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trend onlinezeitung für die alltägliche wut
Nr. 9/1998



Aufatmen
Neue Chancen fuer eine neue Linke


In dreifacher Hinsicht bietet das Wahlergebnis vom 27.September Grund zur
Freude: die Kohl-Regierung ist abgewaehlt; aller Voraussicht nach gibt es
eine "rot"-gruene Regierung ("Rot"-Gruen hat eine satte Mehrheit von 21
Sitzen im Bundestag); die PDS ist wieder im Bundestag, und zwar in
Fraktionsstaerke. Das ist eine drastische, auf den ersten Blick
ueberraschende, Verschiebung im politischen Gefuege der BRD, die sich
besser erklaert, wenn man genauer hinschaut:

1. Das wichtigste Ergebnis ist die Abwahl der Kohl-Regierung.

Die extreme Laehmung der linken Kraefte, die diese Regierung bewirkt hat,
ist damit aufgebrochen. Es gibt Spielraum fuer neue politische und
gesellschaftliche Entwicklungen, freilich haengen sie davon ab, ob es
entschlossene politische Kraefte gibt, die in dieser Richtung wirken.
Nach bisher vorliegenden Wahlanalysen scheint es, dass die CDU vor allem
an zwei Fronten verloren hat: im Osten -- das war die lang faellige
Antwort auf die "bluehenden Landschaften"; und in ihren Hochburgen, vor
allem unter den Angestellten in den Grossstaedten, die zur SPD abgewandert
sind.

2. Das Wahlergebnis ist besser als die Stimmung im Land.

Es ist das Ergebnis einer "Schnauze-voll"-Stimmung, nicht des
gesellschaftlichen Aufbruchs fuer ein neues Reformprojekt. Hinter der
neuen Regierung steht keine neue gesellschaftliche Vision, sondern sehr
unterschiedliche Erwartungen einer zersplitterten Waehlerklientel. Zu den
Erwartungen der SPD-WaehlerInnen gehoert, dass die Politik "sozial
gerechter" und dass der soziale Rueckschritt aufgehalten wird. Wie dies
jedoch erreicht werden soll, ob ueber eine Umkehr der Umverteilung des
Reichtums oder ueber die Bedienung der Standortinteressen der Wirtschaft,
darueber gibt es unter ihnen keine gemeinsame Sichtweise. Lafontaine hat
in der Wahlnacht darauf hingewiesen, dass die Waehlerschaft der SPD sogar
hinsichtlich der Koalitionsfrage gespalten ist.

3. Die Krise der christdemokratischen Volkspartei wird offen werden.

Damit holt sie nur eine Entwicklung nach, die in anderen europaeischen
Laendern schon seit laengerem im Gang ist: die Aufloesung des Typus der
Volkspartei unter den Bedingungen einer anhaltenden kapitalistischen
Krise. Dass die CDU so hoch verloren hat, liegt in nicht geringem Umfang
an einer falschen Personalentscheidung Kohls: ein Kanzlerkandidat
Schaeuble waere dem diffusen Wunsch nach Veraenderung entgegengekommen.
Die Verbannung der Union in die Opposition wird die offene
Auseinandersetzung um die Richtung, die sie kuenftig einschlagen will,
foerdern.

4. Die Krise der Union oeffnet den Weg fuer einen Umbruch der gesamten   rechten Parteienlandschaft.

Die Parteien der extremen Rechten sind zwar nicht in den Bundestag und
auch nicht in den Landtag von Mecklenburg-Vorpommern eingezogen; ihre
diversen Gruppierungen addieren sich jedoch auf 4--5% Zweitstimmen bei der
Bundestagswahl, und in den Landtag von Schwerin sind nur deshalb nicht
eingezogen, weil sie getrennt kandidiert haben. Die FDP in der Opposition
bietet sich grundsaetzlich fuer eine nationalliberale Wende an; allerdings
wird auch das nicht ohne Konflikte abgehen.

5. Auf die zentrale Herausforderung: "Welche Antwort auf die neoliberale   Offensive?" gibt "Rot"-Gruen eine sehr unklare Antwort.

Man wird erwarten koennen, dass die neue Regierung eine Konsenspolitik im
Sinne einer Konzertierten Aktion mit Gewerkschaften und Unternehmern
betreibt; man wird nicht erwarten koennen, dass sie die Schere zwischen
arm und reich schliessen wird.
Unter den gegebenen Bedingungen werden SPD und Gruene das Wohlwollen der Wirtschaft zum Massstab ihres Handelns machen. Diese fordert vor allem
"Stabilitaet" und die Fortsetzung der "Standort-Deutschland-Politik".
Soziale Sicherheit wird dabei auf der Strecke bleiben. Das wird in beiden
Parteien zu Konflikten fuehren und die politisch-gesellschaftliche Krise
verschaerfen; die Regierung wird nicht in der Lage sein, sie zu beheben.

6. Die Kraefte fuer einen Ausweg aus der gesellschaftlichen Krise muessen   von einer linken Opposition kommen -- vor allem einer gesellschaftlichen   Opposition --, die sich den Handlungszwaengen der Regierung, vor allem  ihrer Wirtschaftshoerigkeit, nicht unterwirft.

Die wichtigste Rolle kommt dabei den Gewerkschaften zu. Sie haben es in
der Hand, ob ihnen die Loyalitaet zu "ihrer" Regierung wichtiger ist als
die Lebenssituation ihrer Mitglieder und der vielen Menschen, die
erwerbslos oder in ungeschuetzter Beschaeftigung sind. Sie haben es in der
Hand, ob die grosse Zahl jener, deren Lebensstandard und
Existenzsicherheit unter der Kohl-Regierung gesunken ist, neue Hoffnung
schoepfen kann, oder noch mehr frustriert wird.

7. Eine "rot"-gruene Regierung ist fuer die Linke eine Chance,

aber nur, wenn sie den entstandenen Spielraum nutzt, eine neue soziale
Protestbewegung aufzubauen. Dazu reicht es nicht, die SPD an ihre
Wahlversprechen zu erinnern -- so viele Versprechen hat sie im Wahlkampf
wohlweislich gar nicht erst gemacht. Wichtig ist, dass der Wahlsieg
uebersetzt wird in die Reorganisation und den Wiederaufbau einer
gesellschaftlichen Bewegung gegen die neoliberale Offensive und fuer eine
neue Umverteilung von oben nach unten.
Jetzt muessen die Forderungen der sozialen Bewegungen eingeklagt werden:
massive Arbeitszeitverkuerzung mit Personalausgleich und ohne
Lohneinbussen; die Ruecknahme der sozialen Kuerzungen; doppelte
Staatsbuergerschaft und Wahlrecht fuer Auslaender usw. Eine neue Linke
muss sich herausbilden, und die erste Scheidelinie wird das angekuendigte
Buendnis fuer Arbeit sein: hier erweist sich, wer auf die Zusammenarbeit
mit den Unternehmern und wer auf die Staerkung einer neuen
gesellschaftlichen Bewegung orientiert.

8. Die PDS kann fuer diesen Prozess ein Kristallisationspol sein

-- wenn sie ihre Oppositionsrolle nicht nur im Parlament verwirklicht.
Aber auch sie hat den Spagat zu ueberwinden zwischen einer moeglichen
Koalition mit der SPD im Landtag von Schwerin und der Opposition gegen die
SPD im 14.Deutschen Bundestag.

Dieser Artikel erscheint in SoZ Nr.20 vom 1.10.1998. Die "SoZ --
Sozialistische Zeitung" erscheint 14-taegig und wird herausgegeben von der
Vereinigung fuer Sozialistische Politik (VSP).
Kontakt: SoZ, Dasselstr.75--77, 50674 Koeln.
Fon: (0221) 9231196; Fax: (0221) 9231197.
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