Auf dem internationalen Spotmarkt für Elektrizität kam es in den letzten Jahren oft vor, dass die Preise ins Minus stürzten. Jüngstes Beispiel: Am Ostermontag erhielten Schweizer Stromhändler zwei Rappen pro Kilowattstunde, falls sie an diesem Tag überschüssigen Spitzenstrom kauften (mehr dazu hier). Erstmals ist nun am Montag dieser Woche auch der – weniger volatile – Marktpreis für Erdöl in den USA ins Minus gerutscht. Das sind Beispiele für die Bocksprünge im Börsengeschäft. In beiden Fällen waren davon allerdings nur kleine Handelsmengen betroffen, die sich kaum auf die Strom- und Ölpreise der Endverbraucher niederschlagen.
Relevanter sind die mittelfristigen Preise für Erdöl und Strom. Diese bewegen sich zwar noch über der Marke null. Aber sie sinken seit Beginn der Corona-Epidemie ebenfalls stetig und steil nach unten. Die Eingriffe in den Markt (Drosselung der Fördermenge) vermochten den Preiszerfall bislang nicht zu stoppen.
Die Frage ist, wie sich dieser virusbedingte Nachfragerückgang und die damit verbundene Verbilligung von Erdöl längerfristig auf die Versorgung, die Umwelt und den Ausstoss des klimawirksamen Gases CO2 auswirkt. Einige neue Entwicklungen und Informationen stellen alte Erkenntnisse und Regeln in Frage. Der Reihe nach:
Die Marktregeln und der Streit um mehr oder weniger
Wenn das Angebot höher ist als die Nachfrage, sinkt der Marktpreis. Diese Regel eines unverfälschten Marktes lernen Ökonominnen im ersten Semester und leiten daraus das Wechselspiel von Überfluss und Mangel ab: Sinkt der Preis, wird mehr gekauft; es steigt also die Nachfrage. Steigt die Nachfrage über das Angebot hinaus, steigt der Preis wieder. Steigende Preise bieten einen Anreiz, das Angebot mittels Investitionen zu steigern. Das grössere Angebot wiederum senkt den Preis – und die Spirale von steigender Nachfrage und steigendem Angebot beginnt von Neuem.
Innerhalb dieses Wechselspiels streiten sich Ökonomen einzig um die Frage, ob das höhere Angebot die Nachfrage oder die höhere Nachfrage das Angebot in die Höhe treibt – und treiben soll. Spätestens an dieser Stelle mischen sich dann auch Natur- und Konsumschützerinnen, Wachstumsgläubige und Wachstumskritiker in die Debatte ein: Mehr ist besser, sagen Wachstumsgläubige, weniger ist mehr, entgegnen Wachstumskritikerinnen, und zu viel ist zu viel, ergänzen Sachwalter der ausgebeuteten Natur.
Die Klimapolitik und der Einfluss der Corona-Epidemie
Bei der fossilen Energie, insbesondere beim Erdöl, spielt neben der Ökonomie und Ökologie auch die Politik eine zentrale Rolle. Zur Vereinfachung blende ich an dieser Stelle die Steuerung der Fördermenge durch Erdölkartelle aus, ebenso Importbeschränkungen, wie sie etwa US-Präsident Donald Trump ankündete, und richte meinen Blick allein auf die Klimapolitik.
Punkto Ziel der Klimapolitik sind sich die meisten Akteure einig – die einen überzeugt, die andern zähneknirschend: Weniger ist mehr, und am besten wäre mittelfristig gar nichts mehr: «Netto null CO2 spätestens bis zum Jahr 2050», also möglichst kein Erdöl, kein Erdgas und keine Kohle mehr, lautet die Konsequenz des 2015 in Paris abgeschlossenen Klimaabkommens.
Doch der langfristige Trend widerspricht dem klimapolitischen Ziel. Seit dem Zweiten Weltkrieg stieg der globale Konsum von Erdöl, Erdgas und Strom stetig. 2019 erreichte die Ölförderung den vorläufigen Gipfel von rund 100 Millionen Fass pro Tag, einzig in den Rezessionsjahren 1974, 1982 und 2009 gab es kleine Knicks in der langfristigen Wachstumskurve. Der Grund: Die klimapolitisch notwendigen Massnahmen waren schwach und zeigten wenig Wirkung.
Das ändert sich dieses Jahr mit dem Ausbruch der Corona-Epidemie. Der kleine Virus hat in drei Monaten mehr bewirkt als die gesamte Klimapolitik in drei Jahrzehnten: Im laufenden Monat April sinkt der globale Erdölkonsum gegenüber der Vergleichsperiode des Vorjahres um 30 Prozent, schrieb die Internationale Energieagentur (IEA) am 15. April in ihrem neusten Öl-Report. Fürs ganze Jahr 2020 dürfte der Absturz weniger steil ausfallen, erwartet die IEA, aber dies nur, falls die Staaten ihre Massnahmen zur Eindämmung der Epidemie schnell lockern.
Die Folgen dieses virusbedingten Nachfrage-Rückgangs spiegelt der Markt: Die Erdölpreise sanken in den letzten drei Monaten – wie erwähnt mit kurzfristig starken Schwankungen – auf weniger als einen Drittel. Pro Fass mit 159 Liter Erdöl zahlten Händler in den letzten Tagen (je nach Marktplatz) im Schnitt noch 15 bis 20 Dollar.
Die Wirkung von billigem Erdöl : zwei Szenarien
Damit komme ich zurück zu den oben aufgeführten Marktregeln und zur zentralen Frage: Behindert oder fördert der tiefe Preis die Abkehr vom Erdöl? Statt mit einer Prognose auf die Nase zu fallen, stelle ich hier zwei Möglichkeiten (Szenarien) einander gegenüber.
1.
Tiefe Preise, steigende Nachfrage
Nach allgemeiner Regel werden die tiefen
Marktpreise den Konsum von Erdöl wieder
erhöhen. Reiche, die schon immer
überdurchschnittlich viel Erdöl
verbrannten, werden künftig zumindest
gleich viel Öl zu tieferen Kosten in CO2
umwandeln. Arme können sich damit
ebenfalls mehr Erdöl leisten. Diese –
klimapolitisch unerwünschte –
Entwicklung könnten die Regierungen zwar
korrigieren, nämlich mit hohen
Lenkungsabgaben auf Erdöl oder
CO2-Emissionen. Doch damit ist kaum zu
rechnen, denn dieses wirksame Mittel
scheiterte stets am politischen
Widerstand der Wirtschaftsverbände. Die
wahrscheinliche Folge dieses Szenarios:
Sobald die Epidemie-bedingten
Einschränkungen aufgehoben werden, wird
der Ölverbrauch wieder steigen, und die
Spirale von steigender Nachfrage und
steigendem Angebot dreht sich weiter.
Der Klimaschutz bleibt auf der Strecke.
2.
Tiefe Preise, Ruin der Ölförderung
Die tiefen Preise erhöhen zwar, wie oben
gezeigt, die Nachfrage nach Erdöl. Doch
gleichzeitig ruinieren tiefe Preise
viele Unternehmen, die sich der
Förderung von Erdöl widmen. Je länger
die Epidemie und damit die
wirtschaftlichen Einschränkungen dauern,
desto mehr Förderunternehmen gehen
pleite. Als Erstes trifft das die
Staaten und Firmen mit den höchsten
Förderkosten. Das sind die
Gesellschaften, die Öl aufwendig aus
Ölsand herausfiltern wie etwa in Kanada,
oder die mittels Fracking Schieferöl aus
den Gesteinen heraussprengen wie in den
USA. Oder Ölmultis, die im Meer nach
neuen Erdölquellen suchen, was ebenfalls
hohe Förderkosten nach sich zieht.
Der Ruin von vielen Öl-Förderfirmen kann das heutige (Über-) Angebot an Erdöl zwar mittelfristig verknappen und die tiefen Ölpreise gemäss Lehrbuch wieder steigen lassen. Das gäbe einen Anreiz, die Förderung wieder auszuweiten auch auf teurere Ölquellen. Doch damit würden die Ölpreise wieder steigen – und damit die Nachfrage tief halten. In einer von Viren geschwächten Weltwirtschaft ist dieses Szenario durchaus möglich. Die Folge davon: Die Spirale dreht sich rückwärts, die Ölquellen mit tiefen Förderkosten versiegen allmählich, und die Erschliessung von neuen teureren Quellen rentiert nicht, weil es an Nachfrage fehlt. Damit steigen die Chancen für eine Zukunft mit weniger fossilem Energieeinsatz und weniger starkem Klimawandel.
Das sind zwei theoretische Szenarien, also Möglichkeiten. Was wird? Nochmals: keine Prognose.