberlin 1969. Hierbei handelt es sich um die Selbstdarstellung einer Gruppe aus überwiegend studentischem Milieu, zu der auch Eike Hemmer gehörte. In langatmigen Protokollen über Selbstanalyseversuche und Haushaltsorganisation wollen die Autoren auf die Frage "Wie können antiautoritäre Individuen aus dem Bürgertum ihre bürgerliche Vergangenheit überwinden?" (S.304) den Weg zur Findung der "vorläufigen Antwort" darstellen. Und die Antwort lautete schlicht: "Zugleich müssen die theoretisch fortgeschrittenen Genossen gezwungen werden, den Hauptteil ihrer Arbeitskraft auf die Schulung zu verwenden, um ihr theoretisches Wissen zu kollektivieren." (S.303)

/10/ siehe dazu: ANLAGE 1 + 2 zum Bericht des Sen.v.Berlin: Zur Situation an den Berliner Hochschulen, V. Wahlperiode, Drucks.d. Abgeordnetenh. von Berlin Nr.1300, 16.10.1970