Als der
Sangerhäuser Bürgermeister am 12. April
1945 mit weißer Fahne den amerikanischen
Truppen entgegen ging, entsprach er
nicht nur den angsterfüllten Erwartungen
in der Stadt, er handelte auch nach dem
Kalkül der Granden seiner Partei, die
damals Waffenstillstand mit den
Westmächten suchten, um ein Vorrücken
der Russen zu verhindern. Himmler hatte
dazu seit Januar über mehrere SS-Kanäle
sondieren lassen.
Die USA waren spät, erst nach
Stalingrad, in den Krieg eingetreten.
Sie haben aber abgesehen von den
erheblichen materiellen Aufwendungen
auch etwa 400.000 Soldaten für unsere
Befreiung geopfert. Wir sollten das
nicht vergessen.
„Dass bloß nicht die Russen kommen ...“
diesen Satz konnte man im Frühjahr 1945
häufig hören. Der Krieg hatte im Osten
besonders schlimm gewütet, entsprechend
würde die Strafe sein. Zudem wirkte Goebbels
Gräuelpropaganda. Aber nach einem kurzen
Zwischenspiel der Amerikaner kamen die
Russen am 3. Juli 1945 dann doch noch nach
Sangerhausen. Statt Stalinorgel und T-34
zeigten sich als erstes pferdebespannte
Panjewagen, die Küchengerät und Möbel
transportierten. Erst später sah man
Soldaten auf merkwürdig eckigen Lastwagen,
die mit riesigen weißen Nummern
gekennzeichnet waren. Am Abend – keine GPU,
dafür Soldaten, die offensichtlich
angeheitert Fahrradfahren übten.
Bei uns in der Kylischen Straße 29 hatte
sich im Saal ein Hauptmann einquartiert. Er
kam stets erst spät in der Nacht, heftig
polternd nach Hause, schlief den ganzen
Vormittag und ließ sich gegen 3 Uhr
nachmittags von meiner Mutter das Frühstück
machen. Wir Kinder schauten staunend zu.
Aber diese familiäre deutsch-russische
Begegnung dauerte nur wenige Tage, dann
hatten die Russen ihr Quartier in der Nähe
der katholischen Kirche bezogen und die
Straße mit einem Schlagbaum abgesperrt. Zwei
Welten waren entstanden.
Man wusste
zunächst nicht viel von den Russen, war aber
vorsichtig, wenn die Rede auf sie kam. Über
Vergewaltigungen in Berlin in den drei Tagen
„offener Stadt“ wurde gesprochen, aber das
Thema reihte sich ein in die vielen
traumatischen Erlebnisse der Kriegszeit.
Alle Blicke richteten sich nun nach vorn.
Eine neue Normalität trat ein.
Bewusst habe ich das Wort „Befreiung vom
Faschismus“ zum ersten mal 1951 bei der
Einweihung des Denkmals an der Marienkirche
wahrgenommen. Unsere Schule musste dabei
Spalier stehen, denn wir waren über Nacht
aus einer bislang namenlosen Grundschule die
„Ernst-Thälmann-Schule“ geworden, eine Geste
gegenüber Rosa Thälmann, die zur Einweihung
des Denkmals nach Sangerhausen gekommen war.
Kriegsende ja, aber Befreiung?
Auch in Westdeutschland, wo ich später
lebte, blieb diese Frage im öffentlichen
Bewusstsein lange Jahre unbeantwortet. Erst
Richard von Weizsäcker hatte 1985 den Mut zu
einem klärenden Wort. Weitgehend unbekannt,
gern übersehen, vielfach verschwiegen werden
jedoch bis heute die menschlichen Opfer, die
die Sowjetunion für unsere Befreiung
gebracht hat. Deutlich hat sich in diesen
Tagen der Historiker Götz Aly geäußert: „Es
war die Sowjetarmee, die die Deutschen von
den Nationalsozialisten befreit hat. Die
deutsche Politik kann sich nicht überwinden,
Russland zu danken. Das ist eine Schande.“
Unter 27
Millionen Kriegstoten hat die Sowjetunion 13
Millionen gefallene Soldaten zu beklagen.
Die deutschen Zahlen: 6,35 Millionen
Kriegstote, davon 5,18 Millionen gefallene
Soldaten. Hitler und seine Generäle führten
im Osten einen Weltanschauungskrieg.
Ostvölker galten als rassisch minderwertig
und sollten der Herrenrasse Platz machen.
Das Wüten der Einsatzgruppen im Rücken der
Front und die Blockade Leningrads sind
Symbole für die Verbrechen von Wehrmacht und
SS an der Zivilbevölkerung. Der
Kommissarbefehl und die Malträtierung der
sowjetischen Kriegsgefangenen sind Ausdruck
der gleichen rassistischen Politik. 3,3
Millionen sowjetische Kriegsgefangene kamen
in deutschem Gewahrsam um. Sie stellen neben
den 6 Millionen Holocaustopfern die
zweitgrößte Opfergruppe der
nationalsozialistischen Gewaltherrschaft
dar.
Für die in
Deutschland gefallenen Sowjetischen Soldaten
sowie die hier umgekommenen sowjetischen
Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter wurden
nach 1945 zahlreiche Denkmäler errichtet,
auch in unserer Nähe. Sie stehen heute
leider im Schatten der Erinnerungskultur und
werden wenig beachtet. Zwei Namen sollte
aber jeder kennen: Stukenbrock (NRW) mit
60.000 und Zeithain (Sachsen) mit 30.000
sowjetischen Gräbern.
Im
„2+4-Vertrag“ hat sich das wiedervereinte
Deutschland zum Schutz dieser Friedhöfe
verpflichtet. Aber sie haben keinen
angemessenen Platz in den jährlichen
Gedenkveranstaltungen zum Kriegsende
gefunden. Viele von ihnen, wie auch die
Anlage in Eisleben, sind zudem vom Verfall
bedroht. Der 75. Jahrestag des Kriegsendes
könnte Anlass sein, diese peinliche
Gedächtnislücke zu schließen.
An die
eigenen Opfer des Krieges zu erinnern ist
naheliegend, aber Ehrlichkeit und
Verantwortungsgefühl gegenüber der
Geschichte erweist sich erst durch die
Bereitschaft, auch die Opfer der anderen
Seite wahrzunehmen.
Quelle:
Initiative Erinnern und Gedenken
Sangerhausen,
Rundbrief
10 / Mai 2020,
Zusendung
von W. R. Gettél.
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