Aus der Geschichte lernen
Handbuch für Planung und Durchführung von direkten gewaltlosen Aktionen
von Charles Walker04/2020
trend
onlinezeitung"Dies Handbuch ist im wesentlichen aufgrund amerikanischer Erfahrungen bei gewaltlosen Aktionen entstanden. Ich habe jedoch versucht, auch aus anderen Erfahrungen zu lernen. Meine grundlegende Voraussetzung ist, daß es lernbare Lektionen gibt, die allgemein anzuwenden sind, selbst wenn sich die Umstände von Fall zu Fall ändern." Charles C. Walker, Cheyney, Pa, USA, 1961
red. trend / Leben in den Zeiten von Corona bedeutet, dass sich, ganz gleich ob es sich um ein privates oder öffentliches Anliegen handelt, Bürger*innen den staatlichen Notverordnungen zu unterwerfen haben. Von amtswegen als Verstoß definierte Handlungen - auch unter Einhaltung der gängigen Gesundsheitsregeln - werden massiv verfolgt. Bußgelder können bis zu einer Höhe von 25.000 Euro aufgerufen werden. (Quelle: https://www.n-tv.de/)
In Berlin schritt am 28.3.2020 die Polizei massiv ein: Rund 200 Personen hatten eine spontane Versammlung am "Kotti" aus Protest gegen das Verbot kollektiver politischer Meinungsäußerungen - mit 2m Abstand pro Person - abgehalten. Zuvor war in Friedrichshain der Boxhagener Platz geräumt worden, weil er nach Meinung der Polizei mit 150 Personen zu voll gewesen sei , so die "Märkische Allgemeine.
Am 30.3.2020 unterband die Bremer Polizei mit Verweis auf das Infektionsschutzgesetz (IfSG) eine die Gesundheitsregels einhaltende Demonstration wegen des Verstoßes gegen elementare Gesundheitsregeln in einem örtlichen Flüchtlingslager. Es drohen den Teilnehmer*innen nun "Bußgelder, Geldstrafen und sogar eine Freiheitsstrafe", meldete die "TAZ".
Am 3.4.2020 kreiste der Polizeihubschrauber über einer Berlin-Neuköllner Moschee. 300 Gläubige hatten sich zu einem öffentlichen Freitagsgebet versammelt. Dies wurde laut "RBB24" vorzeitig beendet. Übrigens der evangelische Friedhofsverband Berlin Mitte lässt bei einer Beisetzung nur max. 10 Personen aus dem engsten Kreis der Angehörigen teilnehmen. Trauerfeiern finden außerhalb der Kapelle im Freien statt. Toiletten werden geschlossen halten.
Wie Indymedia mitteilte gab es am 5.4.2020 in Berlin eine "spontane Autodemo". In dem Bericht heißt es: "Nach einer Stunde Fahrt am Sonntagnachmittag, den 5.4.20 durch Berlin auf der Skalitzer Straße zwischen Görlitzer Bahnhof und Mariannenstrasse mit einem massiven Polizeiaufgebot gestoppt. Der Abschnitt der Straße wurde für circa drei Stunden gesperrt. Alle Personalien und Fahrzeugpapiere der teilnehmenden Autos wurden aufgenommen. Als Anlass der polizeilichen Maßnahme wurden uns „Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus" mitgeteilt. An die unterschiedlichen Autos werden unterschiedliche Vorwürfe erhoben. Unter anderem: Verstoß gegen das Versammlungsgesetz und Ordnungswidrigkeit wegen Verstoß gegen das Infektionsschutzgesetz. Dem Versuch, den Autokorso nach Beginn vor Ort anzumelden wurde nicht stattgegeben. Nach drei Stunden Personalienfeststellung und nach Abnahme der Transparente wurde der Autokorso von der Polizei aufgelöst."
Bildquelle: Indymedia
Am 5.4.2020 ging die Hamburger Polizei bei schönstem Wetter am Elbufer in Övelgönne gegen Menschen vor, die nach Amtsmeinung "151 verbotene Gruppen" gebildet hatten. "Jede Person zahlt 150 Euro Bußgeld", meldete die "Welt".
In Frankfurt/Main griff die Polizei am 6.4.2020 unerbittlich gegen Aktivist*innen durch, die am Mainkai unter dem Applaus der Anwohner*innen eine aus rund 400 Menschen bestehende lockere Menschenkette gebildet hatten.
Selbst wenn unter dem Vorwand der Infektionschutzbedingungen das herrschende politische Personal beginnt, die Länderparlamente zu entmachten, ruft dies keinen Protest in der Bevölkerung hervor, obwohl bereits am 25.3.2020 der Bundestag mit seiner Selbstentmachtung vorangegangen war. Zur Zeit will die Berliner SPD unter dem Etikett "Pandemie-Gesetz" klammheimlich, die verfassungsmäßig regulierte Beschlussfähigkeit des Berliner Abgeordnetenhauses (AHB) aufheben. Ein entsprechendes Gutachten wurde beim Wissenschaftlichen Dienst des AHB in Auftrag gegeben. Vorschlag des Dienstes: Die Verfassung so zu verändern, dass die Größe des Parlaments zukünftig durch die Geschäftsordnung bestimmt werden kann.
Quelle: WPD 29.3.2020Seit Beginn der "Corona-Krise" stützt und unterstützt die reformistische LINKE im und durch das Parlament diesen fundamentalen Demokratieabbau. An ihrer Seite steht der DGB, der am 13.3.2020 den Klassenfrieden mit dem Kapital vereinbarte: "Konflikte und Interessen-Gegensätze bleiben bestehen, aber in besonderen Situationen werden sie hinten angestellt." Zwar wurde in den bürgerlichen Medien bisweilen die Beschneidung der persönlichen Grundrechte thematisiert, doch dass im Hintergrund dazu ein Umbau staatlicher Strukturen vollzogen wird, ist in der Massenpresse nur am Rande Thema, so z.B. wenn sich die Exekutive mithilfe des Infektionsschutzgesetzes vorbei am Parlament mit Verordnungsermächtigungen ausstattet.
Kurzum: Wir erleben den Konstitutionsprozess einer autoritären Demokratie mit dem Spezifikum, dass im Hinblick darauf die Legitimation des politischen Personals durch die Bevölkerung nicht in Frage gestellt wird.
Ganz im Gegenteil: Die abgewirtschafteten Volksparteien erringen derzeit in Wahlumfragen zusehends Zuwächse. Und Meinungsumfragen wie zum Beispiel in Brandenburg zeigen, dass weniger als 10 Prozent die repressiven, Grundrechte aushebelnden "Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie für übertrieben" halten(RBB24). In Bayern sind es sogar nur 3 Prozent (BR24)
Unter solchen Bedingungen benötigt die antikapitalistische Linke eine strategisch und taktische Neuausrichtung, weil der Kampf gegen den Abbau demokratischer Rechte heute unabweisbar zur aktuellen Hauptseite linker Politik geworden ist. Allerdings wird es nicht ausreichen, die Notwendigkeit solch einer Neuausrichtung, die gerade auch die Überwindung von historisch-vermittelten Trennlinien zwischen den linken Strömungen zur Voraussetzung hat (siehe dazu: Über die Klassenlinke und ihre gegenwärtigen Aufgaben und Zivilcourage in den Zeiten von Corona), nur medial zu propagieren. Vielmehr sollten strömungsübergreifend gemeinsame Aktionen ausgewählt werden, deren Besonderheit darin besteht, die gegenwärtigen Methoden der autoritären Transformation für Regelverletzungen ins taktische Visier zu nehmen. Für diese Aufgabe erscheint es geboten, eine vergleichbare Situation in der Geschichte des Spätkapitalismus aufzuspüren, um von ihr schöpferisch zu lernen.
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Als die "Colored People" in den USA der späten 50er Jahre begannen, den Kampf für ihre Bürger*innenrechte aufzunehmen, ähnelten die gesellschaftlichen Ausgangsbedingungen ihrer Kämpfe für die "Civil Rights" unseren in zwei Punkten:
1) Für die farbigen US-Amerikaner*innen galten die verfassungsmäßigen Grundrechte nicht bzw. nur eingeschränkt. Die Mehrheit der Ausgeschlossenen hatte sich mit ihrer Lage abgefunden. Die große Mehrheit der weißen US-Amerikaner*innen, deren Rechte nicht betroffen waren, empfanden diese Bedingungen als völlig okay.
2) Bedingt durch den massenhaften antikommunistischen Verfolgungswahn der McCarthy-Ära in den 50er Jahren befanden sich in den 1960er Jahren systemkritische Kräfte aller Hautfarben in der absoluten Minderheit, waren gesellschaftlich isoliert, geächtet und staatlichen Repressionen unterworfen, während faschistische und rassistische Kräfte ungehindert agieren konnten.
Durch die hießigen Notverordnungen erscheint ein Vergleich mit der US-amerikanischen Bürger*innenrechtsbewegung auf einer prinzipiellen Ebene als zweckmäßig, nämlich weil es heute darum geht, unter den Bedingungen einer mit Notstandsverordnungen regierenden "Gesundheitsdiktatur" politisch für die Wiederherstellung von Grundrechten bzw. gegen ihren weiteren Abbau zu kämpfen.
Linke Farbige entwickelten eine Reihe von Kampfformen, wodurch bestehendes (Un-)Recht mit der Maßgabe verletzt wurde, größeres Unrecht sichtbar werden zu lassen. Dies war ihr Weg, um aus der Defensive in die Offensive zu gelangen, deutlich sichtbar am 28.8.1963 durch den March on Washington for Jobs and Freedom von über 200.000 Menschen der verschiedensten Ethnien. Zuvor waren 1961 entsprechende Aktionsformen, sowohl deren Vorbereitung als auch Durchführung in einem "Handbuch" systematisiert zusammengefasst worden.
Download des vollständigen Handbuchs als PdF (3 Mb)
Der in den USA lebende bürgerliche Journalist Norbert Mühlen schilderte 1964 in seinem Buch "Die schwarzen Amerikaner" verschiedene gewaltlose provokatorische Aktionen, die damals häufig eingesetzt wurden. Abschließend wollen wir daraus einige anschauliche Beispiele vorstellen. Sie könnten heute unsere Phantasie anregen, selber außergewöhnliche Aktionsformen zu entwickeln, um die von oben eingeleitete autoritäre Transformation deutlich werden zu lassen und aufzuhalten.
"Die farbigen Demonstranten mißachteten einfach jene Vorschriften, die sie von der Benutzung eines Restaurants ausschlössen, und die sie selbst als Unrecht empfanden, indem sie es genau wie weiße Gäste, friedlich und konsumbereit, aufsuchten und sich in ihm niederließen. Bediente man sie nicht, so versperrten sie trotzdem, auf ihren Stühlen sitzen bleibend, weißen Gästen den Zugang und legten damit praktisch den Betrieb still, erreichten also die Wirkungen eines Boykotts. Bediente man sie, so hatten sie sich ihr Recht erkämpft. Und warf man sie mit Gewalt heraus oder verhaftete man sie, so hatten sie in ergreifender Weise das ihnen angetane Unrecht erneut demonstriert - und schädigten zugleich den ihnen dieses Unrecht antuenden Betrieb, da ja während solcher Krawalle sein Geschäft unterbrochen werden mußte. Jedenfalls also schwächten sie ihren Gegner und seine Ordnung.
So erfolgreich erwies sich diese gewaltlose Angriffsweise, daß sie bald in unzähligen anderen Bereichen angewandt wurde: Junge Neger traten an zum »Schwimm-Drinnen« (swim-in) in rassengetrennten öffentlichen Badeanlagen, »Wate-Drinnen« (wade-in) an rassengetrennten öffentlichen Stranden, »Parke-Drinnen« (park-in) auf den Parkplätzen rassengetrennter Einrichtungen, »Lies-Drinnen« (read-in) in rassengetrennten öffentlichen Büchereien, »Steh-Drinnen« (stand-in) am Billetschalter rassengetrennter Kinos, Sportplätze, Theater, sogar »Knie-Drinnen« (Kneel-in) in rassengetrennten Kirchen. . . .
Die Supermärkte und Selbstbedienungsläden, denen vorgeworfen wurde, sie benachteiligten Neger als Arbeitgeber, indem sie zu wenige beschäftigten oder sie nicht in bessere Stellungen aufrücken ließen, wurden mit einem »shop-in« (Einkauf-Drinnen) bedacht: Organisierte Gruppen besuchten sie als scheinbare Konsumenten, wechselten die Waren auf Gestellen aus und legten so den Betrieb lahm - eine Demonstration, die alle bona-fide-Kunden nicht minder als die Geschäfte selbst ärgerte und störte. Aber sobald die Studenten der SNICK(*), die Aktivisten des CORE(**) oder lokale Aktionsausschüsse als Vorhut zu solch einem Kampf auszogen, schloß sich ihnen die Mehrheit, oft sogar die Gesamtheit der betroffenen Farbigen an."
*) SNICK = Verballhornung von SNCC = Student Nonviolent Coordinating Committee
**) CORE = Congress of Racial EqualityZahlreiche weitere Vorschläge finden sich in Walkers Handbuch und warten auf eine schöpferische Anwendung im Hier und Jetzt.
Über eine Verbreitung des nahezu vergessenen Handbuchs würden wir uns freuen.