Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Nach dem zweiten Durchgang der französischen Parlamentswahl


Enthaltung, wohin das Auge blickt
Das neue Macron-Lager im Parlament: ein Haufen von Glücksrittern, Karrieristen und Spinnern?

5-6/2017

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Gleich mehrere Rekorde wurden im Zuge der französischen Parlamentswahl, die am vorigen Sonntag (den 18. Juni d.J.) zu Ende ging, aufgestellt. Zunächst das der geringsten Stimmbeteiligung seit Urzeiten: Schon in der ersten Runde waren 51,3 Prozent unter den Stimmberechtigten, die sich bis zum 31. Dezember vergangenen Jahres in die Wählerlisten eingetragen hatten, den Wahllokalen ferngeblieben. Das war die höchste Stimmenthaltung, die seit 1848 gemessen wurde. Im zweiten Durchgang gingen gar 57,4 Prozent nicht wählen. Und unter den Teilnehmerinnen und Teilnehmern gaben noch einmal 9,9 Prozent oder zwei Millionen Menschen einen ungültigen Stimmzettel ab.

Die Wahlgewinner waren in erster Linie die Wahlbewegung von Präsident Emmanuel Macron – La République en marche oder LRM, manchmal auch REM abgekürzt. Und an zweiter Stelle die mit ihr verbündete Mitte-Rechts-Kleinpartei MoDem (Mouvement démocrate); die erheblich stärkere Macron-Wahlbewegung hatte ihr eine Reihe von Wahlkreisen „abgetreten“, in denen LRM / REM zur Unterstützung der MoDem-Kandidaturen aufrief. Es sollen gut 80 Wahlkreise gewesen sein, in denen das MoDem auf diese Weise durch die Macron-Wahlbewegung „Huckepack genommen“ wurden. (Vgl. https://francais.rt.com/)

Insgesamt wurden diese beiden verbündeten Parteien also von nur 8,9 Millionen Menschen gewählt. Und dies in einem Land mit insgesamt knapp 67 Millionen Einwohner/inne/n (zum 1. Januar 2017, unter ihnen 14,826 Millionen Minderjährige – vgl. https://www.insee.fr - und rund vier Millionen ausländische Staatsangehörige aller Altersgruppen). Zum 01.01.2017 waren 45,68 Millionen Erwachsene mit französischer Staatsangehörigkeit in die Wählerinnen- und Wählerverzeichnisse eingetragen ( vgl. http://www.francesoir.fr), dies entspricht 88,6 Prozent der volljährigen Wohnbevölkerung mit französischer Staatsbürgerschaft. Letztere beträgt also rund 51,1 Millionen.

Dennoch nehmen diese beiden verbündeten Parteien künftig mit 350 von insgesamt 577 Mandaten eine deutliche Sitze-Mehrheit ein.

Ein Verbündeter fällt aus: nach nur wenigen Tagen klappt das MoDem in sich zusammen

Davon entfallen 42 Mandate auf das MoDem. Diese Kleinpartei war unter ihrem aktuellen Namen – dessen Adjektiv démocrate (das nicht einfach „demokratisch“ im Sinne von Demokratiebefürwortung meint, dies hieße im Französischen démocratique) bezieht sich auf die Demokratische Partei in den USA, französisch Parti démocrate – im Jahr 2007 aus der Taufe gehoben worden.

Ihre Gründung geht auf den Ausgang der Präsidentschaftswahl im April/Mai 2007 zurück. Damals erlebte ihr späterer Parteichef François Bayrou im Wahlkampf einen vorübergehenden Höhenflug (vgl. ausführlich: François Bayrou, der Christdemokrat mit dem revolutionären Zungenschlag), welcher ihn beinahe in die Stichwahl befördert hätte, nachdem er in Wahlumfragen bei bis zu 24 Prozent der Stimmabsichten stand. Letztendlich landete er dann allerdings bei 18,6 Prozent und damit nur auf einem (guten) dritten Platz, hinter dem konservativen Wahlgewinner Nicolas Sarkozy und dessen rechtssozialdemokratischer Herausfordererin Ségolène Royal.

Zuvor leitete Bayrou das Parteienbündnis UDF (Union pour la démocratie française), das seit den 1970er Jahre die zweite größere bürgerliche Rechtspartei neben dem damaligen „neogaullistischen“ RPR unter Jacques Chirac bildet. Anders als der eher zentralistisch geführte RPR – die wichtigste Vorläuferpartei der heutigen konservativen Formation Les Républicains (LR) – stellte die UDF ein aus mehreren einzelnen Mitgliedsparteien bestehendes Konglomerat dar, eine Art Konföderation. Neben einem halben Dutzend angegliederten Mitgliedsparteien gab es zusätzlich noch die adhérents directs oder „Direktmitglieder“, die nur dem Dachverband beitraten. Innerhalb dieses lockeren Zusammenschlusses leitete François Bayrou die stärker christlich ausgerichtete Mitgliedspartei Force démocrate (ungefähr „Demokratische Kraft“, damals bereits unter Bezugnahme in ihrem Namen auf die nordamerikanische Demokratische Partei in den USA). Der Verfasser dieser Zeilen bezeichnete Bayrou, der in der Vergangenheit seine katholischen Glaubensüberzeugungen ziemlich stark in die Politik einbrachte, früher oft als „Christdemokraten“ (vgl. ebenda); wobei es in der französischen Politik keine wirkliche Entsprechung zur deutschen CDU oder zur italienischen Christdemokratie gibt. Dies resultiert aus der innenpolitischen Tradition des Laizismus (d.h. der institutionellen Trennung von Kirche & Staat, seit 1905), vor allem jedoch aus der früheren Hegemonie des Gaullismus über das bürgerlichen Lager. Bayrou machte jedoch, jedenfalls bis in die neunziger Jahre hinein, aus seiner stark christlich geprägten Motivation nie ein Hehl.

In den Jahren zwischen 1998 und 2007 verkleinerte sich das bisherige UDF-Spektrum jedoch. Erstens, weil die stärkste einzelne Mitgliedspartei der UDF – unter dem neuen Namen Démocratie Libérale (DL), vormals UDF-Parti Républicain (PR) – unter Alain Madelin und Jean-Pierre Raffarin im Jahr 1998 ausscherte und sich selbständig machte. Die weiter rechts angesiedelte Partei DL ging später in der UMP unter Jacques Chirac/Nicolas Sarkozy, und mittlerweile in der Partei LR (Les Républicains) auf.

Zum Zweiten scherte die UDF, die bis dahin in einer strukturellen Koalition mit dem damaligen RPR unter Jacques Chirac (er wurde 2002 zur UMP umgewandelt) verbunden war, zwischen 2002 und 2007 aus dieser konservativ-liberalen Allianz aus. Durch die Präsidentschaftskandidatur Bayrous, der dabei ein Profil „jenseits von etablierter Linker und etablierter Rechter“ herauskehrte und sich (2007) für eine Art „Großer Koalition der vernünftigen Reformkräfte rund um die bürgerliche Mitte“ stark machte, positionierte der Laden sich außerhalb des konservativen Blocks. François Bayrou versuchte, aus dem Mitte-Links-Spektrum ebenso Stimmen anzuziehen wie aus der bürgerlichen Rechten. Als politisches Vorbild gab er damals (2007) mitunter die, auch seinerzeit in Berlin regierende, GroKo in Deutschland an. Eine Gruppierung anonym bleibender hoher Staatsbeamter, Les Gracques genannt (unter Anlehnung an eine Bezeichnung aus dem Alten Rom), machte sich 2007 in einem Appell für ein Regierungsbündnis aus einer nach rechts gerückten Sozialdemokratie und der damaligen UDF stark. (Vgl. https://fr.wikipedia.org) Und im April/Mai 2012 gab François Bayrou an, in der Stichwahlrunde der damaligen Präsidentschaftswahl werde er für den rechten Sozialdemokraten François Hollande und damit gegen den Konservativen Nicolas Sarkozy stimmen. (Vgl. http://www.lexpress.fr und http://tempsreel.nouvelobs.com/ sowie http://elections.lefigaro.fr oder http://www.lemonde.fr/ ) Auf dem dezidiert rechten Flügel des politischen Spektrums war er dadurch als „Verräter“ gebrandmarkt. Hollande holte ihn, Bayrou, dennoch nicht in die Regierung.

2007 war es schlicht noch zu früh für die Orientierung, die François Bayrou bereits damals ausgab:

  • Überwindung der traditionellen Parteienblöcke rund um die Sozialdemokratie und das organisierte konservative Lager,

  • ein großkoalitionäres Bündnis „rund um die politische Mitte“,

  • und eine Ausrichtung auf wirtschaftsliberale „Reformen“, verknüpft mit „politischer Erneuerung“.

Diese Vorgaben ähneln jedoch sehr stark denen, die auch Emmanuel Macron im Wahkkampf 2016/17 setzte. (Hinzu kam bei François Bayrou vor zehn Jahren noch ein relativ starker Diskurs gegen die „Monopolmedien“, denen er vorwarf, mit den stärksten etablierten Parteien unter einer Decke zu stecken, und folglich für eine Entflechtung und Entkartellisierung im Mediensektor. Dieses Element findet sich bei Emmanuel Macron in der Form nicht wieder; kein Wunder, verdankt Macron doch den etablierten Medien eine Dauerpräsenz in vielen französischen Haushalten. Vor allem jedoch der inhalts- und intellektfreien Regenbogenpresse, in welcher seine werte Gattin Brigitte Macron Dauergast ist... Vgl. etwa: http://www.gala.fr oder http://www.journaldesfemmes.com )

Dafür war es 2007 wohl noch zu früh. Denn damals leisteten die etablierten Parteiapparate bei der Sozialdemokratie und bei den Konservativen noch stärkeren Widerstand gegen ihre geplante „Überwindung“, die mit der proklamierten „Aufhebung der Links-Rechts-Polarisierung“ verbunden war. Obwohl auch die rechtssozialdemokratische Präsidentschaftskandidatin Royal sich 2006/07 bereits weitgehend vom Parteiapparat des PS (Parti Socialiste) emanzipierte. Royal strebte unter anderem an, die Parteistrukturen (der PS hatte damals rund 250.000 Mitglieder, heute nicht einmal mehr ein Fünftel davon) durch eine schwammige Bewegung von „drei Millionen“ im Internet zu rekrutierender Mausklick-Anhänger/innen zu ersetzen. Doch der Parteiapparat widersetzte sich dabei noch, Royal verlor 2008 die innerparteiliche Vorsitzendenwahl (vgl. https://www.jungle.world/), und die Apparat-, aber auch zum Teil noch Basisstrukturen führten noch ein Eigenleben.

Das ist zehn Jahre später vorbei, die Sozialdemokratie ist nach fünfjähriger Regierungszeit unter François Hollande beinahe klinisch tot. (Und dürfte ihren langjährigen Parteisitz in der Pariser rue Solférino, dicht neben der französischen Nationalversammlung, in naher Zukunft verkaufen müssen; vgl. http://www.lci.fr/ ; manche Scherzkekse boten ihn bereits auf eigene Faust im Internet zum Verscherbeln an: http://www.lemonde.fr - Die Parteizentrale in Marseille steht bereits jetzt zum Verkauf, vgl. http://www.huffingtonpost.fr ) Auch die französischen Konservativen liegen mehr oder weniger am Boden, wenngleich nicht im selben Ausmaß wie die vormals regierende Sozialdemokratie. Ihnen bekommen die diversen Skandale und Affären u.a. um ihren ehemaligen Spitzenkandidaten François Fillon nicht sonderlich gut. Und im neu gewählten französischen Parlament hat sich nun eine Spalterfraktion aus den Reihen der Konservativen frisch konstituiert: die der „Konstruktiven“, die Emmanuel Macron explizit unterstützen wollen, während die Mehrheitskonservativen auf den Oppositionsbänken hocken werden. (Vgl. http://www.latribune.fr und http://www.lexpress.fr/ oder http://www.lefigaro.fr )

Dadurch wurde der Weg frei zur Umsetzung der großkoalitionär geprägten Ideen von innenpolitischer „Erneuerung“ und Umgruppierung, welche Bayrou bereits 2007 predigte. Damals noch, im Endeffekt, vergeblich.

Auf paradoxe Weise wird das MoDem davon nun doch nicht profitieren. Anfänglich sehe so aus, als könne die Kleinpartei – die nach François Bayrou Wahlniederlage 2007 (mit dem dritten Platz bei der Präsidentschaftswahl), und erst nach seiner Wiederholungsniederlage 2012 in sich zusammenschrumpfte – nun doch noch ihren Triumph feiern. Und sich darauf berufen, vor den Anderen „richtig gelegen“ zu haben.

Bayrou verzichtete Ende Februar 2017 auf eine erneute Präsidentschaftskandidatur, die riskant erschien (nachdem seine vorherigen Wahlergebnisse von 2007, damals mit 18,6 Prozent, und 2012 – mit 9,1 Prozent – eine Abwärtskurve verzeichneten). Dabei rief François Bayrou jedoch unmittelbar zur Unterstützung Emmanuel Macrons auf (vgl. http://www.francetvinfo.fr und https://www.challenges.fr ), dessen eigene Wahlkampagne zu dem Zeitpunkt deutliche Abnutzungserscheinungen verzeichnete, dadurch jedoch wieder Auftrieb bekam. Daraufhin hofierten Macron und seine Wahlbewegung die Leute von Bayrous Mouvement démocrate, das mittlerweile zur Schrumpelpartei geworden war. Achtzig MoDem-Bewerber/innen wurden deswegen auf den Listen von Macrons Wahlbewegung „Huckepack genommen“, wie oben erwähnt. 42 von ihnen wurden dadurch in die Nationalversammlung gewählt, wo die MoDem-Leute bislang immer nur an einer Hand abzuzählen waren. Und einige frühere MoDem-Kandidat/inn/en, die jetzt mit dem Label „Unterstützer/innen Emmanuel Macrons“ auftraten, wurden dadurch plötzlich nach oben katapultiert. Einige von ihnen erhielten bei früheren Kandidaturen noch zwei Prozent, und nun schlagartig vierzig Prozent der abgegebenen Stimmen; vgl. http://www.liberation.fr // Die politische Konjunktur fiel nun urplötzlich günstig für sie aus.

Doch dann erwies sich der frisch gebackene MoDem-Erfolg sehr schnell als Rohrkrepierer. Denn durch eine ziemlich gezielte Indiskretion an die Justizbehörden kam heraus, dass das MoDem in seiner Zeit als Schrumpfpartei auf, nennen wir es „kreative“, doch illegale Methoden der Parteienfinanzierung zurückgegriffen hatte: Bei der Europaparlamentsfraktion der (stark EU-befürwortend auftretenden) Kleinpartei angestellte „parlamentarische Mitarbeiter/innen“ arbeiteten in Wirklichkeit als Vollzeitkräfte in der Parteizentrale in Paris. Nehmen wir zum Beispiel des „parlamentarischen Assistenten“ Stéphane Thérou: Er war vollauf damit beschäftigt, die parteiinterne „Fortbildung“ von Mandatsträger/inne/n des MoDem zu organisieren, und hatte deswegen leider-leider für Arbeit in Strasbourg oder Brüssel keine Zeit.

Dies kommt Ihnen bekannt vor, liebe Leser/innen, wie schon-mal-gegessen, ähm: schon mal gehört? Ganz genau, ja: Dieselbe Methode hatte auch der französische Front National (FN) benutzt. Und weil die rechtsextreme Partei diese Masche ziemlich intensiv angewendet hatte, bekam Marine Le Pen seit einigen Monaten Ärger auch mit der französischen Justiz, infolge millionenschwerer Rückforderungszahlungen seitens der EU-Parlamentsverwaltung. (Vgl. zum letzten Stand der Ereignisse dabei: https://www.francebleu.fr und https://www.lesechos.fr) Nun, es kam, wie es kommen musste: Bei der rechtsextremen Partei spielte jemand Denunziant, oder eher Denunziantin - und eine Europarlamentarierin des FN teilte den ermittelnden Stellen mit, wie man selbst habe doch auch das MoDem Dreck am Stecken (was die Verwendung der Parlamentsgelder betrifft).

Die kurzzeitige MoDem-Ministerin unter Macron, Marielle de Sarnez – MMMM, mhmmmja, in der Regierung zuständig für europäische Angelegenheiten – erstattete deswegen Strafanzeige gegen die mutmaßliche Urheberin der Denunzierung. Es handelt sich um Sophie Montel, ihres Zeichens FN-Abgeordnete im Europäischen Parlament. (Vgl. http://www.lemonde.fr/ und http://www.leparisien.fr/ )

Allein, es nutzte nur nix: Bereits ab dem 22. März dieses Jahres kamen Ermittlungen auch gegen die Praktiken von MoDem-Europaparlamentsabgeordneten ins Rollen. Im Laufe des Mai 2017 beschleunigten sich die Ermittlungstätigkeiten.

Vor diesem Hintergrund trat am Dienstag, den 20. Juni die erst seit vier Wochen amtierende Verteidigungsministerin aus den Reihen des MoDem – Sylvie Goulard – überraschend zurück. (Vgl. http://www.huffingtonpost.fr und http://www.latribune.fr/) Ihr Name tauchte in den Ermittlungsakten auf; es war ihr Mitarbeiter, der oben erwähnte Stéphane Thérou, der in der Parteizentrale des MoDem die „Fortbildungs“tätigkeit leitete, statt in Strasbourg oder Brüssel zu arbeiten. Daraufhin traten am Mittwoch, den 21. Juni dann auch die kurzlebigen MoDem-Minister François Bayrou himself (Justizminister) und Madame MMMM, will sagen: Europaministerin Marielle de Sarnez von ihren Ämtern zurück. (Vgl. http://www.francetvinfo.fr und http://www.rtl.fr)

Vor allem François Bayrou war de facto politisch untragbar geworden, weil er mit dem Justizministerium betraut war - und damit den obersten Vorgesetzten derjenigen Ermittler/innen bildete, die gegen seine eigene Partei ermittelte, deren Vorsitz er innehat. Am 07. Juni d.J. hatte Bayrou überdies eigenhändig beim öffentlich-rechtliche Rundfunksender Radio France angerufen, um sich höchstpersönlich über die (in seinen Augen zu kritische) Berichterstattung betreffend die Finanzpraktiken seiner Partei zu beschweren. Der Sender hatte über die dazu laufenden Ermittlungen berichtet. (Vgl. http://www.lesinrocks.com oder http://www.francetvinfo.fr/ ) Bayrou redete sich darauf hinaus, er habe dabei nicht in seiner Eigenschaft als Justizminister gehandelt, sondern unter Absehung von seinen Regierungsfunktionen als einfacher „Bürger“; was viele sarkastische Reaktionen nach sich zog. (Vgl. http://www.lemonde.fr/ und http://lelab.europe1.fr )

Nichts konnte Bayrou daraufhin mehr halten; sein in einer Reihe von Jahren mühsam aufgebautes Image als „Erneuerer der „Politik“ und als „Saubermann“ war innerhalb kürzester Zeit ruiniert worden. Auch wenn, oder vielleicht gerade weil, er gleichzeitig als Justizminister mit der Ausarbeitung eines Gesetzentwurfs „zur Moralisierung des politischen Lebens“ (welcher Korruptionspraktiken und „Interessenkonflikte“ verhindern soll) befasst bzw. beauftragt war. (Vgl. https://www.lesechos.fr und http://www.liberation.fr sowie http://www.francetvinfo.fr ) Dieses Vorhaben drohte damit vollends unglaubwürdig zu werden. Soeben hatte sich ferner auch eine Mehrheit in Umfragen gegen eine Beibehaltung François Bayrous als Minister ausgeprochen. (Vgl. http://www.20minutes.fr/)

Infolge dieser „schwarzen Woche“ für das MoDem ist die Kleinpartei dadurch faktisch implodiert. (Vgl. http://www.lemonde.fr/ ) Zwar ist das MoDem auch in dem neuen Regierungskabinett, das am Abend des 21. Juni vorgestellt wurde, noch vertreten, konkret mit den Staatssekretärinnen Jacqueline Gourault und Geneviève Darrieussecq, deren Namen jedoch in der Öffentlichkeit bis dahin weitgehend unbekannt blieben. (Vgl. http://www.leparisien.fr/ und http://www.europe1.fr/ ) Nunmehr dürfte die Kleinpartei jedoch weitgehend politisch tot sein. Was allerdings vielleicht die Spielräume für Emmanuel Macron erweitert, was die Anwerbung neuer Verbündeter aus den bisherigen Reihen der Sozialdemokratie oder der Konservativen betrifft.

Das Kabinett war infolge der Rücktritte sowie infolge der Parlamentsneuwahl umgebildet worden. Kurioserweise enthält erstmals auch Staatssekretariate „ohne Geschäftsbereich“ (vgl. https://www.acteurspublics.com), deren Inhaber/innen also als „Springer“ bei brennenden Themen eingesetzt werden dürften. Gut ein Drittel der Kabinettsposten ist nach wie vor mit „Vertreter/inne/n der Zivilgesellschaft“ besetzt, wie etwa der Sportministerin Laura Fessel; die Karibikfranzösin wurde früher als französische Weltmeisterin im Fechten bekannt. In ihrer Mehrheit sind die „Zivilgesellschaftler“ jedoch zuvor als Führungskräfte oder Direktor/inn/en in Privat- und/oder Staatsunternehmen in Erscheinung getreten - und zählen jedenfalls zur gesellschaftlichen „Elite“, gingen nicht etwa aus NGOs und Bürgerinitiativen hervor. (Abgesehen vielleicht von der Behinderten-Staatssekretärin Sophie Cluzel, die früher mehrere Vereinigungen zur Förderung der Schulbildung behinderter Kinder leitete.)

Verdrängt worden aus der Regierung ist unterdessen Richard Ferrand, ein früherer Sozialdemokrat und einige Wochen lang Minister Macrons für die Beziehungen zwischen dem Zentralstaat und den Regionen sowie Bezirken. Ihm wurde wird vorgeworfen, sich als früherer Vorständler bei einer Zusatzkrankenkasse in die eigene Tasche gewirtschaftet zu haben. Kassenmittel (darunter wohl auch Zuflüsse aus öffentlichen Krankenhassen) wurden demnach indirekt dafür benutzt, seiner Lebensgefährtin den Ankauf einer Immobilie für fast 600.000 Euro zu ermöglichen: Die Immobilie wurde über einen Kredit vorfinanziert – den die Unterstützung der Krankenkasse erst ermöglicht hat -, dann durch Ferrands Lebensgefährtin erworben und an die Kasse vermietet. In fünfzehn Jahren wird die Dame ihren Kredit abbezahlt haben und Eigentümerin des stolzen Anwesens sein. Ein solches eigennütziges Insidergeschäft hätte Richard Ferrand legal niemals durchführen dürfen, doch er versteckte sich hinter einer von ihm eigens dafür gegründeten Immobiliengesellschaft. In Umfragen wünschten nach dem Bekanntwerden der Affäre 70 Prozent einen Rücktritt Ferrands (vgl. http://tempsreel.nouvelobs.com/), doch dieser sperrte sich mehrere Wochen hindurch erfolgreich dagegen. Die Lage drohte dadurch für Emmanuel Macron allmählich bedrohlich zu werden.

Nun wurde der Minister, kurz vor der Kabinettsumbildung vom 21. Juni, doch noch aus dem Regierungsamt weggelobt. Allerdings übernimmt er stattdessen den Fraktionsvorsitz von Emmanuel Macrons Wahlbewegung im Parlament // vgl. http://www.leparisien.fr //, und bleibt damit auf einer relativ exponierten Stelle. Sogar die Wähler/innen in Richard Ferrands bretonischem Wahlkreis hatten bei der Parlamentswahl am 11. und 18. Juni mehrheitlich für ihn gestimmt. // Vgl. http://www.ouest-france.fr // Jedenfalls jene Minderheit unter den Stimmberechtigten (unter 49 %), die an den Wahlen teilnahm... An diesem Samstag, den 24. Juni d.J. wurde Richard Ferrand in den Fraktionsvorsitz gewählt. (Vgl. http://france3-regions.francetvinfo.fr und http://actu.orange.fr/)

Die Macron-Parlamentsfraktion: ein Saustall..?

Es ist allerdings damit zu rechnen, dass die der Macron-Wahlbewegung angehörenden Parlamentarier vielleicht nur eine geringe Rolle spielen dürften. Macron selbst war im Vorfeld der Wahl mit dem Ausdruck zitiert worden, die neuen Mandatsträger drohten einen „Sauhaufen“ (foutoir) zu bilden, falls man ihnen nicht straffe Zügel anlege. (Vgl. http://elections2017.actu.orange.fr und http://www.francesoir.fr/) Das ist kein Wunder, besteht doch eine größere Zahl der für die liberalpopulistische Wahlbewegung Gewählten aus politischen Abenteurern, Glücksrittern, Strebern und zum Teil auch Halbverrückten. Es ergibt sich ein lustiges Sippen-, ähem: Sittengemälde aus der französischen Politik des Jahres 2017, wenn man einige Veröffentlichungen zum Innenleben des Macron’schen Liberalpopulismus aneinanderreiht.

In Toulouse kam eine Kandidatin von LRM / REM ins Gerede, weil sie als zuletzt hauptberufliche Astrologin (sowie ehemalige Immobilienmaklerin) ihre Einkünfte aus der Astrologie verschwiegen hatte. Deswegen wird nun wegen „Schwarzarbeit“ gegen Corinne Vignon ermittelt. (Doch doch, wirklich wahr, vgl. http://www.midilibre.fr und http://www.ladepeche.fr/ )

Sowohl in Neuilly-sur-Seine als auch in Villeurbane bei Lyon läuft ein Strafermittlungsverfahren wegen internationaler Steuerhinterziehung gegen LRM-Bewerber, Laurent Zameczkowski respektive Bruno Bonnell. Gegen den sauberen Herrn Zameczkowski wird ferner aufgrund einer Strafanzeige seiner (Ex-)Ehefrau wegen häuslicher Gewalt ermittelt; vgl. http://www.leparisien.fr/ . In Saint-Denis bei Paris geriet eine Kandidatin – Véronique Avril - ins Zwielicht, weil sie eine unhygienische Wohnung überteuert vermietet hatte. Angeblich wartete die werte Dame darauf, leider vergeblich, dass die Stadtverwaltung an ihrer Stelle die Wohnung renoviere. (Vgl. http://france3-regions.francetvinfo.fr sowie http://www.leparisien.fr) Vgl. nicht ganz zufällig erinnert diese Begebenheit um die Kandidatin aus Saint-Denis an einen ähnlichen Skandal, den es im Jahr 1994 bei der Hamburger „Statt-Partei“ gab, einem – politisch kurzlebigen - populistischen Sauhaufen (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Statt_Partei ), in dessen Reihen sich damals ebenfalls ein ähnlich skrupelloser Wohnungseigentümer fand.

In Lille hatte eine Bewerberin (Oumnia Berrada) erfundene Diplome angegeben und war daraufhin 2011 wegen Fälschung amtlicher Dokumente zu acht Monaten Haft auf Bewährung verurteilt worden – vgl. http://www.lepoint.fr/. Eine weitere Bewerberin der Macron-Wahlbewegung, Stéphanie Jannin, wird am 18. September d.J. wegen Korruption in ihrer Amtszeit als Vizebürgermeisterin in Montpellier vor Gericht antanzen müssen. (Vgl. http://www.huffingtonpost.fr/)

Und eine LRM-Kollegin in Lyon (Anissa Kheder) wurde bei Fernsehdebatten zum Gespött, weil sie selbst ihren eigenen Lebenslauf mühsam vom Blatt ablesen musste, das Parteiprogramm offensichtlich nicht kannte und auf inhaltliche Nachfragen hin stotterte oder auswich.

(Vgl. bspw. http://www.francesoir.fr/ ) Manche Bewerberinnen verwechselten auch munter Konjunktiv und Indikativ; oder drückten sich mittels Tautologien aus, indem sie sich etwa dafür aussprachen, Studierende sollten „mobil sein, ob nun in geographischer oder auch in räumlicher Hinsicht“. (Copyright by Emilie Guerel... Vgl. https://www.marianne.net/ )

Nicht alle diese Kandidat/inn/en waren erfolgreich, einige wurde in der Stichwahlrunde geschlagen – oft von konservativen Bewerber/inne/n, die ein „solideres“ Erscheinungsbild hatten, was auch den relativ Wiederaufstieg der konservativen Opposition zwischen den beiden Wahlgängen erklärt. Letztere kam im Endeffekt auf 130 Sitze. Bei der Macron-Wahlbewegung fielen etwa die oben erwähnten Laurent Zameczkowski, Oumia Berrada oder Véronique Avril am Schluss durch den Rost. Hingegen kamen die Bewerber/innen Anissa Khedher, Emilie Guerel und auch Corinne Vignon (ja, die Astrologin) durch und vertreten nun das Macron-Lager „auf würdige Weise“ in der künftigen Nationalversammlung. (Vgl. http://www.lopinion.fr)

Das trifft sich jedoch ganz gut, will Macron doch ohnehin das Parlament verkleinern und seine Vollmachten schmälern (vgl. Emmanuel Macron: Weniger Demokratie wagen). Und die nunmehr gewählte Anissa Kheder, deren Konzeptlosigkeit in den TV-Debatten für allgemeines Amüsement gesorgt hatte, reagierte der Feststellung: „Mein erstes Anliegen (ma priorité) liegt darin, für die Gesetzentwürfe der Regierung zu stimmen. Dafür werden wir fortgebildet werden.“ (Vgl. http://www.liberation.fr) Dies zum Thema Gewaltenteilung, und Kontrolle der Exekutive durch das Parlament... Ganz in diesem Sinne wurden die neuen Abgeordneten der Macron-Wahlbewegung von vornherein dazu aufgefordert, einen „Vertrag mit der Nation“ zu unterzeichnen, welcher sie auf Linie hält. Und dazu verpflichtet, für die „zentralen Vorhaben“ des Regierungslagers zu stimmen. (Vgl. http://www.liberation.fr) Auf diesem Wege soll verhindert werden, dass der neuen Regierung blüht, was der alten (unter François Hollande & Manuel Valls und ihrer Bande) widerfuhr: dass also eine mehr oder minder starke innerparteiliche Opposition gegen bestimmte (als „strategisch“ betrachtete) Regierungsvorhaben stimmt. Dies passierte der Hollande/Valls-Regierung bei dem, Gesetzesvorhaben zum Arbeitsrecht und seiner „Reform“ im Jahr 2016 mit den sozialdemokratischen frondeurs, als fraktionsinterner (moderater) Opposition.

Ein vorläufiges Fazit? Es bleibt im Rückblick positiv in Erinnerung zu halten, dass er bei der Wahl des Staatsoberhaupts vor anderthalb Monaten die neofaschistische Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen ausbremste. Letzterer war noch zu Jahresbeginn 2017 in vielen Kreisen ein Wahlsieg mehr oder minder ernsthaft zugetraut worden, und es gab Menschen, die in dem Zeitraum seit dreißig Jahren angehäufte Antifa-Archive in ein südeuropäisches Nachbarland umzogen, um kein Risiko einzugehen. Es kam anders, und es ist im Rückblick & und in der Gesamtschau positiv zu werten, dass die Kandidatin des Front National besiegt wurde. Nichtsdestotrotz ist Macron bestimmt nicht die Retterfigur und Lichtgestalt, als die er in Teilen der deutschen Presse dargestellt wird, unter anderem (bzw. vor allem) aufgrund seiner EU-freundlichen Positionen. Und aufgrund seines politischen Verhältnisses zu Angela Merkel; vgl. dazu // http://www.salzburg.com/ // und auch Macrons ausführliches Gespräch zum Thema EU-Politik in der Süddeutschen Zeitung vom Donnerstag, den 22. Juni 17 (Papierausgabe).

Ein Mann, von einer Mission erfüllt...“

Die Boulevard-Tageszeitung Le Parisien publizierte am Samstag, den 17. Juni 17 eine Reportage aus Orléans, jener Stadt, wo der damalige Wirtschaftsminister Macron am 8. Mai 2016 seine erste allgemeinpolitische Rede zu nicht-ökonomischen Themen hielt. Im Mittelpunkt stand dabei die historische Figur von Jeanne d’Arc, der „Jungfrau von Orléans“, um die sich historische Legenden ranken. (Die junge Frau soll Stimmen gehört haben, die ihr zuflüsterten, sich zum französischen König zu begeben; sie rückte dann lt. verbreiteter Darstellung an der Spitze eines Heeres aus, um im Hundertjährigen Krieg die Engländer zu bekämpfen, und nahm 1428 und 1429 an der mehrmonatigen Belagerung von Orléans teil.)

Seinen Artikel übertitelt der Parisien mit folgender Schlagzeile: „Wie Jeanne d’Arc fühlt Emmanuel Macron sich von einer Mission erfüllt.“ Es handelt sich um das Zitat eines Einwohners, der selbst für Macron stimmte.

Sicherlich trifft diese Beschreibung zu: Der 39jährige scheint sich zu fühlen, als sei er auf die Erde entsandt, um die göttliche Mission zu erfüllen, Frankreich endlich ordentlich durchzu„reformieren“ und die Profitrate des Kapitals zu steigern. Vorläufig punktet er damit in einem Teil der Gesellschaft, vor dem Hintergrund einer tiefen Legitimationskrise des politischen Systems, die nicht behoben ist. „Macron profitiert von einer Epidemie der Gläubigkeit“ (épidémie de croyance), konstatiert der prominente Psychiater Boris Cyrulnik in derselben Ausgabe des Parisien.

(Vgl. zu den beiden Artikeln, die nach der Papierausgabe der Zeitung zitiert wurden, auch die Links zu den Texten im Internet: http://www.leparisien.fr/ und http://www.leparisien.fr/elections )

Ob der Effekt allerdings anhält, wenn es konkret wird und etwa – was für die nächsten drei Monate angekündigt ist – dem Arbeitsrecht an den Kragen geht, dies bezweifelt nicht nur Cyrulnik.

Im Unterschied zu Jeanne d’Arc im Jahr 1431 droht Emmanuel Macron allerdings wohl nicht, im Falle eines Scheiterns seines „Mission“ auf dem Scheiterhaufen verbrannt zu werden. Seine Popularitätswerte zeigen allerdings bereits ein erstes Abbröckeln... (Vorläufig von 62 auf 59 Prozent; vgl.: http://actu.orange.fr )

Stand: 21.6.2017

Editorische Hinweise:

Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe. Eine stärker gekürzte Fassung dieses Artikels erschien in der Berliner Wochenzeitung ‚Jungle World’. Die vorliegende Textversion wurde vom Verf. nochmals sehr erheblich überarbeitet und, infolge der Regierungsumbildung vom Mittwoch, den 21. Juni 17, aktualisiert.